THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
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DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


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XXXII

Die Vermählung Ines Rodde's mit Professor Dr. Helmut Institoris war in der Anfangszeit des Krieges, als das Land noch in gutem, hoffnungsstarkem Zustande und ich selbst noch im Felde war, Frühjahr 1915, nach allem bürgerlichen advenant, mit ziviler und kirchlicher Trauung, einem Hochzeitsdiner im Hotel >Vier Jahreszeiten< und einer anschließenden Reise des jungen Paares nach Dresden und in die Sächsische Schweiz, vollzogen worden — als Abschluß einer langen gegenseitigen Prüfung, die offenbar zu dem Ergebnis geführt hatte, daß man wohl zueinander passe. Der Leser spürt die Ironie, die ich, übrigens wahrhaftig ohne Bosheit, in dieses >offenbar< lege; denn ein solches Ergebnis lag tatsächlich nicht vor, oder es hatte von allem Anfang an vorgelegen, und dem Verhältnis der beiden war keinerlei Entwicklung beschieden gewesen, seit Helmut sich der Senatorstochter zuerst genähert. Was beiderseits für die Verbindung sprach, tat es im Augenblick der Verlobung und Eheschließung nicht mehr und nicht minder als damals gleich, und Neues war nicht hinzugekommen: Aber der klassischen Mahnung: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet« war formell Genüge geschehen, und die Länge der Prüfung selbst schien schließlich eine positive Lösung zu fordern, — wozu noch

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ein gewisses Bedürfnis nach Zusammenschluß kam, das der Krieg zeitigte: So manches schwebende Verhältnis hatte er ja gleich anfangs zu beeilter Reife gebracht. Für Inessens Jawort aber, zu dem sie ja aus seelischen — oder muß ich sagen: materiellen Gründen, aus Vernunftgründen also, möge es heißen, — von jeher mehr oder weniger bereit gewesen war, fiel noch sehr stark der Umstand ins Gewicht, daß Clarissa gegen Ende vorigen Jahres München verlassen und ihr erstes Engagement in Celle an der Aller angetreten hatte, so daß also ihre Schwester mit einer Mutter, deren bohemehafte Neigungen, so zahm wie sie waren, sie mißbilligte, allein geblieben wäre.
Übrigens hatte die Senatorin ihre gerührte Freude an der bürgerlichen Einordnung ihres Kindes, auf die sie ja auch durch die Unterhaltung ihres Salons, den gesellschaftlichen Betrieb ihres Hauses mütterlich hingearbeitet hatte. Sie selbst war dabei auf ihre Kosten gekommen, hatte ihrer >süddeutsch< gelockerten Lebenslust, die einiges nachzuholen wünschte, damit gedient und ihrer absinkenden Schönheit von den Männern, die sie einlud, Knöterich, Kranich, Zink und Spengler, jungen Schauspiel-Eleven etc., den Hof machen lassen. Ja, ich gehe nicht zu weit, gehe vielmehr endlich nur gerade weit genug, wenn ich sage, daß sie auch mit Rudi Schwerdtfeger auf einem sehr scherzhaften, das Mutter-Sohn-Verhältnis neckisch travestierenden Fuß gestanden hatte, und daß besonders oft im Umgang mit ihm das zierlich girrende Lachen laut geworden war, das man an ihr kannte. Nach allem aber, was ich über die Bewegungen von Inessens Innenleben weiter oben angedeutet, ja ausgesprochen habe, kann ich es dem Leser überlassen, sich den komplizierten Unwillen, die Scham und Schande einzubilden, die sie angesichts dieser Tändeleien empfand. In meiner Gegenwart war es vorgekommen, daß sie während eines solchen Vorganges geröteten Angesichts den Salon ihrer Mutter verlassen und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, — an dessen Tür, wie sie vielleicht erhofft und erwartet, nach einer Viertelstunde Rudolf geklopft hatte, um nach dem Grunde ihres Verschwindens zu fragen, den er sicherlich kannte, der

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aber natürlich unaussprechlich war, — ihr zu sagen, wie sehr sie drüben fehle, und ihr in allen Tönen, auch in solchen brüderlicher Zärtlichkeit, die Rückkehr abzuschwatzen. Nicht eher hatte er geruht, als bis sie ihm versprochen, — zwar nicht mit ihm zusammen, das denn doch nicht, aber einige Zeit nach ihm wieder zur Gesellschaft zu stoßen.
Man verzeihe die nachträgliche Einschaltung dieses Vorkommnisses, das sich meiner Erinnerung eingeprägt hat, aber aus derjenigen der Senatorin Rodde, nun, da Ines' Verlobung und Eheschließung Tatsache geworden, auf eine gemütvolle Weise verbannt war. Nicht nur, daß sie die Hochzeit in aller Stattlichkeit ausgerichtet und es, in Ermangelung einer nennenswerten pekuniären Mitgift, an einer würdigen Aussteuer in Wäsche und Silber nicht hatte fehlen lassen; sie entäußerte sich auch manches Möbelstücks aus alter Zeit, gewisser geschnitzter Truhen, eines und des anderen vergoldeten Gitterstühlchens, um zur Ausstattung der herrschaftlichen Wohnung beizutragen, die das junge Paar in der Prinzregentenstraße, zwei Treppen hoch — die Vorderzimmer gingen auf den Englischen Garten — gemietet hatte. Ja, wie um sich selbst und anderen zu beweisen, daß ihre Gesellschaftsfreudigkeit, die lustigen Abende in ihrem Salon wirklich nur den Glücksaussichten, der Unterkunft ihrer Töchter gedient hatten, legte sie nun entschiedene Abdankungswünsche, die Neigung an den Tag, sich von der Welt zurückzuziehen, empfing nicht mehr und löste schon etwa ein Jahr nach Ines' Verehelichung ihren Hausstand in der Rambergstraße auf, um ihr Witwenleben auf einen ganz anderen Fuß zu stellen, auf einen ländlichen: Sie zog nach Pfeiffering, wo sie, fast ohne daß Adrian es merkte, in jenem an dem freien Platz gegenüber dem Schweigestill-Hof gelegenen niederen Gebäude, mit den Kastanien davor, Wohnung nahm, wo vormals der Kunstmaler mit den schwermütigen Landschaften aus dem Waldshuter Moor gehaust hatte.
Die Anziehungskraft dieses bescheiden-stilvollen Winkels auf jederlei distinguiertere Resignation oder verwundete Menschlichkeit

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war merkwürdig: Man mußte sie wohl aus dem Charakter der Hofbesitzer, besonders dem der rüstigen Wirtin, Else Schweigestills, und ihrer Gabe des >Verständnisses< erklären, die sie denn auch in gelegentlichem Gespräch mitAdrian, als sie ihm nämlich mitteilte, daß die Senatorin drüben einzuziehen gedenke, in wunderlicher Klarsicht bewährte. »Das ist ganz eimfach«, sagte sie (nach oberbayerischer Art assimilierte sie immer das n dem f, so daß ein m daraus wurde), »ganz eimfach und verständlich, Herr Leverkühn, ich hab es gleich gesehen. Sie hat g'nua von Stadt und Leut und Gesellschaft, von Herren und Damen, weil das Alter sie g'schamig macht. Das ist halt verschieden, es gibt welche, denen macht es nichts und arrangieren sich damit, und steht ihnen auch. Die werden bloß recht statiös und schelmisch auf die Läng, mit weiße OhrLocken, net wahr, und so weiter, und was sie früher so angestellt ham, das lassen s' recht pikant und recht zum Vermuten durchblicken durch ihre derzeitige Würde, — die Männer charmiert das oft mehr, als man denken sollt. Aber bei welchen, da geht es nicht und da steht es nicht, und wann die Backen magern und der Hals sich mergelt und es auch mit die Zahn nix mehr ist beim Lachen, da schämen und grämen sie sich vorm Spiegel und lassen sich nimmer sehn vor die Leut, und haben einen Trieb, wie die leidende Kreatur, zum Sichverstecken. Und wenn's der Hals und die Zähne nicht sind, dann sind's die Haar, die das Kreuz machen und die Schand. Und bei der Frau Senator, da sind's die Haar, i hab's gleich g'merkt. Sonst war s' noch ganz nett beinand, aber die Haar, wissen S', die gehn aus über der Stirn, daß der Ansatz verpatzt ist und sie mit der Brennscher bei aller Müh da vorn nichts Rechts mehr hinbringt, und da verzweifelt s', denn das ist ein großes Leid, glauben S' das nur! und verzichten tut s' auf die Welt und zieht zu die Schweigestills, das ist ganz eimfach.«
So die Mutter mit ihrem straff gezogenen, leicht versilberten Scheitel, der in der Mitte den Streifen weißer Kopfhaut sehen ließ. Adrian, wie gesagt, war wenig berührt von dem Einzug der neuen Mieterin dort drüben, die, als sie zuerst den

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Hof besucht hatte, sich von der Wirtin zu kurzem Einspruch hatte zu ihm führen lassen, dann aber, seine Arbeitsruhe schonend, für seine Zurückhaltung die ihre in Tausch gab und ihn nur einmal, gleich anfangs, zum Tee bei sich sah, — in diesen paar schlicht getünchten und niedrigen Stuben hinter den Kastanien zu ebener Erde, die mit den bürgerlich-eleganten Resten ihres Hausrats, Kandelabern, Steppfauteuils, dem >Goldenen Horn< in schwerem Rahmen, dem Flügel mit der Brokatdecke darüber, wunderlich genug angefüllt waren. Von da an, wenn man einander im Dorf oder auf Feldwegen begegnete, wechselte man nur einen freundlichen Gruß oder stand auch ein paar Minuten im Gespräch über die arge Lage des Landes, die wachsende Ernährungsnot in den Städten, unter der man hier weit weniger litt, so daß denn die Eingezogenheit der Senatorin eine praktische Rechtfertigung und scheinbar etwas wie sorgende Vorsätzlichkeit gewann, indem sie ihr erlaubte, ihre Töchter, ja auch ehemalige Freunde ihres Hauses, wie die Knöterichs, von Pfeiffering aus mit Lebensmitteln, Eiern, Butter, Würsten und Mehl, zu versehen. Aus diesen Packungen und Sendungen machte sie sich während der kärgsten Jahre geradezu einen Beruf. —
Die Knöterichs hatte Ines Rodde, nun reich, rangiert und gegen das Leben gepolstert, aus der kleinen Schar der ehemaligen Salongäste ihrer Mutter, wie etwa noch den Numismatiker Dr. Kranich, Schildknapp, Rudi Schwerdtfeger und mich selbst — aber nicht Zink und Spengler und auch das theatralische Künstlervölkchen, die Studienkollegen Clarissa's nicht — für ihre und ihres Mannes eigene Geselligkeit übernommen, die durch Universitätselemente, ältere und jüngere Dozenten der beiden Hochschulen und ihre Damen, ergänzt wurde. Mit Frau Knöterich, Natalia, spanisch-exotisch von Ansehen, stand sie sogar auf freundschaftlichem, ja vertraulichem Fuß, und dies, obgleich die recht anmutige Frau in dem ziemlich unbezweifelten Rufe stand, dem Morphium ergeben zu sein, — eine Nachrede, die meiner Beobachtung durch ihre reizvoll gesprächige Glanzäugigkeit zu Beginn einer Gesellschaft und durch

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ihr gelegentliches Verschwinden, um diese allmählich in Verfall geratene Munterkeit wieder aufzufrischen, bestätigt wurde. Daß die so ganz auf konservative Würde, patrizische Respektabilität gestellte Ines, die ihre Ehe ja nur eingegangen war, um sich diese Sehnsüchte erfüllen zu können, den Umgang mit Natalia demjenigen mit den gesetzten Gattinnen der Kollegen ihres Mannes, dem Typ der deutschen Professorenfrau, vorzog, sie privatim besuchte, sie allein bei sich sah, zeigte mir so recht den Zwiespalt in ihrer Natur, und wie zweifelhaft es im Grunde um die persönliche Rechtmäßigkeit und Zukömmlichkeit ihres bürgerlichen Heimwehs bestellt war.
Daß sie ihren Gatten, diesen klein angelegten und seinerseits in ästhetischen Kraft-Ambitionen sich gefallenden Schönheitsgelehrten, nicht liebte, war mir nie zweifelhaft. Es war eine gewollte Anstandsliebe, die sie ihm widmete, und soviel ist wahr, daß sie in vollendeter Distinktion, verfeinert noch durch jene gewisse zarte und schwierige Schalkheit des Ausdrucks, seine Stellung repräsentierte. Die Akkuratesse, mit der sie seinem Hauswesen vorstand, seine Empfänge vorbereitete, war schon mehr leidende Pedanterie zu nennen — und das unter ökonomischen Umständen, die die Aufrechterhaltung bürgerlicher Korrektheit von Jahr zu Jahr mehr erschwerten. Zu ihrer Hilfe bei der Betreuung der teuren und schönen Wohnung mit persischen Teppichen auf glänzenden Parketts hatte sie zwei wohlgezogene und comme il faut gekleidete Dienstmädchen, mit Häubchen und gestärkten Schürzenbändern, von denen die eine, das Zimmermädchen, Jungferndienste bei ihr versah. Nach dieser Sophie zu schellen, war ihre Leidenschaft. Sie tat es immerfort, um des Genusses herrschaftlicher Bedienung willen und um sich des Schutzes, der Pflege zu versichern, die sie sich durch ihre Heirat erkauft. Sophie war es auch, die ihr die Unzahl von Koffern und Köfferchen zu packen hatte, welche sie mit sich nahm, wenn sie mit Institoris aufs Land, nach Tegernsee oder Berchtesgaden, reiste, selbst wenn es nur auf einige Tage geschah. Diese Berge von Gepäck, mit denen sie sich bei jedem kleinsten Ausflug aus ihrem Sorgfaltsnest

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beschwerte, waren mir ebenfalls ein Symbol ihres Schutzbedürfnisses und ihrer Lebensängstlichkeit.
Von der vor jedem Stäubchen bewahrten Acht-ZimmerWohnung in der Prinzregentenstraße muß ich noch sprechen. Sie war, mit ihren beiden Salons, von denen der eine, traulicher eingerichtet, als tägliches Wohngemach diente, ihrem geräumigen Speisezimmer in geschnitzter Eiche, dem Herren- und Rauchzimmer in seiner Leder-Bequemlichkeit, dem ehelichen Schlafzimmer, über dessen Lagerstättenpaar aus gelb poliertem Birnbaumholz Andeutungen von Betthimmeln schwebten, und auf dessen Damen-Toilettentisch sich die blitzenden Flacons, die silbernen Utensilien genau der Größe nach reihten, — sie war, sage ich, das noch einige Jahre in die auflösende Zeit hineindauernde Musterbild eines Heims deutschen Kultur-Bürgertums, — nicht zuletzt vermöge der >guten Buchen, die man überall, im Wohn-, Empfangs- und Herrenzimmer, aufgestellt fand, und bei deren Erwerbung, teils aus repräsentativen Gründen, teils aus solchen seelischer Schonung, das Erregende und Zersetzende gemieden war: gediegen Bildungsmäßiges, die Historik Leopold von Ranke's, die Schriften des Gregorovius, kunsthistorische Werke, deutsche und französische Klassiker, kurz, Stabiles und Bewahrendes bildete den Grundstock. Mit den Jahren wurde die Wohnung noch schöner, oder doch voller und farbiger; denn Dr. Institoris war befreundet mit einem und dem anderen Münchener Künstler der besonneneren Glaspalast-Richtung (sein Kunstgeschmack war bei aller theoretischen Bejahung des Prangend-Gewalttätigen durchaus zahm), besonders mit einem gewissen Nottebohm, aus Hamburg gebürtig, verheiratet, hohlwangig, spitzbärtig und drollig, begabt für die lustige Imitation von Schauspielern, Tieren, Musikinstrumenten und Professoren, eine Stütze der nun freilich aussterbenden Karnevalsfeste, geschickt in der gesellschaftlichen Einfange-Technik des Portraitisten und als Künstler, ich darf es wohl sagen, der Mann einer inferioren Glattmalerei. Institoris, gewöhnt an den wissenschaftlichen Umgang mit dem Meisterhaften, unterschied entweder nicht

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zwischen diesem und einer gekonnten Mittelmäßigkeit, oder er glaubte seine Aufträge der guten Freundschaft schuldig zu sein und verlangte auch wohl für seine Wände nichts anderes als das Artig-Unanstößige und Vornehm-Beruhigende, worin er zweifellos bei seiner Frau, wenn nicht von Geschmacks wegen, so doch gesinnungsweise entschiedene Unterstützung fand. Darum ließen beide sich von Nottebohm für gutes Geld sehr ähnlich und nichtssagend malen: jeder für sich sowohl, wie auch zusammen, und später, als Kinder kamen, durfte der Spaßmacher ein lebensgroßes Familienbild der Institoris verfertigen, eine puppige Darstellung, auf deren ansehnlicher Fläche eine Menge hochgefirnißter Ölfarbe verschwendet war, und die in reichem Rahmen, versehen mit elektrischer Eigenbeleuchtung von oben und unten, das Empfangszimmer schmückte.
Als Kinder kamen, sagte ich. Denn es kamen Kinder, und mit welcher Adrettheit, welcher zähen, fast möchte man sagen: heldenmütigen Verleugnung von Umständen, die dem NobelBürgerlichen immer weniger Gunst gewährten, wurden sie gehegt und herangezogen — für eine Welt gleichsam, wie sie gewesen war, und nicht, wie sie werden wollte. Schon Ende 1915 beschenkte Ines ihren Gatten mit einem Töchterchen, Lukrezia genannt, gezeugt in gelb polierter Bettstatt unter gestutztem Himmel, nahe den symmetrisch aufgereihten Silbersachen auf der Glasplatte des Toilettentisches, und Ines erklärte sogleich, daß sie ein vollkommen erzogenes junges Mädchen, une jeune fille accomplie, wie sie sich in ihrem Karlsruher Französisch ausdrückte, aus ihr zu machen gedächte. Zwei Jahre später folgte ihr ein Zwillingspärchen, Mädchen wiederum, die in ebenso korrekter häuslicher Zeremonie, mit Schokolade, Portwein und Konfekt, aus silberner, mit Blumen bekränzter Schale auf den Namen Ännchen und Riekchen getauft wurden. Alle drei waren weiße, lieblich-verzärtelt lispelnde, um ihre Schleifenkleidchen besorgte, offenbar unter dem Druck des mütterlichen Tadellosigkeitswahnes stehende und auf traurige Art von sich eingenommene Schattenpflänzchen und Luxus-Geschöpfchen, die ihre frühen Tage in preziösen Körbchen mit

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Seidengardinen verbrachten und von einer Amme (denn Ines nährte sie nicht selbst; der Hausarzt hatte es ihr widerraten), einer noch ganz im bürgerlichen Pfingstochsenstil aufgeputzten Frau aus dem Volk, in niedrigen Schubwägelchen elegantester Konstruktion, auf Gummirädern unter den Lindenbäumen der Prinzregentenstraße spazierengefahren wurden. Später war es ein Fräulein, gelernte Kindergärtnerin, die sie betreute. Das helle Zimmer, in dem sie aufwuchsen, wo ihre Bettchen standen und wo Ines sie besuchte, sobald die Ansprüche des Haushalts und die Sorge um ihre eigene Soigniertheit es erlaubten, war mit seinem die Wände umlaufenden Märchenfries, seinen ebenfalls märchenhaften Zwergmöbeln, dem bunten Linoleumbelag und der Welt von wohlgeordnetem Spielzeug, Teddybären, Roll-Lämmern, Hampelmännern, KätheKruse-Puppen und Eisenbahnen auf den Wandborten, das Musterbild eines häuslichen Kinderparadieses, genau wie es im Buche steht.
Muß ich nun sagen oder wiederholen, daß es mit all dieser Richtigkeit keineswegs seine Richtigkeit hatte, daß sie auf Willelei, um nicht zu sagen: auf Lüge beruhte und nicht nur von außen mehr und mehr in Frage gestellt wurde, sondern für das schärfere, durch Teilnahme geschärfte Auge auch innerlich brüchig war und weder beglückt noch in der Seele geglaubt und auch nur wahrhaft gewollt wurde? Mir schien diese ganze Glückskorrektheit immer eine bewußte Verleugnung und Übertünchung des Problematischen; zu Inessens Leidenskult stand sie in sonderbarem Widerspruch, und meiner Meinung nach war die Frau zu klug, sich darüber zu täuschen, daß die idealische Bürgerhecke, zu der sie das Dasein ihrer Kinder zimperlich verklärte, der Ausdruck und die Überverbesserung der Tatsache war, daß sie sie nicht liebte, sondern die Früchte einer Verbindung in ihnen sah, die sie mit schlechtem weiblichen Gewissen eingegangen war, und in der sie unter fleischlichen Widerständen lebte.
Großer Gott, es war selbstverständlich keine berauschende Wonne für eine Frau, mit Helmut Institoris zu schlafen! So

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viel verstehe ich auch von weiblichen Träumen und Ansprüchen und war immer gezwungen, mir vorzustellen, daß Ines ihre Kinder rein pflichtmäßig duldend und sozusagen abgewandten Gesichtes von ihm empfangen hatte. Denn sie waren die seinen, daran ließ die Ähnlichkeit aller drei mit ihm keinen Zweifel, die diejenige mit der Mutter weit überwog, vielleicht weil deren seelische Teilnahme bei ihrer Erzeugung so gering gewesen war. Und überhaupt möchte ich der natürlichen Ehe des kleinen Herrn in keiner Weise zu nahe treten. Er war gewiß ein ganzer Mann, wenn auch in Männchengestalt, und durch ihn erfuhr Ines die Lust, — eine glücklose Lust, auf deren ärmlichem Boden ihre Leidenschaft wuchern konnte.
Ich habe es ja gesagt, daß Institoris, als er um Ines' Jungfräulichkeit zu freien begonnen, es eigentlich für einen anderen getan hatte. So denn nun auch war er als Gatte nur der Erwecker abschweifender Wünsche, einer halben, im Grunde kränkenden Glückserfahrung, die nach Ergänzung, Verifizierung, Genugtuung verlangte und das Leid, das sie um Rudi Schwerdtfeger trug, und das sich mir im Gespräch mit ihr sonderbar enthüllt hatte, zur Leidenschaft aufflammen ließ. Es ist ganz klar: als Gegenstand der Werbung begann sie kummervoll seiner zu gedenken, als wissende Frau verliebte sie sich mit vollem Bewußtsein und in aller Vollständigkeit des Gefühls und der Begierde in ihn. Und auch das kann keinem Zweifel unterliegen, daß der junge Mann gar nicht umhinkonnte, diesem ihm leidend und mit geistiger Überlegenheit entgegendrängenden Gefühl zu gehorchen, — fast hätte ich gesagt: es wäre >noch schöner< gewesen, wenn er ihm nicht gehorcht hätte, wobei mir das schwesterliche »Hopp, Mensch, was fällt Ihnen ein, springen Sie gefälligst!« im Ohre klingt. Nochmals, ich schreibe keinen Roman und spiegle nicht allwissende Autoreneinsicht in die dramatischen Phasen einer intimen, den Augen der Welt entzogenen Entwicklung vor. Aber soviel ist gewiß, daß Rudolf, in die Enge getrieben, ganz unwillkürlich und mit einem »Was soll ich machen?« jenem stolzen Kommando parierte, — wobei ich mir sehr wohl vorstellen kann,

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wie seine Passion für den Flirt, das anfänglich harmlose Vergnügen an einer sich immer mehr spannenden und erhitzenden Situation ihn in ein Abenteuer lockte, dem er ohne diese Neigung zum Spiel mit dem Feuer auch hätte ausweichen können.
Mit anderen Worten: Unter der Decke bürgerlicher Untadeligkeit, nach deren Schutz sie doch so heimwehkränklich verlangt hatte, lebte Ines Institoris im Ehebruch mit einem der seelischen Konstitution und selbst dem Gehaben nach knabenhaften Frauenliebling, der ihr Zweifel und Kummer machte, wie sonst eine leichtfertige Frau dem ernstlich liebenden Manne Zweifel und Kummer macht, und in dessen Armen ihre von unlieber Ehe geweckten Sinne Genüge fanden. Sie lebte so jahrelang, von einem Zeitpunkt an, der, wenn ich recht sehe, nur wenige Monate nach ihrer Verehelichung lag, bis gegen Ende des Jahrzehnts, und wenn sie dann nicht mehr so lebte, so darum, weil er, den sie aus allen Kräften zu halten gesucht hatte, sich ihr entzog. Sie war es, die, indem sie zugleich die exemplarische Hausfrau und Mutter abgab, das Verhältnis dirigierte, manipulierte und verschleierte, ein tägliches Kunststück und ein Doppelleben, das natürlich an ihren Nerven zehrte und zu ihrer höchsten Angst die prekäre Lieblichkeit ihrer Erscheinung bedrohte, — zum Beispiel, indem es die beiden Falten an der Nasenwurzel, zwischen ihren blonden Brauen, auf eine gewisse maniakalische Weise vertiefte. Dabei ist, bei aller Vorsicht, Schläue und virtuosen Diskretion, die darauf verwandt wird, solche Abwegigkeiten den Augen der Gesellschaft zu verbergen, der Wille dazu auf beiden Seiten auch wieder niemals ganz klar und ungebrochen: sowohl beim Manne, dem es ja schmeicheln muß, wenn man sein gutes Glück wenigstens vermutet, wie auch sogar bei der Frau, deren geschlechtlicher Stolz es heimlich geradezu darauf abgesehen hat, daß man wisse, sie müsse sich nicht mit den von niemandem hoch veranschlagten Liebkosungen ihres Gatten begnügen. Darum täusche ich mich kaum in der Annahme, daß die Kenntnis von Ines Institoris' Nebenwegen in ihrem Münchener Kreise ziemlich allgemein1 verbreitet war, obgleich ich nie mit jemandem,

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außer mit Adrian Leverkühn, ein Wort darüber gewechselt habe. Ja, ich gehe so weit, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß auch Helmut selbst die Wahrheit kannte: Das Vorkommen einer gewissen Mischung von gebildeter Güte, kopfschüttelnd bedauernder Duldung und — Friedensliebe spricht für diese Annahme, und es geschieht gar nicht selten, daß die Gesellschaft den Gatten für den einzig Blinden hält, während er der Meinung ist, außer ihm wisse niemand etwas. Dies die Bemerkung eines alten Mannes, der ins Leben geblickt hat.
Ich hatte nicht den Eindruck, daß Ines sich um irgendwelche Mitwisserschaft sonderlich kümmerte. Sie tat ihr Bestes, um solche hintanzuhalten, aber das war mehr ein Wahren des Dekors, — wer durchaus wollte, mochte Bescheid wissen, wenn er sie nicht störte. Die Leidenschaft ist zu eingenommen von sich, um sich vorstellen zu können, daß irgend jemand ihr ernstlich entgegen sei. Wenigstens ist dies in Liebesdingen so, wo das Gefühl jedes Recht der Welt für sich in Anspruch nimmt und in aller Verbotenheit und Anstößigkeit ganz unwillkürlich auf Verständnis rechnet. Wie hätte Ines, wenn sie sich sonst für ganz unbelauscht gehalten hätte, meine Eingeweihtheit so ohne weiteres voraussetzen können? Sie tat das aber so gut wie rückhaltlos — nur gerade daß ein bestimmter Name ausfiel — in einem abendlichen Gespräch, das wir — es wird im Herbst 1916 gewesen sein — miteinander führten, und um das es ihr offenbar zu tun gewesen war. Ich hatte mir damals, anders als Adrian, der, wenn er einmal den Abend in München verbracht hatte, immer an seinem Elf-Uhr-Zug zur Heimkehr nach Pfeiffering festhielt, in Schwabing, nicht weit hinterm Siegestor, Hohenzollernstraße, ein Stübchen gemietet, um unabhängig zu sein und unter Umständen in der Hauptstadt ein Obdach zu haben. So konnte ich, bei den Institoris als guter Freund zum Abendessen eingeladen, bereitwillig zustimmen, als Ines, unterstützt von ihrem Gatten, mich schon bei Tische bat, ihr nachher noch Gesellschaft zu leisten, wenn Helmut, der vorhatte, im Allotria-Club Karten zu spielen, gegangen sein würde. Er ging kurz nach neun Uhr mit dem Wunsche, wohl zu plaudern.

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Dann saßen Hausfrau und Gast allein im täglichen Wohnzimmer, das mit kissenbelegten Korbmöbeln ausgestattet war, und wo Ines' Büste, von einem befreundeten Bildhauer in Alabaster gearbeitet, auf einer Säulenkonsole stand, — sehr ähnlich, sehr pikant, ein gut Teil unter Lebensgröße, aber außerordentlich sprechend mit dem schweren Haar, den verschleierten Augen, dem zarten, schräg vorgeschobenen Hälschen, dem in schwieriger Schalkhaftigkeit gespitzten Mund.
Und ich war der Vertraute wieder, der >gute<, keine Emotionen erweckende Mensch im Gegensatz zur Welt des Reizenden, die Ines wohl in dem Jungen verkörpert fand, von dem mit mir zu sprechen es sie verlangte. Sie sagte es selbst: Die Dinge, das Geschehende, Erlebte, Glück, Liebe und Leiden kamen nicht zu ihrem Recht, wenn sie stumm blieben und eben nur genossen, erlitten wurden. Sie genügten sich nicht in Nacht und Schweigen. Je heimlicher sie waren, desto mehr bedurften sie des Dritten, des Vertrauten, des Guten, zu dem, mit dem man darüber sprechen konnte, — und der war ich; ich sah es ein und nahm meine Rolle auf mich.
Wir hatten nach Helmuts Weggang einige Zeit, gleichsam solange er noch in Hörweite war, von gleichgültigen Dingen gesprochen. Plötzlich, fast überrumpelnd, sagte sie dann:
»Serenus, schelten, verachten, verwerfen Sie mich?«
Es wäre sinnlos gewesen, Nichtverstehen zu heucheln.
»Mitnichten, Ines«, erwiderte ich. »Bewahre Gott! Ich habe es mir immer gesagt sein lassen, jenes >Die Rache ist mein, ich will vergelten^ Ich weiß, Er senkt die Strafe schon in das Vergehen hinein und tränkt es ganz mit ihr, so daß das eine nicht vom anderen zu unterscheiden ist und Glück und Strafe dasselbe sind. Sie müssen sehr leiden. Säße ich hier, wenn ich zum Sittenrichter gemacht wäre? Daß ich für Sie fürchte, das leugne ich nicht. Aber ich hätte auch das für mich behalten ohne Ihre Frage, ob ich sie schelte.«
»Was ist Leiden, was sind Furcht und demütigende Gefahr«, sagte sie, »im Vergleich mit dem einen, süßen, unentbehrlichen Triumph, ohne den man nicht leben wollte: das Leichtfertige,

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Entgleitende, das Weltliche, die Seele mit unverlässiger Nettigkeit Quälende, das aber dennoch wahren menschlichen Wert hat, an diesem seinem ernsten Werte festzuhalten, sein Stutzertum zum Ernst zu zwingen, das Lose zu besitzen und es endlich, endlich, nicht einmal nur, sondern zur Bestätigung und Versicherung nie oft genug, in dem Zustand zu sehen, der seinem Wert gebührt, im Zustand der Hingebung, der tief aufseufzenden Leidenschaft!«
Ich sage nicht, daß die Frau sich genau dieser Worte bediente, aber sehr annähernd so drückte sie sich aus. Sie war ja belesen und gewohnt, ihr inneres Leben nicht stumm zu führen, sondern es zu artikulieren, und hatte sich als Mädchen sogar in der Dichtkunst versucht. Ihre Worte besaßen gebildete Präzision und etwas von der Kühnheit, die immer entsteht, wenn die Sprache Gefühl und Leben ernstlich zu erreichen und in sich aufgehen zu lassen, sie in sich erst wahrhaft leben zu lassen bestrebt ist. Dies ist kein alltäglicher Wunsch, sondern ein Erzeugnis des Affektes, und insofern sind Affekt und Geist verwandt, insofern aber auch ist der Geist ergreifend. Indem sie fortfuhr zu sprechen, nur selten mit halbem Ohr hinhörend auf das, was ich etwa einschaltete, waren ihre Worte, ich sage es offen, von einer sinnlichen Wonne durchtränkt, die mich anstehen läßt, sie hier in direkter Rede wiederzugeben. Mitleid, Diskretion, menschliche Ehrfurcht hindern mich daran und auch die, mag sein, spießbürgerliche Scheu, dem Leser Peinliches zuzumuten. Sie wiederholte sich vielfach—in dem Drange, dem schon Gesagten, das ihr noch nicht zu seinem Rechte gekommen schien, zu angemessenerem Ausdruck zu verhelfen. Und immer ging es dabei um die eigentümliche Gleichsetzung von Wert und sinnlicher Leidenschaft, um die fixe und sonderbar trunkene Idee, daß innerer Wert nur in der Lust, die offenbar etwas an Ernst dem >Werte< Gleiches war, sich erfüllen, sich verwirklichen könne, und daß es das zugleich höchste und unentbehrlichste Glück war, ihn dazu anzuhalten. Es ist schlechthin unbeschreiblich, welchen Akzent heißer und schwermütiger, übrigens ungesicherter Genugtuung in ihrem Munde

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diese Vermischung der Begriffe Wert und Lust annahm; wie sehr dabei die Lust als das Element des tiefsten Ernstes erschien, furchtbar entgegengesetzt dem verhaßten Element der »Gesellschaft«, an welches der Wert sich kokettisch spielend verriet, das das elbische, verräterische Element seiner Hülle, der Liebenswürdigkeit, war, und dem man ihn nehmen, entreißen mußte, um ihn allein, höchst allein, im letzten Sinn des Wortes allein zu haben. Die Zähmung der Liebenswürdigkeit zur Liebe, darum drehte es sich; aber zugleich um Abstrakteres, oder um etwas, worin Gedachtes und Sinnliches unheimlich in eins verschmolzen: um die Idee, daß der Widerspruch zwischen der Frivolität des Gesellschaftsfestes und der traurigen Verdächtigkeit des Lebens aufgehoben war in seiner Umarmung, das Leiden daran aufs süßeste gerächt war durch diese.
Von dem, was ich selber einwarf, weiß ich mich kaum noch an einzelnes zu erinnern, außer an eine Frage, die wohl den Zweck hatte, auf die erotische Überschätzung des Gegenstandes hinzudeuten und zu erfahren, wie diese möglich sei: Ich erinnere mich, daß ich schonend andeutete, wie es doch nicht gerade das Vital-Herrlichste, Vollkommenste, Begehrenswerteste sei, woran hier die Leidenschaft sich klammerte; daß sich anläßlich der Entscheidung über die Kriegsdiensttauglichkeit ein physiologischer Funktionsdefekt, eine Organ-Resektion herausgestellt habe. Die Antwort lautete in dem Sinne, daß diese Einschränkung das Liebenswürdige dem leidenden Geiste näher bringe; daß ohne sie für diesen gar keine Hoffnung bestanden hätte und sie es sei, die den Flattersinn dem Ruf des Schmerzes überhaupt zugänglich gemacht habe; mehr noch und bezeichnend genug: daß die Lebensverkürzung, die etwa daraus resultiere, für das Besitzverlangen eher einen Trost, eine Beruhigung und Versicherung als eine Herabstimmung bedeute... Im übrigen waren alle sonderbar beklemmenden Einzelheiten des Gesprächs wieder da, in dem sie mir ihre Verfallenheit zuerst entdeckt hatte, nur gelöst jetzt in fast boshafter Genugtuung: Er pjochte nun durch die begütigende Bemerkung, daß er sich auch bei Langewiesches oder Rollwagens, Leuten, die

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man selber nicht kannte, einmal wieder habe blicken lassen müssen, verraten, daß er dort ebenso sprach und sagte, er habe sich doch auch wieder blicken lassen müssen bei ihr, — es ließ sich nun Triumphierendes dabei denken. Die >Rassigkeit< der Rollwagen'schen Töchter war keine Angst und Pein mehr, Mund an Mund mit ihm, und entgiftet waren die Nettigkeitsbitten an gleichgültige Menschen, doch noch nicht wegzugehen. Das gräßliche »Es sind schon so viele unglücklich!« — es gab ein Seufzen, durch das dem Wort der Stachel der Schmach gebrochen war. Diese Frau war offenbar von dem Gedanken erfüllt, daß sie zwar der Welt des Wissens und Leidens gehöre, zugleich aber Weib sei und in ihrer Weiblichkeit das Mittel besitze, Leben und Glück an sich zu reißen, den Übermut an ihrem Herzen zum Erliegen zu bringen. Früher war allenfalls durch einen Blick, ein ernstes Wort die Torheit einen Augenblick nachdenklich zu stimmen, vorübergehend zu gewinnen gewesen; man hatte sie anhalten können, ihr nichtsnutziges Adieu-Sagen, noch einmal zurückkehrend, durch ein stilles und ernsthaftes zu korrigieren. Nun waren diese ephemeren Gewinne befestigt im Besitz, in der Vereinigung, — soweit Besitz und Vereinigung möglich waren in der Zweiheit, soweit eine verschattete Weiblichkeit es zu sichern vermochte. Es war diese, der Ines mißtraute, indem sie ihren Unglauben zu erkennen gab an die Treue des Geliebten. »Serenus«, sagte sie, »es ist unausbleiblich, ich weiß es, er wird mich verlassen.« Und ich sah die Falten zwischen ihrenBrauen sich mit verbohrtem Ausdruck vertiefen. »Aber dann wehe ihm! Wehe mir!« setzte sie tonlos hinzu, und ich konnte nicht umhin, mich an Adrians Wort zu erinnern, als ich ihm zuerst von dem Verhältnis erzählt: »Er soll sehen, daß er heil aus der Sache davonkommt!«
Für mich war das Gespräch ein wirkliches Opfer. Es dauerte zwei Stunden, und viel Selbstverleugnung, menschliche Sympathie, freundschaftlich guter Wille waren nötig, es durchzustehen. Ines schien sich dessen auch bewußt zu sein, aber merkwürdig, ich muß es sagen: ihre Dankbarkeit für die Geduld, Zeit, Nervenkraft, die man ihr widmete, war, mir unverkennbar,

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kompliziert durch eine gewisse boshafte Genugtuung darüber, etwas wie Schadenfreude, die sich in einem gelegentlichen enigmatischen Lächeln verriet, und an die ich noch heute nicht denken kann, ohne mich zu wundern, daß ich so lange aushielt. Tatsächlich saßen wir, bis Institoris aus der >Allotria< zurückkehrte, wo er mit Herren der Gesellschaft Tarock gespielt hatte. Ein Ausdruck verlegenen Erratens überflog sein Gesicht, als er uns noch beisammen sah. Er dankte mir für die freundliche Vertretung, und ich setzte mich nicht mehr nach der Wiederbegrüßung mit ihm. Ich küßte der Hausfrau die Hand und ging, recht entnervt, halb verärgert, halb teilnahmsvoll erschüttert, durch die ausgestorbenen Straßen nach meinem Quartier.


XXXIII

Die Zeit, von der ich schreibe, war für uns Deutsche eine Ära des staatlichen Zusammenbruchs, der Kapitulation, der Erschöpfungsrevolte und des hilflosen Dahingegebenseins in die Hände der Fremden. Die Zeit, in der ich schreibe, die mir dienen muß, in stiller Abgeschiedenheit diese Erinnerungen zu Papier zu bringen, trägt, gräßlich schwellenden Bauches, eine vaterländische Katastrophe im Schoß, mit der verglichen die Niederlage von damals als mäßiges Mißgeschick, als verständige Liquidierung eines verfehlten Unternehmens erscheint. Ein schmähliches Ende bleibt immer etwas anderes, Normaleres noch als ein Strafgericht, wie es anjetzo über uns schwebt, wie es dereinst auf Sodom und Gomorra fiel, und wie wir es jenes erste Mal denn doch nicht heraufbeschworen hatten.
Daß es herannaht, daß es längst nicht mehr aufzuhalten ist, — ich kann nicht glauben, daß irgend jemand noch den leisesten Zweifel daran hegt. Monsignore Hinterpförtner und ich stehen ganz gewiß nicht länger allein mit der schauerlichen und zugleich — Gott helfe uns! — heimlich erhebenden Erkenntnis. Daß diese in Schweigen gehüllt bleibt, ist eine gespenstische Tatsache für sich. Denn mag es schon unheimlich sein, wenn

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unter einer großen Menge Verblendeter einige wenige Wissende versiegelten Mundes wohnen müssen, — das Grausen, so scheint mir, vollendet sich, wenn eigentlich alle schon wissen, aber zusammen in Schweigen gebannt sind, während einer dem andern die Wahrheit von den sich versteckenden oder angstvoll starrenden Augen liest.
Während ich treulich von Tag zu Tag, in stiller Dauer-Erregung, meiner biographischen Aufgabe gerecht zu werden, dem Intimen und Persönlichen eine würdige Gestalt zu geben suchte, habe ich geschehen lassen, was draußen geschah, und was der Zeit angehört, in der ich schreibe. Die Invasion Frankreichs, als Möglichkeit längst anerkannt, hat sich vollzogen, — eine mit vollkommener Umsicht vorbereitete technisch-militärische Leistung ersten, oder überhaupt neuen Ranges, an der wir den Feind um so weniger hindern konnten, als wir nicht wagen durften, unsere Abwehrkräfte an dem einen Punkt der Landung zu versammeln, ungewiß, ob er nicht als einer unter anderen angesehen werden müsse und weitere Angriffe an unerratbaren Stellen vielleicht zu erwarten seien. Vergebens und verderblich der Argwohn: Dies war es. Und bald waren es der zu Strande gebrachten Truppen, Tanks, Geschütze und jederlei Bedarfe mehr, als wir wieder ins Meer zu werfen vermochten. Cherbourg, dessen Hafen, wie wir vertrauen dürfen, von deutscher Ingenieurkunst gründlich unbrauchbar gemacht worden, hat nach heroischen Radiogrammen des Kommandierenden Generals sowohl wie des Admirals an den Führer kapituliert, und seit Tagen schon tobt eine Schlacht, deren Streitgegenstand die normannische Stadt Caën ist, — ein Kampf, der eigentlich wohl bereits, wenn unsere Besorgnis recht sieht, der Öffnung des Weges nach der französischen Hauptstadt gilt: diesem Paris, dem in der neuen Ordnung die Rolle des europäischen Lunaparks und Freudenhauses zugedacht war, und wo nun, kaum noch in Zaum gehalten von den vereinten Kräften unserer Staatspolizei und ihrer französischen Mitarbeiter, der Widerstand keck sein Haupt erhebt.

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Ja, wie vieles ist geschehen, was in mein einsames Tun hin einspielte, ohne daß ich mir etwas davon merken ließ! Es war nicht viele Tage nach der erstaunlichen Landung in der Normandie, daß unsere neue Vergeltungswaffe, vom Führer schon mehrfach mit inniger Freude vorauserwähnt, auf der Szene des westlichen Kriegstheaters erschien: die Robot-Bombe, ein bewunderungswürdiges Kampfmittel, wie nur heilige Not es dem Erfinder-Genius eingeben kann, — diese unbemannten Flügelboten der Zerstörung, die, zahlreich von der französischen Küste abgelassen, explodierend über Süd-England niedergehen und, wenn nicht alles täuscht, binnen kurzem zu einer wahren Kalamität für den Gegner geworden sind. Werden sie Wesentliches zu verhüten imstande sein? Das Schicksal hat nicht gewollt, daß die notwendigen Installationen rechtzeitig fertig wurden, um durch die Fluggeschosse die Invasion zu stören und hintan zu halten. Inzwischen liest man von der Einnahme Perugias, das, unter uns gesagt, mittwegs zwischen Rom und Florenz gelegen ist; man munkelte sogar schon von dem strategischen Plan, die Apenninische Halbinsel überhaupt zu räumen, — vielleicht um Truppen für den erlahmenden Abwehrkampf im Osten frei zu machen, wohin unsere Soldaten aber um keinen Preis geschickt zu werden wünschen. Eine russische Angriffswelle ist dort im Rollen, die über Witebsk hingegangen ist und nun Minsk bedroht, die weißrussische Hauptstadt, nach deren Fall, wie unser Flüsterdienst wissen will, auch im Osten kein Halten mehr wäre.
Kein Halten mehr! Seele, denk es nicht aus! Wage nicht, zu ermessen, was es heißen würde, wenn in unserem extremen, durchaus einmalig-furchtbar gelagerten Fall die Dämme brächen — wie sie zu brechen im Begriffe sind — und es kein Halt mehr gäbe gegen den unermeßlichen Haß, den wir unter den Völkern ringsum gegen uns zu entfachen gewußt haben! Zwar ist durch die Zerstörung unserer Städte aus der Luft auch Deutschland längst zum Kriegsschauplatz geworden; doch aber bleibt der Gedanke, es könnte im eigentlichen Sinne dazu werden, uns unfaßbar und unzulässig, und unsere Propaganda hat eine seltsame Art, den Feind vor der Verletzung unseres Bodens,

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des heiligen deutschen Bodens, wie vor einer grausen Untat zu warnen . . . Der heilige deutsche Boden! Als ob noch irgend etwas an ihm heilig, als ob er nicht durch ein Unmaß von Rechtsbeleidigung längst über und über entweiht wäre und nicht moralisch ebenso wie tatsächlich der Gewalt, dem Strafgericht offenläge. Es komme! Nichts anderes bleibt mehr zu hoffen, zu wollen, zu wünschen. Der Ruf nach Frieden mit den Angelsachsen, das Anerbieten, den Kampf gegen die sarmatische Flut allein weiterzuführen, die Forderung, vom Gebot unbedingter Übergabe etwas abzulassen, das heißt: zu verhandeln, und zwar mit wem?, ist nichts als augenrollender Unsinn, das Verlangen eines Regimes, das nicht begreifen will, noch heute scheinbar nicht versteht, daß ihm der Stab gebrochen ist, daß es zu verschwinden hat, beladen mit dem Fluch — selbst unerträglich der Welt —, uns, Deutschland, das Reich — ich gehe weiter und sage: das Deutschtum, alles Deutsche — der Welt unerträglich gemacht zu haben. — —
Hier ist der Hintergrund meines biographischen Tuns im gegenwärtigen Augenblick. Ich glaube, eine Skizze davon dem Leser wieder einmal schuldig zu sein. Den Hintergrund meiner Erzählung selbst angehend, zu dem Zeitpunkt, bis zu welchem ich sie vorgetrieben, so habe ich ihn eingangs dieses Kapitels mit der Redewendung »In den Händen der Fremden« gekennzeichnet. »Es ist furchtbar, in die Hände der Fremden zu fallen«, diesen Satz und seine bittere Wahrheit durchdachte und durchlitt ich oft in jenen Tagen des Zusammenbruchs und der Übergabe; denn als deutscher Mann hege ich ungeachtet einer universalistischen Tönung, die mein Weltverhältnis durch katholische Überlieferung erfährt, ein lebendiges Gefühl für die nationale Sonderart, das charakteristische Eigenleben meines Landes, seine Idee sozusagen, wie sie sich als Brechung des Menschlichen gegen andere, ohne Zweifel gleichberechtigte Abwandlungen desselben behauptet und nur bei einem gewissen äußeren Ansehen, im Schutz eines aufrechten Staats sich behaupten kann. Das neuartig Entsetzliche einer entscheidenden militärischen Niederlage ist die Überwältigung dieser Idee,

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ihre physische Widerlegung durch eine, vor allen Dingen auch sprachgebundene, fremde Ideologie, das völlige Anheimgegebensein an diese, von der doch, eben weil sie fremd ist, für das eigene Wesen offenbar nichts Gutes kommen kann. Dies schaurige Erlebnis kosteten die geschlagenen Franzosen das vorige Mal, als ihre Unterhändler, um die Bedingungen des Siegers zu mildern, den Ruhm, la gloire, des Einzugs unserer Truppen in Paris sehr hoch veranschlagten und der deutsche Staatsmann ihnen erwiderte, das Wort gloire, oder irgendein Äquivalent dafür, komme in unserem Vokabular nicht vor. Es war davon 1870, erschrocken, gedämpften Tones, in der französischen Kammer die Rede. Ängstlich suchte man sich klarzumachen, was es bedeute, einem Gegner auf Gnade und Ungnade erlegen zu sein, dessen Begriffswelt die gloire nicht kenne . . .
Oft habe ich daran gedacht, als der jakobinisch-puritanische Tugend-Jargon, der vier Jahre lang schon die Kriegspropaganda der >Einverstandenen< bestritten hatte, zur gültigen Sprache des Sieges geworden war. Auch fand ich bestätigt, daß von der Kapitulation nicht weit ist zur reinen Abdankung und zu dem Antrage, der Sieger möge die Verwaltung des gefallenen Landes gefälligst selbst, nach eigener Idee, übernehmen, da es für sein Teil nicht mehr aus und ein wisse. Solche Regungen hatte Frankreich achtundvierzig Jahre früher gekannt, und auch uns waren sie jetzt nicht fremd. Sie werden jedoch zurückgewiesen. Der Gefallene bleibt gehalten, irgendwie für sich selber aufzukommen, und eine Gängelung von außen findet nur zu dem Zwecke statt, zu verhüten, daß die Revolution, die das Vakuum nach dem Hinscheiden der alten Autorität ausfüllt, nicht so weit ins Extreme gehe, daß sie die bürgerliche Ordnung bei den Siegern mitgefährdet. So diente anno 1918 die Aufrechterhaltung der Blockade auch nach der Waffenstreckung den Westmächten dazu, die deutsche Revolution zu kontrollieren, sie im bürgerlich-demokratischen Geleise zu halten und ihrer Ausartung ins Russisch-Proletarische vorzubeugen. So konnte der sieggekrönte Bourgeois-Imperialismus nicht genug vor >Anarchie< warnen, nicht entschieden genug jedes

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Verhandeln mit Arbeiter- und Soldatenräten und dergleichen Körperschaften ablehnen, nicht genug versichern, daß nur mit einem soliden Deutschland Frieden geschlossen, nur ein solches zu essen bekommen werde. Was wir an Regierung besaßen, folgte denn auch dieser väterlichen Leitung, hielt es mit der National-Versammlung gegen die Proletarier-Diktatur und wies Anerbietungen der Sowjets, auch wenn sie der Lieferung von Getreide galten, gehorsam zurück. Nicht zu meiner reinen Genugtuung, wenn ich das hinzufügen darf. Als mäßiger Mann und Sohn der Bildung hege ich zwar ein natürliches Entsetzen vor der radikalen Revolution und der Diktatur der Unterklasse, die ich mir von Hause aus schwerlich anders als im Bilde der Anarchie und Pöbelherrschaft, kurz, der Kulturzerstörung vorzustellen vermag. Wenn ich mich aber der grotesken Anekdote erinnere, wie die beiden vom Großkapital bezahlten Retter der europäischen Gesittung, der deutsche und der italienische, zusammen durch die Florentiner Uffizien schritten, wohin sie wahrhaftig nicht gehörten, und der eine dem anderen versicherte, daß alle diese »herrlichen Kunstschätze« also der Zerstörung durch den Bolschewismus anheimgefallen wären, wenn nicht der Himmel durch ihrer beider Erhöhung dem vorgebeugt hätte, — so rücken meine Begriffe von Pöbelherrschaft sich neuartig zurecht, und die Herrschaft der Unterklasse will mir, dem deutschen Bürger, als ein Idealzustand erscheinen im nun möglich gewordenen Vergleich mit der Herrschaft des Abschaums. Meines Wissens hat der Bolschewismus niemals Kunstwerke zerstört. Das fiel weit eher in den Aufgabenkreis derer, die behaupteten, uns vor ihm zu schützen. Fehlte denn viel, daß ihrer Lust, das Geistige zu zertreten — einer Lust, die der sogenannten Pöbelherrschaft durchaus ferne liegt —, auch das Werk des Helden dieser Blätter, Adrian Leverkühns, zum Opfer gefallen wäre? Hätte nicht ihr Sieg und die historische Vollmacht, diese Welt nach ihrem scheußlichen Gutdünken einzurichten, sein Werk um Leben und Unsterblichkeit gebracht?
Vor sechsundzwanzig Jahren war es der Widerwille gegen

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die selbstgerechte Tugend-Suada des Rhetor-Bourgeois und >Sohnes der Revolution^ der sich in meinem Herzen als stärker erwies denn die Furcht vor Unordnung und mich wünschen ließ, was jener eben nicht wünschte: die Anlehnung meines geschlagenen Landes an seinen Bruder im Leide, an Rußland, — wobei ich bereit war, die sozialen Umwälzungen in Kauf zu nehmen, ja gutzuheißen, die sich aus solcher Genossenschaft ergeben würden. Die russische Revolution erschütterte mich, und die historische Überlegenheit ihrer Prinzipien über diejenigen der Mächte, die uns den Fuß auf den Nacken setzten, litt in meinen Augen keinen Zweifel.
Seither hat die Geschichte mich gelehrt, unsere Besieger von damals, die es nächstens im Bunde mit der Revolution des Ostens wieder sein werden, mit anderen Augen zu betrachten. Es ist wahr: gewisse Schichten der bürgerlichen Demokratie schienen und scheinen heute reif für das, was ich die Herrschaft des Abschaums nannte, — willig zum Bündnis damit, um ihre Privilegien zu fristen. Dennoch sind ihr Führer erstanden, welche, nicht anders als ich, der Sohn des Humanismus, in dieser Herrschaft das Letzte sahen, was der Menschheit auferlegt werden konnte und durfte, und ihre Welt zum Kampf auf Leben und Tod dagegen bewogen. Nicht genug ist das diesen Männern zu danken, und es beweist, daß die Demokratie der Westländer, bei aller Überholtheit ihrer Institutionen durch die Zeit, aller Verstocktheit ihres Freiheitsbegriffs gegen das Neue und Notwendige, wesentlich doch auf der Linie des menschlichen Fortschritts, des guten Willens zur Vervollkommnung der Gesellschaft liegt und der Erneuerung, Ausbesserung, Verjüngung, der Überführung in lebensgerechtere Zustände ihrer Natur nach fähig ist. —
Alles dieses am Rande. Was ich hier biographisch in Erinnerung bringe, ist der bei herannahender Niederlage schon fortgeschrittene und mit ihr sich vollendende Autoritätsverlust des monarchischen Militärstaates, der so lange unsere Lebensform und -gewohnheit gewesen war, sein Zusammenbruch, seine Abdankung und der bei fortdauerndem Darben, fortschreitendem

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Währungsverfall sich ergebende Zustand diskursiver Lockerung und spekulativer Freiheit, eine gewisse klägliche und unverdiente Ermächtigung zu bürgerlicher Selbständigkeit, die Auflösung eines so lange disziplinär gebundenen Staatsgefüges in debattierende Haufen herrenlos gewordener Untertanen. Ein so recht wohltuender Anblick ist das nicht, und kein Abzug ist zu machen von dem Worte >peinlich<, wenn ich die Eindrücke kennzeichnen soll, die ich bei den Versammlungen gewisser, damals ins Leben tretender >Räte geistiger Arbeiten etc. in Münchener Hotelsälen als rein passiver und beobachtender Teilnehmer gewann. Wäre ich ein Romanerzähler, ich wollte dem Leser eine solche Sitzung, bei der etwa ein belletristischer Schriftsteller, nicht ohne Anmut, sogar auf sybaritische und grübchenhafte Weise über das Thema Revolution und Menschenliebe< sprach und damit eine freie, allzu freie, diffuse und konfuse, von den ausgefallensten, nur bei solchen Gelegenheiten einen Augenblick ans Licht tretenden Typen, Hanswürsten, Maniaks, Gespenstern, boshaften Quertreibern und Winkelphilosophen getragene Diskussion entfesselte — ich wollte, sage ich, eine solche hilf- und heillose Ratsversammlung aus qualvoller Erinnerung wohl plastisch schildern. Da gab es Reden für und gegen die Menschenliebe, für und gegen die Offiziere, für und gegen das Volk. Ein kleines Mädchen sagte ein Gedicht; ein Feldgrauer wurde mühsam daran gehindert, mit der Verlesung eines Manuskriptes fortzufahren, das mit der Anrede »Liebe Bürger und Bürgerinnen!« begann und zweifellos die ganze Nacht in Anspruch genommen haben würde; ein böser Kandidat ging mit sämtlichen Vorrednern in ein unerbittliches Gericht, ohne die Versammlung einer eigenen positiven Meinungsäußerung zu würdigen — und so fort. Das Benehmen der in plumpen Zwischenrufen sich gefallenden Zuhörerschaft war turbulent, kindisch und verroht, die' Leitung unfähig, die Luft fürchterlich und das Ergebnis weniger als Null. Umherblickend fragte man sich wiederholt, ob man denn der einzige sei, der litt, und war am Ende froh, die offene Straße zu gewinnen, wo schon seit Stunden der Tram-Verkehr eingestellt war und irgendwelche wahrscheinlich sinnlosen Schüsse die Winternacht durchhallten.

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Leverkühn, dem ich von diesen Eindrücken berichtete, war außerordentlich leidend damals, — krank auf eine Weise, die etwas von erniedrigender Quälerei, einem Gezwackt- und Geplagtwerden mit glühenden Zangen hatte, ohne daß man etwa unmittelbar für sein Leben hätte fürchten müssen, welches aber auf einen Tiefpunkt gelangt zu sein schien, dergestalt, daß er es, aus einem Tage sich in den anderen schleppend, nur gerade fristete. Es war ein auch durch strengste Diät nicht zu bändigendes Magenübel, das ihn ergriffen hatte, mit heftigsten Kopfschmerzen auftretend, mehrtägig und in wenigen Tagen wiederkehrend, mit stunden-, ja tagelangen Erbrechungen dazu bei leerem Magen, ein wahres Elend, unwürdig, schikanös und erniedrigend, in tiefe Ermattung bei andauernd großer Lichtempfindlichkeit ausgehend, wenn ein Anfall vorüber war. Keine Rede davon, daß das Leiden etwa auf seelische Ursachen, auf die torturierenden Erfahrungen der Zeit, die Niederlage des Landes und ihre wüsten Begleitumstände zurückzuführen gewesen wäre. In seiner klösterlich-ländlichen Abgeschiedenheit, fern der Stadt, berührten diese Dinge ihn kaum, über die er immerhin, zwar nicht durch Zeitungen, die er nicht las, aber durch seine so teilnehmende wie gelassene Pflegerin, Frau Else Schweigestill, auf dem laufenden gehalten wurde. Die Ereignisse, die ja für den Einsichtigen nicht als jäher Choc, sondern als die Erfüllung von etwas längst Erwartetem kamen, vermochten ihn kaum zu einem Achselzucken, und meinen Versuchen, dem Unheil das Gute abzugewinnen, das es etwa bergen mochte, begegnete er nicht anders als verwandten Expektorationen, in denen ich mich zu Anfang des Krieges ergangen, — wobei ich an das kalt ungläubige »Gott segne Eure studia!« denke, womit er mir damals geantwortet.
Und dennoch! So wenig es möglich war, das Absinken seiner Gesundheit mit dem vaterländischen Unglück in gemüthafte Verbindung zu bringen, — meine Neigung, das eine mit dem andern in objektivem Zusammenhang, symbolischer

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Parallele zu sehen, diese Neigung, die eben nur durch die Tatsache der Gleichzeitigkeit mir eingegeben sein mochte, war unbesieglich durch seine Ferne von den äußeren Dingen, mochte ich den Gedanken auch sorgsam bei mir verschließen und mich wohl hüten, ihn vor ihm auch nur andeutungsweise zur Sprache zu bringen.
Nach einem Arzt hatte Adrian nicht verlangt, weil er in seinem Leiden etwas grundsätzlich Vertrautes, eben nur eine akute Steigerung der ererbten Migräne sehen mochte. Es war Frau Schweigestill, die endlich darauf bestand, den Waldshuter Kreisphysikus, Dr. Kürbis, zuzuziehen, denselben, der einst dem Fräulein aus Bayreuth in Kindsnöten beigestanden. Der gute Mann wollte von Migräne nichts wissen, da die oft exzessiven Kopfschmerzen nicht einseitig waren, wie es sich bei Migräne gehöre, sondern in einer wühlenden Qual in und über beiden Augen bestanden und übrigens von dem Doktor als Symptom begleitenden Charakters gewertet wurden. Seine Diagnose lautete, übrigens mit Vorbehalt, auf etwas wie ein Magengeschwür, und indem er den Patienten auf eine gelegentliche Blutung vorbereitete, die aber nicht eintrat, verordnete er eine Höllensteinlösung, innerlich einzunehmen. Da das nicht anschlug, ging er zur Verabreichung starker Dosen Chinin über, zweimal täglich zu nehmen, die tatsächlich vorübergehend Erleichterung brachten. In Abständen von zwei Wochen jedoch, und dann für zwei ganze Tage, erneuerten sich die schwerer Seekrankheit sehr ähnlichen Anfälle, und Kürbissens Krankheitsbestimmung kam bald ins Schwanken pder befestigte sich in anderem Sinn: er glaubte das Leiden meines Freundes nun mit Sicherheit als einen chronischen Magenkatarrh mit bedeutender, und zwar rechtsseitiger, Erweiterung des Magens ansprechen zu sollen, verbunden mit Blutstauungen, die die Ernährung des Kopfes mit Blut beeinträchtigten. Er verschrieb nun Karlsbader Sprudelsalz, und eine Diät, die vom Gesichtspunkt möglichst geringen Volumens bestimmt war, so daß der Speisezettel fast nur zartes Fleisch aufführte und Flüssigkeiten, Suppe, auch Gemüse, Mehliges, Brot ver-

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pönte. Dies richtete sich auch gegen die verzweifelt heftige Säurebildung, an der Adrian litt, und die Kürbis wenigstens zum Teil nervösen Ursachen zuzuschreiben geneigt war, also einer Zentralwirkung, also dem Gehirn, das hier zum ersten Mal in seinen diagnostischen Spekulationen eine Rolle zu spielen begann. Mehr und mehr schob er, da die Magenerweiterung kuriert war, ohne daß Kopfschmerzen und schwere Übelkeiten darum ausgeblieben wären, die Leidenserscheinungen auf das Gehirn ab, — bestärkt hierin durch das dringliche Verlangen des Kranken, verschont zu sein vom Lichte: Auch wenn er außer Bett war, verbrachte er halbe Tage im dicht verdunkelten Zimmer, da ein sonniger Vormittag genügt hatte, seine Nerven so weit zu ermüden, daß er nach Finsternis dürstete und sie wie ein wohltätiges Element genoß. Ich selbst habe manche Tagesstunde in der Abtsstube, die so verdunkelt war, daß man erst nach längerer Gewöhnung die Umrisse der Möbel, einen bleichen Außenschein auf den Wänden unterschied, plaudernd mit ihm verbracht.
Um diese Zeit waren Eiskappen und kalte Übergießungen des Kopfes am Morgen die verordneten Anwendungen, und sie schlugen besser an als die vorigen, wenn auch nur als Palliativmittel, deren mildernde Wirkung nicht erlaubte, von Genesung zu reden: Der unheimliche Zustand war nicht behoben, intermittierend kehrten die Anfälle wieder, und der Heimgesuchte erklärte, sie wohl aushalten zu wollen, wenn nicht das zwischenein Fortwährende gewesen wäre, der beständige Schmerz und Druck im Kopf, auf den Augen, das schwer zu beschreibende, lähmungsartige Gesamtgefühl vom Scheitel bis zu den Fußspitzen, das auch die Sprachorgane zu beschweren schien, so daß die Rede des Leidenden, ob er sich dessen nun bewußt war oder nicht, zuweilen etwas Schleppendes und, durch trägen Gebrauch der Lippen, etwas mangelhaft Artikuliertes hatte. Eher glaube ich, daß er nicht acht darauf gab, denn er ließ sich am Sprechen dadurch nicht hindern; aber andererseits hatte ich zuweilen den Eindruck, daß er sich der Hemmung geradezu bediente und sich in ihr gefiel, um auf

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eine gewisse nicht ganz ausgebildete, nur halb zum Verstandenwerden bestimmte Weise, wie aus dem Traume redend, Dinge zu sagen, für die ihm diese Mitteilungsart passend schien. So sprach er mir von der kleinen Seejungfer in Andersens Märchen, das er außerordentlich liebte und bewunderte, nicht zuletzt die wirklich vorzügliche Schilderung des scheußlichen Bereichs der Meerhexe hinter den reißenden Strudeln, im Polypenwald, wohin das sehnsüchtige Kind sich getraut, um statt ihres Fischschwanzes Menschenbeine und durch die Liebe des schwarzäugigen Prinzen —sie selbst hatte Augen »so blau wie die tiefste See« — vielleicht, wie die Menschen, eine unsterbliche Seele zu erlangen. Er spielte mit dem Vergleich zwischen den messerscharfen Schmerzen, die die stumme Schöne bei jedem Schritt auf ihren weißen Gehwerkzeugen zu erdulden sich bereit gefunden, und dem, was er selbst unaufhörlich auszustehen hatte, nannte sie seine Schwester in der Trübsal und übte übrigens eine Art von familiärer und humoristisch realer Kritik an ihrem Benehmen, ihrem Eigensinn, ihrer sentimentalen Versehntheit nach der zweibeinigen Menschenwelt.
»Gleich mit dem Kult der auf den Meeresgrund geratenen Marmorstatue«, sagte er, »fängt es an, dem Knaben, der offenbar von Thorwaldsen ist, und an dem sie unerlaubt viel Geschmack findet. Die Großmutter hätte ihr das Ding wegnehmen sollen, statt zu erlauben, daß die Kleine auch noch eine rosenrote Trauerweide dazu in den blauen Sand pflanzt. Man hat ihr früh zu viel durchgehen lassen, und nachher ist das Verlangen nach der hysterisch überschätzten Oberwelt und nach der unsterblichen Seele< nicht mehr zu bändigen. Eine unsterbliche Seele, warum denn? Ein ganz törichter Wunsch! Es ist viel beruhigender, zu wissen, daß man nach dem Tode zu Schaum auf dem Meere wird, wie es der Kleinen von Natur wegen zukommt. Eine ordentliche Nixe hätte diesen Hohlkopf von Prinzen, der sie gar nicht zu schätzen weiß und vor ihren Augen eine andere heiratet, an den Marmorstufen seines Schlosses verführt, ihn ins Wasser gezogen und ihn zärtlich ertränkt, statt ihr Schicksal von seiner Dummheit abhängig zu machen,

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wie sie es tut. Wahrscheinlich hätte er sie mit dem angeborenen Fischschwanz viel leidenschaftlicher geliebt als mit den schmerzhaften Menschenbeinen . . .«
Und mit einer Sachlichkeit, die nur scherzhaft sein konnte, aber mit zusammengezogenen Brauen, dabei nur halb deutlich, mit unwillig sich bewegenden Lippen, sprach er von den ästhetischen Vorzügen der Nixengestalt vor der gegabeltmenschlichen, von dem Linienreiz, mit dem der Frauenleib aus den Hüften in den glattschuppigen, starken und geschmeidigen, zum wohlgesteuerten Dahinschießen geschaffenen Fischschwanz verfloß. Er leugnete hier alles Monströse, das sonst den mythologischen Kombinationen des Menschlichen mit dem Tierischen anhafte, und tat, als gäbe er nicht zu, daß der Begriff mythologische Fiktion hier überhaupt am Platze sei: Das Meerweib habe vollkommene und gewinnendste organische Wirklichkeit, Schönheit und Notwendigkeit, wie man recht gewahr werde angesichts des kümmerlich mitleiderregenden und deklassierten Zustandes der kleinen Seejungfer, nachdem sie sich Beine erkauft, was niemand ihr danke, — es sei ein unzweifelhaftes Stück Natur, das die Natur schuldig geblieben, — wenn sie es schuldig geblieben sei, was er nicht glaube, ja, was er besser wisse, und so weiter.
Ich höre ihn noch so reden oder murmeln, mit einer finsteren Scherzhaftigkeit, die ich scherzhaft beantwortete, einige Ängstlichkeit, wie gewöhnlich, im Herzen nebst stiller Bewunderung für die Laune, die er dem offenbar auf ihm liegenden Druck abzugewinnen wußte. Sie war es, die mich seine Ablehnung der Vorschläge billigen ließ, die Dr. Kürbis damals pflichtgemäß unterbreitete: Er empfahl oder gab zu erwägen die Befragung einer höheren ärztlichen Autorität; aber Adrian wich aus, wollte davon nichts wissen. Er habe, sagte er, erstens volles Vertrauen zu Kürbis und sei außerdem der Überzeugung, daß er mehr oder weniger allein, aus eigener Kraft und Natur mit dem Übel fertig werden müsse. Das entsprach meinem eigenen Gefühl. Eher wäre ich einem Umgebungswechsel, einem Kuraufenthalt zugeneigt gewesen, den der Doktor eben

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falls in Vorschlag brachte, ohne, wie sich hätte vorhersagen lassen, seinen Patienten dazu überreden zu können. Viel zu sehr hing dieser an dem entschieden gewählten und gewohnten Lebensrahmen von Haus und Hof, Kirchturm, Weiher und Hügel, zu sehr an seiner altertümlichen Studierstube, seinem Sammetstuhl, als daß er den Gedanken zugelassen hätte, dies alles auch nur für vier Wochen gegen die Greuel eines Badeort-Daseins mit Table d'höte, Promenade und Kurmusik einzutauschen. Vor allem schützte er Rücksichtnahme vor auf Frau Schweigestill, die er nicht zu kränken wünsche, indem er irgendeine auswärtige Allerweltspflege der ihren vorzog, — da er sich doch in dieser, in dem Verständnis, der gelassenen, menschlich-kundigen Fürsorge der Mutter weitaus am besten aufgehoben fühle. Wirklich konnte man fragen, wo er es haben würde wie bei ihr, die ihm jetzt, neuester Empfehlung gemäß, alle vier Stunden zu essen brachte: um acht Uhr ein Ei, Kakao und Zwieback, um zwölf Uhr ein kleines Beefsteak oder ein Kotelett, um vier Uhr Suppe, Fleisch und etwas Gemüse, um acht Uhr kalten Braten und Tee. Dieses Regime war wohltätig. Es hielt die Verdauungsfieber großer Mahlzeiten hintan.
Die Nackedey und Kunigunde Rosenstiel sprachen abwechselnd in Pfeiffering vor. Sie brachten Blumen, Eingemachtes, Pfefferminz-Dragees oder was sonst der herrschende Mangel gewährte. Nicht immer, ja selten nur wurden sie vorgelassen, was keine von beiden beirrte. Kunigunde entschädigte sich im Falle der Ablehnung durch besonders wohlgesetzte, in reinstem und würdigstem Deutsch abgefaßte Briefe. Diesen Trost hatte die Nackedey freilich nicht.
Gern wußte ich Rüdiger Schildknapp, den Gleichäugigen, bei unserem Freunde. Seine Gegenwart wirkte so beruhigend, so erheiternd auf ihn, — wenn sie ihm nur öfter gewährt gewesen wäre! Aber Adrians Krankheit war einer der Ernstfälle, die Rüdigers Gefälligkeit lahmzulegen pflegten, — wir wissen ja, daß das Gefühl seiner dringenden Erwünschtheit ihn störrig machte und mit sich kargen ließ. An Entschuldigungen, will sagen an Möglichkeiten zur Rationalisierung dieser eigentümlichen

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seelischen Anlage fehlte es ihm nicht: Eingespannt in seinen literarischen Broterwerb, diese Übersetzungsplage, war er wirklich schwer abkömmlich, und außerdem litt seine eigene Gesundheit unter den schlechten ErnährungsVerhältnissen; häufigere Darmkatarrhe suchten ihn heim, und wenn er in Pfeiffering erschien — denn immerhin, er kam das eine und andere Mal —, so trug er eine flanellene Leibbinde, auch wohl sogar einen feuchten Wickel mit Guttapercha-Bedeckung, — eine Quelle bitterlicher Komik und angelsächsischer jokes für ihn und der Belustigung denn auch für Adrian, der sich mit niemandem so gut über die Quälereien des Körpers in die Freiheit des Scherzes, des Gelächters erheben konnte wie mit Rüdiger.
Auch die Senatorin Rodde kam, versteht sich, von Zeit zu Zeit aus ihrer mit bürgerlichen Möbeln überfüllten Zuflucht herüber, um sich bei Frau Schweigestill nach Adrians Befinden zu erkundigen, wenn sie ihn selbst schon nicht sehen konnte. Empfing er sie, oder trafen sie im Freien zusammen, so erzählte sie ihm von ihren Töchtern, indem sie beim Lachen die Lippen über einer Lücke in ihren Vorderzähnen geschlossen hielt; denn auch hier, außer mit den Stirnhaaren, gab es nun Kümmernisse, die sie die Menschen fliehen ließen. Clarissa, berichtete sie, liebte sehr ihren künstlerischen Beruf und ließ sich die Freude an seiner Ausübung nicht mindern durch eine gewisse Kälte des Publikums, Mäkeleien der Kritik und die freche Grausamkeit dieses und jenes Spielleiters, der ihr die Stimmung zu verderben suchte, indem er ihr aus der Kulisse »Tempo, Tempo!« zurief, wenn sie eine Soloszene mit Genuß auszuspielen im Begriffe war. Ihr Ausgangs-Engagement in Celle war abgelaufen, und das nächste hatte sie nicht eben höher hinaufgeführt: sie spielte nun jugendliche Liebhaberinnen in dem fernen ostpreußischen Elbing, hatte aber Aussicht auf eine Verpflichtung ins westliche Reich, nämlich nach Pforzheim, von wo ja der Sprung auf die Bühnen von Karlsruhe oder Stuttgart am Ende nicht weit war. Worauf es bei dieser Laufbahn ankam, war, nicht in der Provinz steckenzubleiben, sondern beizeiten an einem großen Landestheater oder an einer haupt-

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städtischen Privatbühne von geistiger Bedeutung Fuß zu fassen. Clarissa hoffte, sich durchzusetzen. Aber aus ihren Briefen, wenigstens aus denen an ihre Schwester, ging hervor, daß ihre Erfolge mehr persönlicher, das heißt: erotischer, als künstlerischer Natur waren. Zahlreich waren die Nachstellungen, denen sie sich ausgesetzt sah, und die mit spöttischer Kälte zurückzuweisen einen Teil ihrer Energie beanspruchte. An Ines, wenn auch nicht ihrer Mutter direkt, hatte sie berichtet, daß ein reicher Warenhausbesitzer, übrigens ein wohlerhaltener Weißbart, sie zu seiner Geliebten habe machen wollen und sie mit Wohnung, Wagen und Kleidern köstlich zu halten versprochen habe, — wodurch sie das unverschämte »Tempo, Tempo!« des Regisseurs wohl hätte zum Schweigen bringen und auch die Kritik hätte umstimmen können. Doch war sie viel zu stolz, ihr Leben auf diese Grundlage zu stellen. Um ihre Persönlichkeit, nicht um ihre Person war es ihr zu tun; der Großkrämer hatte einen Korb bekommen, und Clarissa war zu neuem Kampfe nach Elbing gegangen.
Von ihrer Tochter Institoris in München sprach die Senatorin weniger eingehend: Ihr Leben schien ja weniger bewegt und gewagt, normaler, gesicherter, — oberflächlich gesehen, und Frau Rodde wollte es offenbar oberflächlich sehen, das heißt, sie stellte Ines' Ehe als glücklich hin, was allerdings ein starkes Stück von gemütvoller Oberflächlichkeit war. Damals waren gerade die Zwillinge zur Welt gekommen, und die Senatorin sprach mit schlichter Rührung von dem Ereignis, — von den drei Hätschelhäschen und Schneeweißchen, die sie von Zeit zu Zeit in ihrem idealischen Kinderzimmer besuchte. Nachdrücklich und mit Stolz lobte sie ihre Älteste für die Unbeugsamkeit, mit der sie trotz widriger Umstände ihrem Haushalt Tadellosigkeit zu wahren wisse. Es war nicht zu unterscheiden, ob ihr, was die Spatzen von den Dächern pfiffen, nämlich die Geschichte mit Schwerdtfeger, wirklich unbekannt war, oder ob sie sich nur so stellte. Adrian, wie der Leser weiß, war durch mich über diese Dinge im Bilde. Eines Tages empfing er sogar Rudolfs Beichte darüber — ein sonderbarer Vorgang.

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Der Geiger zeigte sich während der akuten Krankheit unseres Freundes sehr teilnehmend, treu und anhänglich, ja es schien, als wollte er die Gelegenheit wahrnehmen, ihm zu zeigen, wieviel ihm an seinem Wohlwollen, seiner Zuneigung gelegen war, — mehr noch: mein Eindruck war der, daß er glaubte, Adrians leidenden, reduzierten und, wie er wohl meinte, gewissermaßen hilflosen Zustand dazu benutzen zu sollen, seine ganze unverwüstliche und durch viel persönlichen Charme unterstützte Zutunlichkeit aufzubieten, um eine Sprödigkeit, Kühle, ironische Abweisung zu überwinden, die ihn aus mehr oder weniger ernsten Gründen kränkte, oder schmerzte, oder seine Eitelkeit verletzte, oder ein wirkliches Gefühl verwundete — Gott weiß, wie es darum stand! Spricht man von Rudolfs Flirt-Natur — wie man davon sprechen muß —, so kommt man leicht in die Gefahr, ein Wort zuviel zu sagen. Aber man soll auch keines zuwenig sagen, und mir, für mein Teil, erschien diese Natur, erschienen ihre Äußerungen stets im Lichte einer absolut naiven, kindischen, ja koboldhaften Dämonie, deren Widerschein ich zuweilen aus seinen so sehr hübschen blauen Augen lachen zu sehen glaubte.
Genug, wie ich sagte, Schwerdtfeger kümmerte sich eifrig um Adrians Krankheit, öfters erkundigte er sich telephonisch bei Frau Schweigestill nach seinem Ergehen und bot seinen Besuch an, sobald der nur irgend erträglich und zur Zerstreuung willkommen sein würde. Bald denn auch einmal, in Tagen der Besserung, durfte er kommen, legte die gewinnendste Freude über das Wiedersehen an den Tag und redete Adrian zu Beginn seines Besuches zweimal mit Du an, um sich erst beim dritten Mal, da jener nun einmal nicht darauf einging, zu verbessern und es beim Vornamen mit dem Sie sein Bewenden haben zu lassen. Gewissermaßen zum Trost und experimentierenderweise nannte auch Adrian ihn gelegentlich mit Vornamen, wenn nicht in der traulich verkleinerten, bei Schwerdtfeger allgemein üblichen Form, so doch in der vollen, also Rudolf, kam aber gleich wieder davon ab. Übrigens beglückwünschte er ihn zu schönen Erfolgen, die dem Geiger letzthin

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zuteil geworden. Er hatte in Nürnberg ein eigenes Konzert gegeben und namentlich durch eine vorzügliche Wiedergabe der Partita in E-Dur von Bach (für Violine allein) bei Publikum und Presse Aufsehen erregt. Die Folge davon war sein Auftreten als Solist bei einem der Münchener Akademie-Konzerte im Odeon gewesen, wobei seine saubere, süße und technisch perfekte Tartini-Interpretation außerordentlich gefallen hatte. Seinen kleinen Ton nahm man in den Kauf. Er hatte musikalische (und auch persönliche) Entschädigungen dafür zu bieten. Sein Aufsteigen zum Posten des Konzertmeisters im Zapfenstößer-Orchester, dessen bisheriger Inhaber zurücktrat, um sich nur noch dem Unterricht zu widmen, war trotz seiner Jugend — und er sah noch bedeutend jünger aus, als er war, ja merkwürdigerweise sogar jünger als zur Zeit meiner ersten Bekanntschaft mit ihm —, dieser Aufstieg war nunmehr eine ausgemachte Sache.
Bei alldem zeigte Rudi sich bedrückt durch gewisse Umstände seines Privatlebens, — durch seine Liaison mit Ines Institoris, über die er sich unter vier Augen mit Adrian vertrauensvoll ausließ. Übrigens ist >unter vier Augen< nicht ganz richtig, oder nicht ganz zulänglich gesagt, da das Gespräch im verdunkelten Zimmer stattfand und die beiden einander überhaupt nicht oder nur schattenhaft sahen, — eine Ermutigung und Erleichterung, ohne Zweifel, für Schwerdtfeger bei seinen Geständnissen. Es war nämlich ein außerordentlich heller, blausonniger und schneeglitzernder Januartag des Jahres 1919, und Adrian hatte gleich nach Rudolfs Ankunft, nach der ersten Begrüßung mit ihm draußen im Freien, so schwere Kopfschmerzen bekommen, daß er seinen Gast ersucht hatte, das erprobt wohltätige Schonungsdunkel wenigstens eine Weile mit ihm zu teilen. Man hatte also den NikeSaal, wo man sich anfangs aufgehalten, mit der Abtsstube vertauscht und sie mit Läden und Vorhängen so vollständig gegen das Licht gesperrt, daß es war, wie ich es kannte: zunächst deckte die Augen vollkommene Nacht, dann lernten sie ungefähr den Stand der Möbel zu unterscheiden und nahmen den

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schwach durchsickernden Schimmer des Außenlichts, einen bleichen Schein an den Wänden wahr. Adrian, in seinem Sammetstuhl, entschuldigte sich wiederholt ins Dunkel hinein wegen der Zumutung, aber Schwerdtf eger, der den SavonarolaSessel vorm Schreibtisch genommen hatte, war völlig einverstanden. Wenn jenem das guttue — und er könne sich sehr wohl vorstellen, wie gut es ihm tun müsse —, so sei es auch ihm das allerliebste. Man unterhielt sich gedämpft, ja leise, teils weil Adrians Zustand dazu anhielt, teils weil man im Finsteren unwillkürlich die Stimme senkt. Selbst eine gewisse Neigung zum Verstummen, zum Ausgehen des Gesprächs erzeugt das Dunkel, aber Schwerdtfegers Dresdener Zivilisation und gesellschaftliche Schulung duldete keine Pause, flüssig plauderte er über tote Punkte hinweg, der Ungewißheit zum Trotz, in der man sich bei herrschender Nacht über die Reaktion des anderen befindet. Man streifte die abenteuerliche politische Lage, die Kämpfe in der Reichshauptstadt, kam dann auf neueste Musik zu sprechen, und Rudolf pfiff mit großer Reinheit etwas aus Falla's >Nächten in spanischen Gärten< und aus Debussy's Sonate für Flöte, Violine und Harfe. Die Bourree aus >Love's Labour's Lost< pfiff er auch, genau in der richtigen Tonart, und gleich darauf das komische Thema des weinenden Hündchens aus dem Marionettenspiel >Von der gottlosen List<, ohne recht beurteilen zu können, ob Adrian das Vergnügen mache oder nicht. Schließlich seufzte er und sagte, es sei ihm gar nicht nach Pfeifen zumute, vielmehr recht schwer ums Herz, oder, wenn nicht schwer, so doch ärgerlich, verdrossen, ungeduldig, auch ratlos-sorgenvoll immerhin, also dennoch schwer. Warum? Darauf zu antworten sei natürlich nicht leicht und nicht einmal recht zulässig, es sei denn allenfalls unter Freunden, wo das Gebot der Diskretion nicht so ins Gewicht falle, dies Kavaliersgebot, Weiberaffairen für sich zu behalten, das er gewiß zu halten pflege, er sei kein Schwätzer. Aber ein bloßer Kavalier sei er auch nicht, man irre sich sehr, wenn man nur dergleichen in ihm sähe, — einen oberflächlichen Lebemann und Seladon, das sei ja ein Graus. Er sei ein

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Mensch und ein Künstler, und auf die Kavaliersdiskretion pfeife er — insofern sei ihm allerdings nach Pfeifen zumut —, wo ja doch der, zu dem er spreche, sicher so gut Bescheid wisse wie alle Welt. Kurzum, es handle sich um Ines Rodde, Institoris richtiger, und um sein Verhältnis zu ihr, für das er nichts könne. »Ich kann nichts dafür, Adrian, glaube — glauben Sie mir! Ich habe sie nicht verführt, sondern sie mich, und die Hörner des kleinen Institoris, um diesen dummen Ausdruck zu gebrauchen, sind ausschließlich ihr Werk, nicht meines. Was wollen Sie machen, wenn eine Frau sich wie eine Ertrinkende an Sie klammert und Sie durchaus zum Geliebten will? Wolsen Sie ihr Ihr Obergewand in den Händen lassen und fliehen?« Nein, das tut man nicht mehr, sondern da gibt es nun doch wieder Kavaliersgebote, denen man sich nicht versagt, angenommen noch dazu, die Frau wäre hübsch, wenn auch auf etwas fatale und leidende Weise. Aber er sei auch fatal und leidend, ein angestrengter und oft kummervoller Künstler; er sei kein Springinsfeld oder Sonnenjüngling, oder was man sich sonst unter ihm vorstelle. Ines stelle sich allerlei unter ihm vor, ganz Falsches, und das schaffe ein schiefes Verhältnis, als ob nicht ein solches Verhältnis an und für sich schon schief genug sei mit den albernen Situationen, die es fortwährend mit sich bringe, und mit seiner Nötigung zur Vorsicht in jeder Beziehung. Ines komme über all das leichter hinweg, aus dem einfachen Grunde, weil sie leidenschaftlich liebe, — er könne das um so eher aussprechen, als sie es ja auf Grund falscher Vorstellungen tue. Er sei da im Nachteil, er liebe nicht: »Ich habe sie niemals geliebt, das bekenne ich offen; ich hatte immer nur brüderlich-kameradschaftliche Empfindungen für sie, und daß ich mich so mit ihr einließ und dieses dumme Verhältnis sich hinschleppt, an das sie sich klammert, das war eine bloße Sache der Kavalierspflicht auf meiner Seite.« Er müsse dazu aber im Vertrauen folgendes sagen: Es habe sein Mißliches, ja Degradierendes, wenn die Leidenschaft, eine geradezu verzweifelte Leidenschaft, auf seiten der Frau sei, während der Mann nur Kavalierspflichten erfülle. Es verkehre irgendwie das

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Besitzverhältnis und führe zu einem unerfreulichen Übergewicht der Frau in der Liebe, so, daß er sagen müsse, Ines gehe mit seiner Person, seinem Körper um, wie eigentlich und richtigerweise der Mann umgehe mit dem einer Frau, — wozu noch ihre krankhafte und krampfhafte, dabei ganz ungerechtfertigte Eifersucht komme auf den Alleinbesitz seiner Person: ungerechtfertigt, wie gesagt, denn er habe gerade genug an ihr, übrigens auch genug von ihr und ihrer Umklammerung, und sein unsichtbares Gegenüber könne sich kaum vorstellen, welch Labsal gerade unter diesen Umständen für ihn die Nähe eines hochstehenden und von ihm selbst hochgehaltenen Mannes sei, die Sphäre eines solchen, der Austausch mit einem solchen. Man beurteile ihn meistens falsch: er führe viel lieber ein ernstes, ihn hebendes und förderndes Gespräch mit einem solchen Mann, als daß er bei Weibern liege; ja, wenn er sich selber charakterisieren solle, so glaube er nach genauer Prüfung am besten zu tun, sich eine platonische Natur zu nennen.
Und plötzlich, gleichsam zur Illustration des eben Gesagten, kam Rudi auf das Violinkonzert zu sprechen, von dem er so sehr wünsche, Adrian möge es für ihn schreiben, es ihm auf den Leib schreiben, womöglich unter Zusprechung des ausschließlichen Aufführungsrechtes, das sei sein Traum! »Ich brauche Sie, Adrian, zu meiner Hebung, meiner Vervollkommnung, meiner Besserung, auch zu meiner Reinigung, gewissermaßen, von den anderen Geschichten. Auf mein Wort, so ist es, es ist mir niemals ernster mit einer Sache, mit einem Bedürfnis gewesen. Und das Konzert, das ich mir von Ihnen wünsche, ist nur der zusammengedrängteste, ich möchte sagen: der symbolische Ausdruck für dies Bedürfnis. Wunderbar würden Sie es machen, viel besser als Delius und Prokofieff, mit einem unerhört einfachen und sangbaren ersten Thema im Hauptsatz, das nach der Kadenz wieder einsetzt, — das ist immer der beste Augenblick im klassischen Violinkonzert, wenn nach der Solo-Akrobatik das erste Thema wieder einsetzt. Aber Sie brauchen es gar nicht so zu machen, Sie brauchen überhaupt keine Kadenz zu machen, das ist ja ein Zopf,

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Sie können alle Konventionen umstoßen und auch die Satzeinteilung, — es braucht gar keine Sätze zu haben, meinetwegen könnte das Allegro molto in der Mitte stehen, ein wahrer Teufelstriller, bei dem du mit dem Rhythmus jonglierst, wie nur Sie es können, und das Adagio könnte zum Schluß kommen, als Verklärung, — es könnte alles gar nicht unkonventionell genug sein, und jedenfalls wollte ich es hinlegen, daß den Leuten die Augen übergehen. Einverleiben wollt' ich es mir, daß ich's im Schlafe spielen könnte, und es hegen und pflegen in jeder Note wie eine Mutter, denn Mutter wäre ich ihm, und Sie wären der Vater, — es wäre zwischen uns wie ein Kind, ein platonisches Kind, — ja, unser Konzert, das wäre so recht die Erfüllung von allem, was ich unter platonisch verstehe.« —
So damals Schwerdtfeger. Ich habe in diesen Blättern mehrmals zu seinen Gunsten geredet, und auch heute, da ich dies alles wieder Revue passieren lasse, bin ich milde gegen ihn gestimmt, bestochen gewissermaßen durch sein tragisches Ende. Aber der Leser wird nun gewisse Ausdrücke besser verstehen, die ich auf ihn anwandte, jene »koboldhafte Naivität« oder auch »kindische Dämonie«, die ich als einschlägig in sein Wesen bezeichnete. An Adrians Stelle — aber es ist freilich unsinnig, mich an seine Stelle zu versetzen — hätte ich mehreres nicht geduldet von dem, was Rudolf äußerte. Es war entschieden ein Mißbrauch des Dunkels. Nicht nur, daß er wiederholt zu weit ging in der Offenheit über sein Verhältnis zu Ines, — auch in anderer Richtung ging er zu weit, sträflich und koboldhaft weit — verführt durch das Dunkel, möchte ich sagen, wenn dabei der Begriff der Verführung ganz richtig eingesetzt schiene und man nicht besser von einem kecken Anschlag der Zutraulichkeit auf die Einsamkeit spräche.
Das ist in der Tat der Name für Rudi Schwerdtfegers Beziehung zu Adrian Leverkühn. Der Anschlag nahm sich die Zeit von Jahren, und ein gewisses schwermutsvolles Gelingen war ihm nicht abzusprechen: auf die Dauer erwies sich die Wehrlosigkeit der Einsamkeit gegen solche Werbung, allerdings zu des Werbers Verderben.

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XXXIV

Nicht nur mit den Messerschmerzen der »kleinen Seejungfer« hatte Leverkühn zur Zeit des tiefsten Standes seiner Gesundheit die eigene Qual verglichen: er hatte im Gespräch noch ein anderes, mit merkwürdig genauer Anschaulichkeit verwendetes Bild dafür, an das ich mich erinnerte, als wenige Monate später, im Frühjahr 1919, der Krankheitsdruck wie durch ein Wunder von ihm abfiel und sein Geist, phönixgleich, sich zu höchster Freiheit und staunenswerter Macht ungehemmter, um nicht zu sagen: hemmungsloser, jedenfalls unaufhaltsamer und reißender, fast atemloser Hervorbringung erhob, — wobei aber gerade jenes Bild mir verriet, daß diese beiden Zustände, der depressive und der gehobene, innerlich nicht scharf gegeneinander abgesetzt waren, nicht zusammenhanglos auseinanderfielen, sondern daß dieser sich in jenem vorbereitet hatte und gewissermaßen schon in ihm enthalten gewesen war, — wie ja auch umgekehrt die dann ausbrechende Gesundheits- und Schaffensepoche nichts weniger als eine Zeit des Behagens, sondern in ihrer Art ebenfalls eine solche der Heimgesuchtheit, der schmerzhaften Getriebenheit und Bedrängnis war . . . Ach, ich schreibe schlecht! Die Begierde, alles auf einmal zu sagen, läßt meine Sätze überfluten, treibt sie ab von dem Gedanken, zu dessen Notierung sie ansetzten, und bewirkt, daß sie ihn weiterschweifend aus den Augen zu verlieren scheinen. Ich tue gut, die Kritik dem Leser vom Munde zu nehmen. Es kommt aber dieses Sichüberstürzen und Sichverlieren meiner Ideen von der Erregung, in welche die Erinnerung an die Zeit mich versetzt, von der ich handle, die Zeit nach dem Zusammenbruch des deutschen Autoritätsstaates mit ihrer tiefgreifenden diskursiven Lockerung, die auch mein Denken in ihren Wirbel zog und meine gesetzte Weltanschauung mit Neuigkeiten bestürmte, die zu verarbeiten ihr nicht leichtfiel. Das Gefühl, daß eine Epoche sich endigte, die nicht nur das neunzehnte Jahrhundert umfaßte, sondern zurückreichte

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bis zum Ausgang des Mittelalters, bis zur Sprengung scholastischer Bindungen, zur Emanzipation des Individuums, der Geburt der Freiheit, eine Epoche, die ich recht eigentlich als die meiner weiteren geistigen Heimat zu betrachten hatte, kurzum, die Epoche des bürgerlichen Humanismus; — das Gefühl, sage ich, daß ihre Stunde geschlagen hatte, eine Mutation des Lebens sich vollziehen, die Welt in ein neues, noch namenloses Sternenzeichen treten wollte, — dieses zu höchstem Aufhorchen anhaltende Gefühl war zwar nicht erst das Erzeugnis des Kriegsendes, es war schon das seines Ausbruchs, vierzehn Jahre nach der Jahrhundertwende, gewesen und hatte der Erschütterung, der Schicksalsergriffenheit zum Grunde gelegen, die meinesgleichen damals erfahren hatte. Kein Wunder nun, daß die auflösende Niederlage dieses Gefühl auf die Spitze trieb, und kein Wunder zugleich, daß es in einem gestürzten Lande, wie Deutschland, entschiedener die Gemüter beherrschte als bei den Siegervölkern, deren durchschnittlicher Seelenzustand, eben vermöge des Sieges, weit konservativer war. Keineswegs empfanden sie den Krieg als den tiefen und scheidenden historischen Einschnitt, als der er uns erschien, sondern sahen in ihm eine glücklich abgelaufene Störung, nach deren Beendigung das Leben wieder in die Bahn einlenken mochte, aus welcher er es gestoßen. Ich beneidete sie darum. Ich beneidete insonderheit Frankreich um die Rechtfertigung und Bestätigung, die, wenigstens scheinbar, seiner bewahrend bürgerlichen Geistesverfassung durch den Sieg zuteil geworden war; um das Gefühl von Geborgenheit im Klassisch-Rationalen, das es aus dem Siege schöpfen durfte. Gewiß, ich hätte mich damals jenseits des Rheines wohler und mehr zu Hause gefühlt als bei uns, wo, wie gesagt, viel Neues, Verstörendes und Beängstigendes, mit dem ich mich jedoch von Gewissens wegen auseinanderzusetzen hatte, auf meine Weltanschauung eindrang, — und hier denke ich an die verworrenen Diskussionsabende in der Schwabinger Wohnung eines gewissen Sixtus Kridwiß, dessen Bekanntschaft ich im Schlaginhaufen'schen Salon gemacht, und auf den ich sofort zurück

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kommen werde, um hier nur vorläufig zu sagen, daß die bei ihm stattfindenden Zusammenkünfte und geistigen Beratungen, an denen ich mich aus purer Gewissenhaftigkeit öfters beteiligte, mir nicht wenig zusetzten, — während ich zugleich mit ganzer, tief erregter und oft entsetzter Seele der Geburt eines Werkes aus freundschaftlicher Nähe beiwohnte, das gewisser kühner und prophetischer Beziehungen zu jenen Erörterungen nicht entbehrte, sie auf höherer, schöpferischer Ebene bestätigte und verwirklichte .. . Füge ich nun hinzu, daß ich bei alledem noch mein Lehramt zu betreuen und meine Pflichten als Hausvater vor Vernachlässigung zu bewahren hatte, so wird man die Überanstrengung verstehen, die damals mein Teil war und zusammen mit einer kalorienarmen Ernährung mein Körpergewicht nicht wenig herabsetzte.
Auch dies sage ich nur zur Charakteristik der geschwinden, gefährlichen Zeitläufte und gewiß nicht, um die Teilnahme des Lesers auf meine unbeträchtliche Person zu lenken, welcher immer nur ein Platz im Hintergrunde dieser Memoiren gebührt. Meinem Bedauern darüber, daß mein mitteilender Eifer hie und da den Eindruck der Gedankenflucht erwecken muß, habe ich schon Ausdruck gegeben. Es ist jedoch ein irriger Eindruck, denn ich halte sehr wohl fest an meinen gedanklichen Vorsätzen und habe nicht vergessen, daß ich einen zweiten packenden und vielsagenden Vergleich, außer dem mit der »kleinen Seejungfer«, anführen wollte, dessen Adrian sich zur Zeit seiner quälendsten Leiden bediente.
»Wie mir zumute ist?« sagte er damals zu mir. »Ungefähr wie Johanni Martyr im ölkessel. Ziemlich genau so mußt du dir's vorstellen. Ich hocke als frommer Dulder im Schaff, unter dem ein lustiges Holzfeuer prasselt, gewissenhaft angefacht von einem Braven mit dem Handblasebalg; und vor den Augen kaiserlicher Majestät, die sich die Sache ganz aus der Nähe ansieht — es ist der Kaiser Nero, mußt du wissen, ein prächtiger Großtürke mit einem italienischen Brokat im Rücken, — gießt mir der Henkersknecht mit Schamtasche und Flatterjacke aus einer gestielten Schöpfkelle das siedende Öl, worin ich an

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dächtig sitze, über den Nacken. Ich werde begossen nach der Kunst wie ein Braten, ein Höllenbraten, es ist sehenswert, und du bist eingeladen, dich unter die aufrichtig interessierten Zuschauer hinter der Schranke zu mischen, die Magistratspersonen, das geladene Publikum, in Turbanen teils und teils in gut altdeutschen Kappen mit Hüten noch obendrauf. Biedere Städter — und ihre betrachtsame Stimmung erfreut sich des Schutzes von Hellebardieren. Einer zeigt es dem andern, wie's einem Höllenbraten ergeht. Sie haben zwei Finger an der Wange und zwei unter der Nase. Ein Feister hebt die Hand, als wollte er sagen: >Bewahre Gott einen jeden!< Einfältige Erbautheit auf den Gesichtern der Frauen. Siehst du's? wir sind alle dicht beieinander, die Szene ist treulich angefüllt mit Figur. Das Hündchen Herrn Nero's ist auch mitgekommen, damit kein Fleckchen leer ist. Es hat ein zorniges Pinscher-Mienchen. Im Hintergrund sieht man die Türme, Spitzerker und Giebel von Kaisersaschern . ..«
Natürlich hätte er sagen sollen: von Nürnberg. Denn was er beschrieb, mit derselben vertrauten Sichtbarkeit beschrieb wie den Übergang des Nixenleibes in den Fischschwanz, so daß ich es erkannt hatte, lange bevor er mit seiner Beschreibung zu Ende gekommen war, es war das erste Blatt der Dürer'schen Holzschnitt-Serie zur Apokalypse. Wie hätte ich an den Vergleich, der mir damals seltsam hergeholt schien, und der mir dennoch sofort gewisse Ahnungen einflößte, nicht zurückdenken sollen, als sich mir später Adrians Vorhaben, das Werk, das er bewältigte, indem es ihn überwältigte, und für das seine Kräfte sich gesammelt hatten, während sie qualvoll daniederlagen, langsam enthüllte? Hatte ich nicht recht, zu sagen, daß die depressiven und produktiv gehobenen Zustände des Künstlers, Krankheit und Gesundheit, keineswegs scharf getrennt gegeneinander stehen? Daß vielmehr in der Krankheit, und gleichsam unter ihrem Schutz, Elemente der Gesundheit am Werke sind und solche der Krankheit geniewirkend in die Gesundheit hinübergetragen werden? Es ist nicht anders, ich danke die Einsicht einer Freundschaft, die mir viel Kummer

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und Schrecken bereitet, mich stets aber auch mit Stolz erfüllt hat: Genie ist eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft.
Die Konzeption des apokalyptischen Oratoriums, die heimliche Beschäftigung damit, reicht also weit zurück in eine Zeit scheinbar völliger Erschöpfung von Adrians Lebenskräften, und die Vehemenz und Schnelligkeit, mit der es danach, in wenigen Monaten, zu Papier gebracht wurde, gab mir immer die Vorstellung ein, als sei jener Elendszustand eine Art von Refugium und Versteck gewesen, in das seine Natur sich zurückzog, um unbelauscht, unbeargwöhnt, in ausgeschalteter, von unserem Gesundheitsleben schmerzhaft abgesonderter Verborgenheit Entwürfe zu hegen und zu entwickeln, zu denen gemeines Wohlsein gar nicht den abenteuerlichen Mut verleiht, und die gleichsam aus dem Unteren geraubt, von dorther mitgebracht und zutage getragen sein wollen. Daß sich mir, was er vorhatte, nur schrittweise, von Besuch zu Besuch, enthüllte, sagte ich schon. Er schrieb, skizzierte, sammelte, studierte und kombinierte; das konnte mir nicht verborgen bleiben, mit inniger Genugtuung nahm ich es wahr. Vortastende Erkundigungen stießen durch Wochen noch auf'eine halb spielerische, halb ein nicht geheueres Geheimnis scheu und ärgerlich schützende Verschwiegenheit und Abwehr, auf ein Lachen bei zusammengezogenen Brauen, auf Redensarten wie: »Laß du den Vorwitz und halte dein Seelchen rein!« Oder: »Immer erfährst du, mein Guter, davon noch früh genug.« Oder, deutlicher und zum Eingeständnis etwas bereiter: »Ja, da brauen heilige Greuel. Das theologische Virus bringt man, scheint's, nicht so leicht aus dem Blut. Unversehens gibt es ein stürmisches Rezidiv.«
Der Wink bestätigte Vermutungen, die mir bei der Beobachtung seiner Lektüre aufgestiegen waren. Auf seinem Arbeitstisch fand ich eine wunderliche Scharteke: eine aus dem dreizehnten Jahrhundert stammende französische Versübertragung der Paulus-Vision, deren griechischer Text dem vierten Jahrhundert angehört. Auf meine Frage, woher ihm denn das gekommen, antwortete er:

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»Die Rosenstiel hat es mir besorgt. Nicht das erste Curiosum, das &ie für mich aufgestöbert hat. Ein umgetanes Frauenzimmer. Ihr ist nicht entgangen, daß ich für Leute, die miedergestiegen< sind, was übrighabe. Ich meine: niedergestiegen zur Hölle. Das schafft Familiarität zwischen so weit auseinanderstehenden Figuren wie Paulus und dem Äneas des Vergil. Erinnerst du dich, daß Dante sie brüderlich zusammen nennt, als zweie, die drunten gewesen?« Ich erinnerte mich. »Leider«, sagte ich, »kann deine filia hospitalis dir das nicht vorlesen.«
»Nein«, lachte er, »fürs Alt-Französische muß ich meine eigenen Augen brauchen.«
Zur Zeit nämlich, als er seine Augen nicht hatte brauchen können, als der Schmerzensdruck über ihnen und in ihrer Tiefe ihm das Lesen unmöglich gemacht, hatte Clementine Schweigestill ihm öfters vorlesen müssen, und zwar Dinge, die dem freundlichen Landmädchen sonderbar genug — und auch wieder nicht unpassend vom Munde gingen. Ich selbst hatte das gute Kind bei Adrian in der Abtsstube betroffen, wie sie dem im Bernheimer-Stuhl Ruhenden, ihrerseits sehr geraden Rükkens im Savonarola-Sessel vor dem Schreibtisch sitzend, in einem rührend schwerfälligen und gespreizt hochdeutschen Volksschul-Tonfall aus einem stockfleckigen Pappgebinde, das wohl ebenfalls durch die findige Rosenstiel ins Haus gekommen war, die ekstatischen Erlebnisse der Mechthild von Magdeburg vorlas. Still hatte ich mich in den Winkel, auf die Eckbank gesetzt und noch eine Zeitlang mit Erstaunen diesem fromm-abseitigen und stümpernd-exzentrischen Vortrag gelauscht.
Da erfuhr ich denn, daß es öfters so war. In ihrer bäuerlich keuschen Tracht, die von geistlicher Überwachung zeugte, einem Habit aus olivgrünem Wollstoff, dessen hochgeschlossene, mit kleinen, dicht beieinanderstehenden Metallknöpfen besetzte, die jugendliche Büste verflachende Taille in spitzem Zipfel auf den weit angereihten und fußlangen Rock fiel, und zu dem sie als einzigen Schmuck unter der Halsrüsche eine

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Kette aus alten Silbermünzen trug, saß die braunäugige Maid bei dem Leidenden und las ihm mit litaneiender Schulmädchenbetonung aus Schriften vor, gegen die gewiß der Herr Pfarrer nichts einzuwenden gehabt hätte: der frühchristlichen und mittelalterlichen Visionsliteratur und Jenseitsspekulation. Dann und wann steckte wohl Mutter Schweigestill den Kopf durch die Tür, um nach der Tochter zu sehen, die sie allenfalls im Hause gebraucht hätte, nickte aber den beiden freundlich billigend zu und zog sich wieder zurück. Oder sie setzte sich auch wohl für zehn Minuten neben die Tür auf einen Stuhl, um zuzuhören, worauf sie geräuschlos wieder verschwand. Waren es nicht die Entrückungen der Mechthild, die Clementine rezitierte, so waren es die der Hildegard von Bingen. Waren es diese nicht, so war es eine Verdeutschung der >Historia Ecclesiastica gentis Anglorum< des gelehrten Mönches Beda Venerabilis, eines Werkes, in dem ein gut Teil der keltischen Jenseits-Phantasien, der Visionserlebnisse aus irisch-angelsächsischer christlicher Frühzeit überliefert ist. Dieses ganze ekstatische, das Gericht verkündende, die Furcht vor ewiger Strafe pädagogisch schürende Schrifttum von den vor- und frühchristlichen Eschatologien bildet eine überaus dichte, von wiederkehrenden Motiven erfüllte Überlieferungssphäre, in die Adrian sich einschloß, um sich für ein Werk zu stimmen, das alle ihre Elemente in einem Brennpunkt sammelt, sie in später künstlerischer Synthese drohend zusammenfaßt und nach unerbittlichem Auftrag der Menschheit den Spiegel der Offenbarung vor Augen hält, damit sie darin erblicke, was nahe herangekommen.
»Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist erwacht über dich; siehe, es kommt. Es gehet schon auf und bricht daher über dich, du Einwohner des Landes.« Diese Worte, die Leverkühn seinen testis, den Zeugen, den Erzähler, in einer geisterhaften, auf liegenden Fremd-Harmonien ruhenden, aus reinen Quarten- und verminderten Quintenschritten gefügten Melodik verkünden läßt, und die dann den Text jenes kühn-archaischen Responsoriums abgeben, das sie in zwei vierstimmigen,

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gegeneinander bewegten Chören unvergeßlich wiederholt, — diese Worte gleich gehören gar nicht der Johannes-Apokalypse an; sie entstammen einer anderen Schicht, der Prophetie des babylonischen Exils, den Geschichten und Lamentationen des Hesekiel, zu denen übrigens das geheimnisvolle Sendschreiben von Patmos, aus der Zeit Nero's, im Verhältnis seltsamster Abhängigkeit steht. So ist das »Verschlingen des Buches«, das auch Albrecht Dürer kühnlich zum Gegenstand eines seiner Holzschnitte gemacht hat, fast wortgetreu von Hesekiel entliehen, bis auf die Einzelheit,, daß es (oder der »Brief«, darinnen Klage, Ach und Wehe geschrieben steht) im Munde des gehorsam Essenden so süß als Honig schmeckt. So auch ist die große Erzhure, das Weib auf dem Tiere, bei deren Schilderung der Nürnberger sich heitererweise geholfen hat, indem er die mitgebrachte Portraitstudie einer venezianischen Kurtisane dazu benutzte, bei Ezechiel sehr weitgehend und in ganz verwandten Wendungen vorgezeichnet. Tatsächlich gibt es eine apokalyptische Kultur, die den Ekstatikern bis zu einem gewissen Grade feststehende Gesichte und Erlebnisse überliefert, — so sehr es als psychologische Merkwürdigkeit anmuten mag, daß einer nachfiebert, was andere vorgefiebert, und daß man unselbständig, anleiheweise und nach der Schablone verzückt ist. Dennoch ist dies der Sachverhalt, und ich weise auf ihn hin im Zusammenhang mit der Feststellung, daß Leverkühn bei seinem inkommensurablen Chorwerk sich textlich keineswegs an die Johannes-Apokalypse allein gehalten, sondern sozusagen jenes ganze seherische Herkommen, von dem ich sprach, in sein Werk hineingenommen hat, so daß es auf die Creation einer neuen und eigenen Apokalypse, gewissermaßen auf ein Resume aller Verkündigungen des Endes hinausläuft. Der Titel >Apocalipsis cum figuris< ist eine Huldigung an Dürer und will wohl das Visuell-Verwirklichende, dazu das Graphisch-Minutiöse, die dichte Gefülltheit des Raumes mit phantastisch-exakter Einzelheit betonen, die beiden Werken gemeinsam sind. Aber es fehlt viel, daß Adrians ungeheueres Fresko den fünfzehn Illustrationen des Nürnbergers programmatisch

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folgte. Es legt zwar seinen furchtbar-kunstvollen Klängen viele Worte des geheimnisvollen Dokumentes unter, das auch jenen inspirierte; aber er hat den Spielraum der musikalischen Möglichkeiten, der chorischen, rezitativischen, ariosen, erweitert, indem er sowohl manches aus den düsteren Partien des Psalters, zum Beispiel jenes durchdringende »Denn meine Seele ist voll Jammers und mein Leben nahe bei der Hölle«, als auch die ausdrucksvollsten Schreckbilder und Denunziationen der Apokryphen, ferner gewisse heute unsäglich anzüglich wirkende Fragmente aus Jeremias' Klageliedern, dazu noch Entlegeneres in seine Komposition einbezog, was alles dazu beitragen muß, den Gesamteindruck des Sichauftuns der anderen Welt, des Hereinbrechens der Abrechnung zu erzeugen, einer Höllenfahrt, worin die Jenseitsvorstellungen früher, schamanenhafter Stufen und die von Antike und Christentum bis zu Dante entwickelten visionär verarbeitet sind. Von Dante's Gedicht hat Leverkühns tönendes Gemälde viel, noch mehr von jener körperstrotzend übervölkerten Wand, auf welcher Engel hier in die Posaunen des Untergangs stoßen, dort Charons Nachen sich seiner Last entlädt, die Toten auferstehen, die Heiligen anbeten, Dämonenmasken den Wink des schlangengegürteten Minos erwarten, der Verdammte, üppig in Fleisch, von grinsenden Söhnen des Pfuhls umschlungen, getragen, gezogen, gräßliche Abfahrt hält, indem er ein Auge mit der Hand bedeckt und mit dem anderen entsetzensvoll ins ewige Unheil starrt, nicht weit von ihm aber die Gnade zwei Sünderseelen noch aus dem Falle ins Heil emporzieht, — kurzum, von dem Gruppen- und Szenenaufbau des Jüngsten Gerichts.
Man verzeihe es dem Manne der Bildung, der ich nun einmal bin, wenn er von einem ihm beängstigend nahestehenden Werk zu sprechen versucht, indem er es mit gegebenen und vertrauten Kulturmomenten in Vergleich setzt. Es dient das der Beruhigung, deren ich noch heute bedarf, wenn ich davon spreche, wie ich ihrer bedurfte zu der Zeit, als ich mit Schrekken, Staunen, Beklemmung, Stolz seiner Entstehung beiwohnte, — ein Erlebnis, das wohl meiner liebenden Ergebenheit für

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seinen Urheber zukam, aber eigentlich über meine seelischen Möglichkeiten ging, so daß ich bis zum Erzittern davon hergenommen wurde. Nach jenen ersten Zeiten der Verheimlichung und Abwehr nämlich eröffnete er dem Kindheitsfreunde sehr bald den Zugang zu seinem Tun und Treiben, so daß ich bei jedem Besuch in Pfeiffering — und natürlich sprach ich dort vor, sooft ich konnte, fast immer über den Samstag und Sonntag — neue Partien des Entstehenden aufnehmen durfte: Zuwüchse und Pensa eines zuweilen unglaublichen Umfangs, von Mal zu Mal, so daß, besonders wenn man die strengen Gesetzen sich unterwerfende geistige und technische Kompliziertheit der Faktur in Anschlag brachte, einen an bürgerlich mäßigen und gesetzten Arbeitsfortschritt Gewöhnten der bleiche Schrecken davor ankommen konnte. Ja, ich gestehe, daß zu meiner, mag sein einfältigen, ich möchte sagen: kreatürlichen Furcht vor dem Werk die ganz und gar unheimliche Rapidität, mit der es zustande kam — der Hauptsache nach in viereinhalb Monaten, in einer Zeitspanne, die man ihm allenfalls als mechanischer Schreiberei, als bloßer Abschrift zugemessen hätte —, beinahe das meiste beitrug.
Offensichtlich und eingestandenermaßen lebte dieser Mensch damals in einer Hochspannung durchaus nicht rein beglückender, sondern hetzender und knechtender Eingebung, in der das Aufblitzen und Sichstellen eines Problems, der Kompositionsaufgabe, wie er ihr von jeher nachgehangen hatte, eins war mit ihrer erleuchtungsartigen Lösung, und die ihm kaum Zeit ließ, den sich jagenden Ideen, die ihm keine Ruhe gönnten, ihn zu ihrem Sklaven machten, mit der Feder, dem Stifte zu folgen. Der Hinfälligste eben noch, arbeitete er zehn Stunden am Tage und darüber, nur unterbrochen durch eine kurze Mittagspause und hie und da einen Gang ins Freie, um die Klammermulde, auf den Zionshügel, — hastige Exkursionen, die mehr von Fluchtversuchen als von Erholung hatten, und bei denen man es seinen überstürzten, dann wieder stockenden Schritten ansah, daß sie nur eine andere Form der Rastlosigkeit waren. Ich habe es an manchem Samstagabend, den ich

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in seiner Gesellschaft verbrachte, wohl gesehen, wie wenig er seiner Herr, wie wenig imstande war, die Abspannung einzuhalten, die er im Gespräch mit mir über alltägliche oder doch indifferente Gegenstände willentlich gesucht hatte. Ich sehe ihn plötzlich aus lässiger Lage sich aufrichten, seinen Blick starr und lauschend werden, seine Lippen sich trennen und eine mir unwillkommene, anwandlungshafte Röte in seine Wangen steigen. Was war das? War es eine jener melodischen Erleuchtungen, denen er damals, ich möchte fast sagen: ausgesetzt war, und mit denen Mächte, von denen ich nichts wissen will, ihr Wort hielten, — das Aufgehen eines der in ihrer Plastik gewaltigen Themen in seinem Geist, von denen das apokalyptische Werk abundiert, und die darin immer sofort eine kältende Bemeisterung erfahren, sozusagen an die Kandare genommen, zu Reihen umgedacht, als Bausteine der Komposition behandelt werden? Ich sehe ihn mit einem gemurmelten »Sprich weiter! Sprich nur weiter!« an seinen Tisch treten, die Orchesterskizze aufreißen, so daß wirklich wohl ein heftig herumgeschleudertes Blatt dabei unten einriß, und mit einer Grimasse, deren Ausdrucksmischung ich nicht zu nennen versuche, die aber in meinen Augen die kluge und stolze Schönheit seines Gesichts'entstellte, dorthin blicken, wo vielleicht der Schreckenschor der vor den vier Reitern flüchtenden, strauchelnden, hingestürzten, überrittenen Menschheit entworfen, der greuliche, dem höhnisch meckernden Fagott übergebene Ruf des »Vogels Wehe« notiert, oder auch der antiphonartige Wechselgesang gefügt war, der gleich bei erster Kenntnisnahme so tief mein

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Herz ergriff, — die harte Chorfuge zu den Worten des Jeremias:

Wie murren denn die Leute im Leben also?
Ein jeglicher murre wider seine Sünde!
Und laßt uns forschen und prüfen unser Wesen
Und uns zum Herrn bekehren!
- - - - - - - - - -
Wir, wir haben gesündigt
Und sind ungehorsam gewesen;
Darum hast du billig nicht verschonet;
Sondern du hast uns mit Zorn überschüttet
Und verfolget und ohne Barmherzigkeit erwürget.
- - - - - - - - - -
Du hast uns zu Kot und Unflat gemacht
Unter den Völkern.

Ich nenne das Stück eine Fuge, und fugal mutet es an, doch ohne daß ehrsam das Thema wiederholt würde, sondern mit der Entwicklung des Ganzen wird dieses selber entwickelt, so daß ein Stil aufgelöst und gewissermaßen ad absurdum geführt wird, dem der Künstler sich zu unterwerfen scheint, — was nicht ohne Zurückdeutung auf die archaische Fugenform gewisser Canzonen und Ricercaren der Vor-Bach'schen Zeit geschieht, in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig definiert und festgehalten ist.
Hier- oder dorthin blickte er wohl, griff nach der Notenfeder, warf sie wieder beiseite, murmelte: »Gut, auf morgen« und kehrte mit noch immer geröteter Stirn zu mir zurück. Aber ich wußte oder befürchtete, daß er das Wort »Auf morgen« nicht halten, sondern sich nach der Trennung von mir zur Arbeit setzen und ausführen würde, was ihn im Gespräch so ungerufen überkommen hatte, — um dann mit zwei LuminalTabletten seinem Schlaf die Tiefe zu geben, die für seine Kürze aufkommen mußte, und bei Tagesanbruch wieder zu beginnen. Er zitierte:

Wohlauf, Psalter und Harfe!
Ich will frühe auf sein.

Denn er lebte in der Furcht, der Erleuchtungszustand, mit dem er gesegnet oder von dem er heimgesucht war, möchte ihm vorzeitig entzogen werden, und tatsächlich erlitt er kurz vor Abschluß des Werkes, diesem furchtbaren Schluß, der seinen ganzen Mut erforderte und der, weit entfernt von romantischer Erlösungsmusik, den theologisch negativen und gnadenlosen Charakter des Ganzen so unerbittlich bestätigt, — tatsächlich,

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sage ich, erlitt er gerade vor der Festlegung dieser übermäßig vielstimmigen, in weitester Lage sich heranwälzenden Klänge des Blechkörpers, die den Eindruck eines offenen Schlundes zu hoffnungslosem Versinken machen, einen über drei Wochen sich erstreckenden Rückfall in den Schmerzens- und Übelkeitszustand von vorher, eine Verfassung, in der ihm nach seinen eigenen Worten sogar die Erinnerung daran, was das sei: Komponieren, und wie man das mache, entschwunden war. Das ging vorüber, Anfang August 1919 arbeitete er wieder, und ehe dieser Monat, der viele sehr sonnenheiße Tage hatte, zu Ende ging, war alles getan. Die viereinhalb Monate, die ich dem Werk als Entstehungsfrist zuschrieb, gelten bis zu dem Beginn der Ermattungspause. Diese und die Schlußarbeit eingerechnet, waren es, staunenswert genug, sechs Monate, deren er für die Niederschrift der >Apocalipsis< in Skizzenform bedurfte.


XXXIV (Fortsetzung)

Und ist dies nun alles, was ich über das tausendfach verhaßte und mit Widerwillen umgangene, hundertfach aber doch auch schon geliebte und erhobene Werk des verewigten Freundes in seiner Biographie zu sagen habe? Doch nicht. So manches noch habe ich darüber auf dem Herzen, aber gleich hatte ich mir vorgenommen, die Eigenschaften und Charakterzüge, durch die es mich — versteht sich: auf eine bewunderungsvolle Art — bedrückte und verschreckte, besser gesagt: auf eine ängstliche Weise interessierte, — gleich, sage ich, hatte ich mir vorgenommen, dies alles im Zusammenhang mit jenen abstrakten Zumutungen zu kennzeichnen, denen ich bei den schon kurz berührten Diskussionen in der Wohnung des Herrn Sixtus Kridwiß ausgesetzt war. Waren es doch die Neuigkeitsergebnisse dieser Abende, die mir, zusammen mit der Beteiligung an Adrians einsamem Werk, die seelische Überanstrengung

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zufügten, in der ich damals lebte, und die mich tatsächlich gut vierzehn Pfund meines Körpergewichtes kosteten.
Kridwiß, Graphiker, Buchschmuck-Künstler und Sammler ostasiatischer Farbenholzschnitte und Keramik, ein Gebiet, über das er auch, eingeladen von dieser und jener kulturellen Vereinigung, in verschiedenen Städten des Reiches und sogar im Auslande kundige und gescheite Vorträge hielt, war ein kleiner, altersloser Herr von stark rheinhessischer Sprechweise und ungewöhnlicher geistiger Angeregtheit, der ohne feststellbare gesinnungsmäßige Bindung, rein neugierigerweise die Bewegungen der Zeit behorchte und dies und das, was ihm davon zu Ohren kam, als »scho' enorm wischtisch« bezeichnete. Er ließ es sich angelegen sein, seine Wohnung in der Schwabinger Martiusstraße, deren Empfangsraum mit reizenden chinesischen Malereien in Tusche und Farbe (aus der Sung-Zeit!) geschmückt war, zu einem Treffpunkt führender oder doch eingeweihter und am geistigen Leben beteiligter Köpfe zu machen, so viele davon die gute Stadt München eben in ihren Mauern barg, und arrangierte dort diskursive Herrenabende, intime Round-table-Sitzungen von nicht mehr als acht bis zehn Persönlichkeiten, zu denen man sich nach dem Abendessen, etwa um neun Uhr einfand, und die, ohne daß der Gastgeber es sich weiter viel Bewirtung hätte kosten lassen, rein auf das zwanglose Beisammensein, den Gedankenaustausch gestellt waren. Übrigens bewahrte dieser nicht immerfort intellektuelle Hochspannung; öfters glitt er ins Gemütlich-Alltäglich-Plauderhafte ab, schon aus dem Grunde, weil, dank Kridwißens gesellschaftlichen Neigungen und Verbindlichkeiten, das geistige Niveau der Teilnehmer denn doch etwas uneben war. So nahmen wohl an den Sitzungen zwei in München studierende Mitglieder des großherzoglich Hessen-Nassauischen Hauses teil, freundliche junge Leute, die der Hausherr mit einer gewissen Begeisterung »die schönen Prinsen« nannte, und auf deren Anwesenheit, wenn auch nur, weil sie so sehr viel jünger waren als wir alle, beim Gespräch einige Rücksicht zu nehmen war. Ich will nicht sagen, daß sie gestört hätten. Oft ging eine höhere Unterhal-

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tung unbekümmert über ihre Köpfe hinweg, wobei sie die bescheiden lächelnden oder auch ernsthaft staunenden Zuhörer machten. Irritierender für mich persönlich war die Gegenwart jenes dem Leser schon bekannten Paradoxenreiters, Dr. Chaim Breisacher, den ich, wie längst eingestanden, nicht leiden konnte, dessen Scharf- und Spürsinn aber bei solchen Gelegenheiten unentbehrlich schien. Daß auch Fabrikant Bullinger zu den Gebetenen gehörte, einzig durch seine hohe Steuerklasse legitimiert, über die schwerwiegendsten Kulturfragen schallend mitzuschwadronieren, ärgerte mich gleichfalls.
Ich will nur weitergehen und bekennen, daß ich mir eigentlich zu keinem von der Tischrunde so recht ein Herz fassen, keinem ein ungetrübtes Vertrauen entgegenbringen konnte, — wobei ich etwa Helmut Institoris ausnehme, der auch in dem Cirkel hospitierte, und mit dem mich ja durch seine Gattin freundschaftliche Beziehungen verbanden, — nur daß freilich seine Person nun wieder sorgenvolle Assoziationen anderer Art erweckte. Übrigens ist zu fragen, was ich gegen Dr. Unruhe, Egon Unruhe, haben konnte, einen philosophischen Paläozoologen, der in seinen Schriften die Tiefschichten- und Versteinerungskunde auf sehr geistvolle Weise mit der Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes verband, so daß in seiner Lehre, einem sublimierten Darwinismus, wenn man will, alles wahr und wirklich wurde, woran im Ernst zu glauben eine entwickelte Menschheit längst aufgehört hatte. Ja, woher mein Mißtrauen gegen den gelehrten und denkerisch hochbemühten Mann? Woher dasjenige gegen Professor Georg Vogler, den Literarhistoriker, der eine vielbeachtete Geschichte des deutschen Schrifttums unter dem Gesichtspunkt der Stammeszugehörigkeit geschrieben hatte, worin also der Schriftsteller nicht so geradehin als Schriftsteller und universell erzogener Geist, sondern als blut- und landschaftsgebundenes Echt-Produkt seines realen, konkreten, spezifischen, für ihn zeugenden und von ihm bezeugten Ursprungswinkels behandelt und gewertet wurde? Es war ja das alles sehr bieder, mannhaft, gediegen und kritisch dankenswert. Der

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Kunstgelehrte und Dürer-Forscher Professor Gilgen Holzschuher, auch ein Geladener, war mir auf ähnlich schwer zu rechtfertigende Weise nicht geheuer; und vollends galt dies für den öfters anwesenden Dichter Daniel Zur Höhe, einen in geistlich hochgeschlossenes Schwarz gekleideten hageren Dreißiger mit Raubvogel-Profil und von hämmernder Sprechweise, die etwa lautete: »Jawohl, jawohl, so übel nicht, o freilich doch, man kann es sagen!«, wobei er immerfort nervös und inständig mit dem Fußballen auf den Boden klopfte. Er liebte es, die Arme über der Brust zu kreuzen oder eine Hand napoleonisch im Busen zu bergen, und seine Dichterträume galten einer in blutigen Feldzügen dem reinen Geiste unterworfenen, von ihm in Schrecken und hohen Züchten gehaltenen Welt, wie er es in seinem, ich glaube einzigen Werk, den schon vor dem Kriege auf Büttenpapier erschienenen >Proklamationen<, beschrieben hatte, einem lyrisch-rhetorischen Ausbruch schwelgerischen Terrorismus, dem man erhebliche Wortgewalt zugestehen mußte. Der Signatar dieser Proklamationen war eine Wesenheit namens Christus imperator maximus, eine kommandierende Energie, die todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs warb, tagesbefehlartige Botschaften erließ, genießerisch-unerbittliche Bedingungen stipulierte, Armut und Keuschheit ausrief und sich nicht genugtun konnte in der hämmernden, mit der Faust aufschlagenden Forderung frag- und grenzenlosen Gehorsams. »Soldaten!« schloß die Dichtung, »ich überliefere euch zur Plünderung — die Welt!«
Dies alles war »schön« und empfand sich selber sehr stark als »schön«; es war »schön« auf eine grausam und absolut schönheitliche Weise, in dem unverschämt bezuglosen, juxhaften und unverantwortlichen Geist, wie eben Dichter ihn sich erlauben, — der steilste ästhetische Unfug, der mir vorgekommen. Helmut Institoris, natürlich, hatte viel dafür übrig, aber auch sonst erfreuten Autor und Werk sich ernstlichen Ansehens, und meine Antipathie gegen beide war ihrer selbst nicht so ganz sicher, da sie sich mitbestimmt wußte von meiner allgemeinen Gereiztheit durch den Kridwiß'schen Kreis und

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seine zumutungsvollen kulturkritischen Befunde, die zur Kenntnis zu nehmen doch ein geistiges Pflichtgefühl mich anhielt.
Ich werde versuchen, auf möglichst knappem Raum das Wesentliche dieser Ergebnisse zu umreißen, die unser Gastgeber mit vielem Recht »scho'enorm wischtisch« fand, und die Daniel Zur Höhe mit seinem stereotypen »O freilich doch, so übel nicht, jawohl, jawohl, man kann es sagen« begleitete, wenngleich sie nicht geradezu auf die Plünderung der Welt durch die hart eingeschworene Soldateska Christi imperatoris maximi hinausliefen. Das war, versteht sich, nur symbolische Poesie, während es der Konferenz um Ausblicke auf soziologische Wirklichkeit ging, um Feststellung des Seienden und Kommenden, die allerdings mit den asketisch-schönen Schrecknissen von Daniels Phantasien dies und das zu tun hatten. Ich habe es ja selbst weiter oben aus freien Stücken vermerkt, daß die Erschütterung und Zerstörung scheinbar gefestigter Lebenswerte durch den Krieg namentlich in den besiegten Ländern, die dadurch einen gewissen geistigen Vorsprung vor den anderen hatten, sehr lebhaft empfunden wurde. Es wurde sehr stark empfunden und objektiv festgestellt: der ungeheuere Wertverlust, den durch das Kriegsgeschehen das Individuum als solches erlitten hatte, die Achtlosigkeit, mit der heutzutage das Leben über den einzelnen hinwegschritt, und die sich denn auch als allgemeine Gleichgültigkeit gegen sein Leiden und Untergehen im Gemüte der Menschen niederschlug. Diese Achtlosigkeit, diese Indifferenz gegen das Schicksal des Einzelwesens konnte als gezüchtet erscheinen durch die eben zurückliegende vierjährige Blut-Kirmes; aber man ließ sich nicht täuschen: wie in manch anderer Hinsicht hatte auch hier der Krieg nur vollendet, verdeutlicht und zur drastischen Erfahrung gemacht, was längst vorher sich angebahnt, einem neuen Lebensgefühl sich zugrunde gelegt hatte. Da aber dies keine Sache des Lobes oder Tadels, sondern eine solche sachlicher Wahrnehmung und Feststellung war, und da in der leidenschaftslosen Erkenntnis des Wirklichen, eben aus Freude an der Erkenntnis, immer

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etwas von Gutheißung liegt, — wie hätte nicht eine vielseitige, ja umfassende Kritik an der bürgerlichen Tradition, womit ich meine: an den Werten der Bildung, Aufklärung, Humanität, an solchen Träumen wie der Hebung der Völker durch wissenschaftliche Gesittung, sich mit solchen Betrachtungen verbinden sollen? Daß es Männer der Bildung, des Unterrichts, der Wissenschaft waren, die diese Kritik übten — und zwar mit Heiterkeit, nicht selten unter selbstgefällig-geistesfrohem Gelächter übten —, verlieh der Sache noch einen besonderen, prickelnd beunruhigenden oder auch leicht perversen Reiz; und wohl überflüssig ist es dabei, zu sagen, daß die uns Deutschen durch die Niederlage zuteilgewordene Staatsform, die uns in den Schoß gefallene Freiheit, mit einem Wort: die demokratische Republik auch nicht einen Augenblick als ernstzunehmender Rahmen für das visierte Neue anerkannt, sondern mit einmütiger Selbstverständlichkeit als ephemer und für den Sachverhalt von vornherein bedeutungslos, ja als ein schlechter Spaß über die Achsel geworfen wurde.
Man zitierte Tocqueville (Alexis de), der gesagt hatte, aus der Revolution seien wie aus einer gemeinsamen Quelle zwei Ströme entsprungen: der eine für die Menschen zu freien Einrichtungen, der andere zur absoluten Macht. An »freie Einrichtungen« glaubte von den bei Kridwiß konversierenden Herren niemand mehr, zumal da die Freiheit sich innerlich selbst widerspreche, insofern als sie zu ihrer Selbstbehauptung gezwungen sei, die Freiheit, nämlich die ihrer Gegner, einzuschränken, das heißt sich selbst aufzuheben. Dies sei ihr Schicksal, wenn nicht von vornherein das Freiheitspathos der Menschenrechte über Bord geworfen werde, wozu die Zeit viel mehr Neigung zeige, als sich erst auf den dialektischen Prozeß einzulassen, der aus der Freiheit die Diktatur ihrer Partei mache. Auf Diktatur, auf Gewalt lief ohnehin alles hinaus, denn mit der Zertrümmerung der überlieferten staatlichen und gesellschaftlichen Formen durch die Französische Revolution war ein Zeitalter angebrochen, das, bewußt oder nicht, eingestanden oder nicht, auf die despotische Zwangsherrschaft über nivellierte,

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atomisierte, kontaktlose und, gleich dem Individuum, hilflose Massen zusteuerte.
»Recht wohl! Recht wohl! O freilich doch, man kann es sagen!« versicherte Zur Höhe und schlug dringlich mit dem Fuße auf. Natürlich konnte man es sagen, nur hätte man es, da es sich schließlich um die Beschreibung einer heraufziehenden Barbarei handelte, für mein Gefühl mit etwas mehr Bangen und Grauen sagen sollen und nicht mit jener heiteren Genugtuung, von der man allenfalls gerade noch hoffen konnte, daß sie der Erkenntnis der Dinge und nicht den Dingen selber galt. Ich will von dieser mich bedrückenden Heiterkeit ein anschauliches Bild geben. Niemand wird sich wundern, daß bei den Unterhaltungen dieser kulturkritischen Avantgarde ein sieben Jahre vor dem Krieg erschienenes Buch, die >Reflexions sur la violence< von Sorel, eine bedeutende Rolle spielte. Seine unerbittliche Vorhersage von Krieg und Anarchie, seine Kennzeichnung Europas als des Bodens der kriegerischen Kataklysmen, seine Lehre, daß die Völker dieses Erdteils sich immer nur in der einen Idee vereinigen könnten: Krieg zu führen, — dies alles berechtigte dazu, es das Buch der Epoche zu nennen. Was noch mehr dazu berechtigte, war seine Einsicht und Verkündigung, daß im Zeitalter der Massen die parlamentarische Diskussion sich zum Mittel politischer Willensbildung als gänzlich ungeeignet erweisen müsse; daß an ihre Stelle in Zukunft die Versorgung der Massen mit mythischen Fiktionen zu treten habe, die als primitive Schlachtrufe die politischen Energien zu entfesseln, zu aktivieren bestimmt seien. Dieses war in der Tat die krasse und erregende Prophetie des Buches, daß populäre oder vielmehr massengerechte Mythen fortan das Vehikel der politischen Bewegung sein würden: Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste, die mit Wahrheit, Vernunft, Wissenschaft überhaupt nichts zu tun zu haben brauchten, um dennoch schöpferisch zu sein, Leben und Geschichte zu bestimmen und sich damit als dynamische Realitäten zu erweisen. Man sieht wohl, daß das Buch seinen bedrohlichen Titel nicht umsonst trug, denn es handelte von der Gewalt als dem sieg-

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reichen Widerspiel der Wahrheit. Es ließ begreifen, daß das Schicksal der Wahrheit demjenigen des Individuums nahe verwandt, ja damit identisch, nämlich dasjenige der Entwertung war. Es eröffnete eine höhnische Kluft zwischen Wahrheit und Kraft, Wahrheit und Leben, Wahrheit und Gemeinschaft. Es gab implicite zu verstehen, daß dieser bei weitem der Vorrang vor jener gebühre, daß jene diese zum Ziel haben und daß zu kräftigen Abstrichen an Wahrheit und Wissenschaft, zum sacrificium intellectus bereit sein müsse, wer der Gemeinschaft teilhaftig sein wolle.
Und nun stelle man sich vor (ich komme zu dem anschaulichen Bilde, das ich zu geben versprach), wie diese Herren, Wissenschaftler selbst, Gelehrte, Hochschullehrer, Vogler, Unruhe, Holzschuher, Institoris und dazu Breisacher, sich an einer Sachlage ergötzten, die für mich so viel Schreckhaftes hatte, und die sie entweder schon als vollendet, oder doch als notwendig kommend betrachteten. Sie machten sich den Spaß, eine Gerichtsverhandlung zu imaginieren, in welcher eine jener dem politischen Antrieb, der Unterwühlung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung dienenden Massenmythen zur Diskussion stand, ihre Protagonisten sich gegen den Vorwurf der »Lüge« und »Fälschung« zu verteidigen hatten und nun also die Parteien, Kläger und Angeklagte, nicht sowohl aneinander gerieten, wie einander aufs lächerlichste verfehlten und aneinander vorbeiredeten. Das Groteske war der gewaltige Apparat wissenschaftlicher Zeugenschaft, den man aufgeboten hatte, um den Humbug als Humbug, als skandalösen Affront gegen die Wahrheit zu erweisen, da doch der dynamisch-geschichtsschöpferischen Fiktion, der sogenannten Fälschung, das hieß: dem gemeinschaftsbildenden Glauben von dieser Seite gar nicht beizukommen war und ihre Verfechter desto höhnisch-überlegenere Gesichter machten, je emsiger man sich mühte, sie auf ganz fremder und für sie irrelevanter Ebene, der wissenschaftlichen nämlich, der Ebene der biederen, objektiven Wahrheit zu widerlegen. Du lieber Gott, die Wissenschaft, die Wahrheit! Von Geist und Ton dieses Ausrufs waren die dramatischen

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Ausmalungen der Plaudernden beherrscht. Sie konnten sich nicht genugtun im Amüsement über das verzweifelte Anrennen von Kritik und Vernunft gegen den durch sie ganz unberührbaren, völlig unverletzlichen Glauben und wußten mit vereinten Kräften die Wissenschaft in ein solches Licht komischer Ohnmacht zu setzen, daß selbst die »schönen Prinsen« sich auf ihre kindliche Weise glänzend dabei unterhielten. Die vergnügte Tischrunde zögerte nicht, der Justiz, die das letzte Wort zu sprechen, das Urteil zu fällen hatte, die gleiche Selbstverleugnung zuzuschreiben, die sie selber übte. Eine Jurisprudenz, die im Volksempfihden zu ruhen und sich nicht von der Gemeinschaft zu isolieren wünschte, durfte es sich nicht erlauben, den Gesichtspunkt der theoretischen, gemeinschaftswidrigen sogenannten Wahrheit zu dem ihren zu machen; sie hatte sich als modern sowohl wie vaterländisch im modernsten Sinn zu bewähren, indem sie das fruchtbare falsum respektierte, seine Apostel freisprach und die Wissenschaft mit langer Nase abziehen ließ.
O freilich, freilich, gewiß doch, man konnte es sagen. Klopf, klopf.
Obgleich mir unwohl war in der Magengrube, durfte ich nicht den Spielverderber machen und mir von Widerwillen nichts anmerken lassen, sondern mußte in die allgemeine Heiterkeit einstimmen, so gut es ging, zumal ja diese nicht ohne weiteres Zustimmung, sondern, wenigstens vorderhand, nur lachend geistesfrohe Erkenntnis des Seienden oder Kommenden bedeutete. Ich schlug wohl einmal, »wenn wir einen Augenblick ernst sein wollten«, vor, zu überlegen, ob nicht ein Denker, dem die Nöte der Gemeinschaft sehr wohl am Herzen lägen, dennoch vielleicht besser täte, sich die Wahrheit und nicht die Gemeinschaft zum Ziele zu setzen, da dieser mittelbar und auf die Dauer mit der Wahrheit, und selbst der bitteren Wahrheit, besser gedient sei als mit einem Denken, das ihr auf Kosten der Wahrheit dienen zu sollen meine, in Wirklichkeit aber durch solche Verleugnung die Grundlagen echter Gemeinschaft von innen her aufs unheimlichste zersetze. Aber

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ich habe nie im Leben eine Bemerkung gemacht, die kompletter und widerhalloser unter den Tisch gefallen wäre als diese. Auch gebe ich zu, daß sie taktlos war, da sie nicht in die geistige Stimmung paßte und von einem natürlich bekannten, nur zu bekannten, bis zur Abgeschmacktheit bekannten Idealismus eingegeben war, der nur das Neue störte. Viel besser tat ich, im Verein mit der angeregten Tafelrunde dieses Neue zu betrachten und zu erkunden und, statt eine unfruchtbare, recht eigentlich langweilige Opposition dagegen zu machen, meine Vorstellungen dem Gange der Diskussion einzuschmiegen und mir in ihrem Rahmen ein Bild der kommenden, unter der Hand schon in der Entstehung begriffenen Welt zu machen — wie immer es nun dabei um die Gefühle meiner Magengrube bestellt sein mochte.
Es war eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige Welt, in welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren oder doch einen von dem der letzten Jahrhunderte ganz verschiedenen Sinn angenommen hatten, indem sie nämlich der bleichen Theorie entrissen und blutvoll relativiert, auf die weit höhere Instanz der Gewalt, der Autorität, der Glaubensdiktatur bezogen waren, — nicht etwa auf eine reaktionäre, gestrige oder vorgestrige Weise, sondern so, daß es der neuigkeitsvollen Rückversetzung der Menschheit in theokratisch-mittelalterliche Zustände und Bedingungen gleichkam. Das war sowenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, das heißt zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es: Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen. Die Voraussetzungslosigkeit der Forschung, der freie Gedanke, fern davon, den Fortschritt zu repräsentieren, gehörten vielmehr einer Welt der Zurückgebliebenheit und der Langenweile an. Dem Gedanken war Freiheit gegeben, die Gewalt zu rechtfertigen, wie vor siebenhundert Jahren die Vernunft frei gewesen war,

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den Glauben zu erörtern, das Dogma zu beweisen: dazu war sie da, und dazu war heute das Denken da oder würde es morgen sein. Die Forschung hatte allerdings Voraussetzungen, — und ob sie welche hatte! Es waren die Gewalt, die Autorität der Gemeinschaft, und zwar waren sie es mit solcher Selbstverständlichkeit, daß die Wissenschaft gar nicht auf den Gedanken kam, etwa nicht frei zu sein. Sie war es subjektiv durchaus — innerhalb einer objektiven Gebundenheit, so eingefleischt und naturhaft, daß sie in keiner Weise als Fessel empfunden wurde. Um sich deutlich zu machen, was bevorstand, und um sich der törichten Furcht davor zu entschlagen, mußte man sich nur erinnern, daß die Unbedingtheit bestimmter Voraussetzungen und sakrosankter Bedingungen niemals ein Hindernis für die Phantasie und die individuelle Kühnheit des Gedankens gewesen war. Im Gegenteil: gerade weil das geistig Uniforme und Geschlossene dem mittelalterlichen Menschen durch die Kirche von vornherein als absolut selbstverständlich gegeben gewesen, war er weit mehr Phantasiemensch gewesen als der Bürger des individualistischen Zeitalters, hatte er sich der persönlichen Einbildungskraft im einzelnen desto sicherer und sorgloser überlassen können.
O ja, die Gewalt schuf einen festen Boden unter den Füßen, sie war anti-abstrakt, und sehr gut tat ich, mir in Zusammenarbeit mit Kridwißens Freunden vorzustellen, wie das Alt-Neue auf dem und jenem Gebiet das Leben methodisch verändern werde. Der Pädagog zum Beispiel wußte, daß schon heute im Elementar-Unterricht die Neigung bestand, vom primären Erlernen der Buchstaben, des Lautierens abzugehen und sich der Methode des Wörter-Lernens zuzuwenden, das Schreiben an die konkrete Anschauung der Dinge zu knüpfen. Dies bedeutete gewissermaßen ein Abkommen von der abstraktuniversellen, sprachlich nicht gebundenen Buchstabenschrift, gewissermaßen die Rückkehr zu den Wortschriften der Urvölker. Heimlich dachte ich: Wozu überhaupt Wörter, wozu Schreiben, wozu Sprache? Radikale Sachlichkeit müßte sich an die Dinge halten, an diese allein. Und ich erinnerte mich an

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eine Satire von Swift, wo reformfreudige Gelehrte beschließen, zur Schonung der Lungen und um der Phrase zu entgehen, Wort und Rede überhaupt abzuschaffen und sich nur durch Vorzeigung der Dinge selbst zu unterhalten, die man allerdings, im Interesse der Verständigung, möglichst vollzählig auf dem Rücken mit sich würde herumtragen müssen. Die Stelle ist sehr komisch, besonders noch dadurch, daß es die Weiber, der Pöbel und die Analphabeten sind, die sich gegen die Neuerung auflehnen und darauf bestehen, in Worten zu schwatzen. Nun, meine Interlokutoren gingen auf eigene Hand mit ihren Vorschlägen nicht so weit wie jene Swift'schen Gelehrten. Sie gaben sich mehr die Miene distanzierter Beobachter, und als »enorm wischtisch« faßten sie die allgemeine und schon deutlich hervortretende Bereitschaft ins Auge, sogenannte kulturelle Errungenschaften kurzerhand fallenzulassen, um einer als notwendig und zeitgegeben empfundenen Vereinfachung willen, die man, wenn man wollte, als intentionelle Re-Barbarisierung bezeichnen konnte. Sollte ich meinen Ohren trauen? Ich mußte lachen und schrak dabei buchstäblich zusammen, als plötzlich die Herren in diesem Zusammenhang auf die dentistische Medizin und, ganz gegenständlich, auf Adrians und mein musikkritisches Symbol vom >toten Zahn< zu sprechen kamen! Ich glaube wirklich, ich hatte einen roten Kopf beim Mitlachen, als unter geistesfroher Heiterkeit die wachsende Neigung der Zahnärzte erörtert wurde, Zähne mit abgestorbenem Nerv kurzerhand auszureißen, da man zu dem Entschluß gekommen war, sie als infektiöse Fremdkörper zu betrachten — nach einer langen, mühevollen und ins Raffinierte gehenden Entwicklung der Wurzelbehandlungs technik im neunzehnten Jahrhundert. Wohlgemerkt — und es war namentlich Dr. Breisacher, der dies scharfsinnig und unter allgemeiner Zustimmung anmerkte: Der hygienische Gesichtspunkt hatte dabei mehr oder weniger als eine Rationalisierung der primär vorhandenen Tendenz zum Fallenlassen, Aufgeben, Abkommen und Vereinfachen zu gelten, — bei hygienischen Begründungen war jeder Ideologie-Verdacht am Platze. Zweifellos

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würde man auch die Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassehygienisch begründen, während es sich in Wirklichkeit — man wollte das gar nicht leugnen, sondern betonte es im Gegenteil — um weit tiefere Entschlüsse, um die Absage an alle humane Verweichlichung handeln würde, die das Werk der bürgerlichen Epoche gewesen war: um ein instinktives Sich-in-Form-Bringen der Menschheit für harte und finstere, der Humanität spottende Laufte, für ein Zeitalter umfassender Kriege und Revolutionen, das wohl hinter die christliche Zivilisation des Mittelalters weit zurückführen und eher die dunkle Epoche vor deren Entstehung, nach dem Zusammenbruch der antiken Kultur zurückbringen werde . . .


XXXIV (Schluß)

Wird man es verstehen, daß ein Mann bei der Verarbeitung solcher Neuigkeiten vierzehn Pfund Gewicht verlieren mag? Sicherlich hätte ich sie nicht eingebüßt, wenn ich an die Ergebnisse der Sitzungen bei Kridwiß nicht geglaubt hätte und der Überzeugung gewesen wäre, daß diese Herren Unsinn schwätzten. Aber das war ganz und gar nicht meine Meinung. Vielmehr verhehlte ich mir keinen Augenblick, daß sie mit anerkennenswerter Fühlsamkeit die Finger am Pulse der Zeit hatten und nach diesem Pulse wahr-sagten. Nur wäre ich —ich muß das wiederholen — so unendlich dankbar gewesen und hätte wahrscheinlich nicht vierzehn Pfund, sondern vielleicht nur sieben abgenommen, wenn sie selber etwas erschrockener über ihre Befunde gewesen wären und ihnen ein wenig moralische Kritik entgegengesetzt hätten. Sie hätten sagen mögen: »Unglücklicherweise hat es ganz den Anschein, als wollten die Dinge den und den Lauf nehmen. Folglich muß man sich ins Mittel legen, vor dem Kommenden warnen und das Seine tun,

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es am Kommen zu hindern.« Was sie aber, sozusagen sagten, war: »Das kommt, das kommt, und wenn es da ist, wird es uns auf der Höhe des Augenblicks finden. Es ist interessant, es ist sogar gut — einfach dadurch, daß es das Kommende ist, und es zu erkennen ist sowohl der Leistung wie des Vergnügens genug. Es ist nicht unsere Sache, auch noch etwas dagegen zu tun.« — So diese Gelehrten, unterderhand. Es war aber ein Schwindel mit der Freude an der Erkenntnis; sie sympathisierten mit dem, was sie erkannten und was sie, ohne diese Sympathie, wohl gar nicht erkannt hätten, das war die Sache, und daher, vor Ärger und Aufregung, mein Gewichtsverlust.
Jedoch ist alles, was ich da sage, nicht richtig. Durch meine pflichtschuldigen Besuche im Kridwiß'schen Kreise allein und die Zumutungen, denen ich mich willentlich dort aussetzte, hätte ich gar keine Abmagerung erfahren, weder um vierzehn Pfund noch auch nur um die Hälfte. Nie hätte ich mir jene Redereien am runden Tisch zu Herzen genommen, wie ich es tat, hätten sie nicht den kaltschnäuzig-intellektuellen Kommentar gebildet zu einem heißen Erlebnis der Kunst und der Freundschaft, — ich meine: zu dem Erlebnis der Entstehung eines befreundeten Kunstwerks — befreundet mir durch seinen Schöpfer, nicht durch sich selbst, das darf ich nicht sagen, dazu eignete ihm zuviel für meinen Sinn Befremdendes und Ängstigendes —, eines Werkes, das, einsam dort in dem allzu heimatlichen ländlichen Winkel fieberhaft schnell sich aufbauend, mit dem bei Kridwiß Gehörten in eigentümlicher Korrespondenz, im Verhältnis geistiger Entsprechung stand.
Wurde nicht dort am runden Tisch eine Kritik der Tradition auf die Tagesordnung gesetzt, die das Ergebnis der Zerstörung von Lebenswerten war, welche lange für unverbrüchlich gegolten, und war nicht ausdrücklich die Bemerkung gefallen — ich weiß nicht, von welcher Seite, Breisachers? Unruhe's? Holzschuhers? —, daß diese Kritik sich notwendig gegen herkömmliche Kunstformen und -gattungen, zum Beispiel gegen das ästhetische Theater kehren müsse, das im bürgerlichen

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Lebenskreis gestanden habe und eine Angelegenheit der Bildung gewesen sei? Nun denn, vor meinen Augen vollzog sich die Ablösung der dramatischen Form durch eine epische, wandelte das Musikdrama sich zum Oratorium, das Operndrama zur Opernkantate — und zwar in einem Geist, einer zum Grunde liegenden Gesinnung, die sehr genau mit den absprechenden Urteilen meiner Interlokutoren in der Martiusstraße über die Lage des Individuums und alles Individualismus in der Welt übereinstimmte: einer Gesinnung, will ich sagen, die, am Psychologischen nicht länger interessiert, auf das Objektive, auf eine Sprache drang, welche das Absolute, Bindende und Verpflichtende ausdrückte und sich folglich mit Vorliebe die fromme Fessel prä-klassisch strenger Formen auferlegte. Wie oft, bei der gespannten Beobachtung von Adrians Tun, mußte ich der frühen Einprägung gedenken, die wir Knaben von jenem redseligen Stotterer, seinem Lehrer, empfangen hatten: der Opponierung von »harmonischer Subjektivität« und »polyphonischer Sachlichkeit«. Der Weg um die Kugel, von dem in den quälend gescheiten Unterhaltungen bei Kridwiß die Rede gewesen war, dieser Weg, in dem Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft eins wurden, — hier sah ich ihn verwirklicht durch ein neuigkeitsvolles Zurückgehen über Bachs und Händeis bereits harmonische Kunst hinaus in die tiefere Vergangenheit echter Mehrstimmigkeit.
Ich bewahre einen Brief, den Adrian mir zu jener Zeit von Pfeiffering nach Freising schrieb — aus der Arbeit heraus an dem Lobgesang der »großen Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehend und vor dem Lamm« (siehe Dürers siebentes Blatt) —, einen Brief, in dem er nach meinem Besuch verlangte, und den er mit »Perotinus Magnus« unterzeichnet hatte. Ein vielsagender Scherz und eine spielerische Identifikation voller Selbstverspottung; denn dieser Perotinus war im zwölften Jahrhundert der Leiter der Kirchenmusik von Notre Dame und ein Sangesmeister, dessen kompositorische Anweisungen zur

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Höherentwicklung der jungen Kunst der Polyphonie führten. Mich erinnerte diese jokose Unterschrift: sehr stark an eine ebensolche Richard Wagners, der zur Zeit des >Parsifal< seinem Namen unter einem Brief den Titel »Oberkirchenrat« hinzufügte. Für den Nicht-Künstler ist es eine recht intrigierende Frage, wie ernst es dem Künstler mit dem ist, was ihm das Angelegentlich-Ernsteste sein sollte und zu sein scheint; wie ernst er sich selbst dabei nimmt und wieviel Verspieltheit, Mummschanz, höherer Jux dabei im Spiele ist. Wäre die Frage unberechtigt, wie hätte dann jener Großmeister des Musiktheaters sich beim feierlichsten Weihe-Werk einen solchen Spottnamen geben können? Bei Adrians Unterschrift empfand ich sehr Ähnliches; ja, mein Fragen, Sorgen und Bangen ging darüber hinaus und galt in der Stille meines Herzens geradezu der Legitimität seines Tuns, seinem zeitlichen Anrecht auf die Sphäre, in die er sich versenkte und deren Recreation er mit den äußersten, entwickeltsten Mitteln betrieb; kurz, es bestand in dem liebenden und angstvollen Verdacht eines Ästhetizismus, der meines Freundes Wort: das ablösende Gegenteil der bürgerlichen Kultur sei nicht Barbarei, sondern die Gemeinschaft, dem quälendsten Zweifel überlieferte.
Hier kann niemand mir folgen, der nicht die Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei, den Ästhetizismus als Wegbereiter der Barbarei in eigener Seele, wie ich, erlebt hat, — der ich diese Not freilich nicht aus mir selbst, sondern mit Hilfe der Freundschaft für einen teueren und hochgefährdeten Künstlergeist erlebte. Die Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit hat ihre Gefahren. Jene, nicht wahr?, diente kirchlichen Zwecken, hat aber vordem auch weniger zivilisierten, medizinmännischen, zauberischen gedient: zu Zeiten nämlich, als der Verwalter überirdischen Dienstes, der Priester, noch Medizinmann und Magier war. Ist zu leugnen, daß dies ein vorkultureller, ein barbarischer Zustand des Kultus war — und ist es verständlich oder nicht, daß die spätkulturelle, aus der Atomisierung Gemeinschaft ambitionierende Erneuerung des Kultischen zu Mitteln greift, die nicht nur dem Stadium

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seiner kirchlichen Sittigung, sondern auch seinem PrimitivStadium angehören? Die ungeheueren Schwierigkeiten, welche jede Einstudierung und Aufführung von Leverkühns >Apocalipsis< bietet, hängen ja eben hiermit unmittelbar zusammen. Man hat da Ensembles, die als Sprechchöre beginnen und erst stufenweise, auf dem Wege sonderbarster Übergänge, zur reichsten Vokal-Musik werden; Chöre also, die durch alle Schattierungen des abgestuften Flüsterns, geteilten Redens, Halbsingens bis zum polyphonsten Gesang gehen, — begleitet von Klängen, die als bloßes Geräusch, als magisch-fanatischnegerhaftes Trommeln und Gong-Dröhnen beginnen und bis zu höchster Musik reichen. Wie oft ist dieses bedrohliche Werk in seinem Drange, das Verborgenste musikalisch zu enthüllen, das Tier im Menschen wie seine sublimsten Regungen, vom Vorwurf des blutigen Barbarismus sowohl wie der blutlosen Intellektualität getroffen worden! Ich sage: getroffen; denn seine Idee, gewissermaßen die Lebensgeschichte der Musik, von ihren vor-musikalischen, magisch-rhythmischen Elementar-Zuständen bis zu ihrer kompliziertesten Vollendung in sich aufzunehmen, stellt es vielleicht nicht nur partiell, sondern als Ganzes jenem Vorwurf bloß.
Ich will ein Beispiel anführen, das meine humane Ängstlichkeit immer besonders affiziert hat und immer ein Gegenstand des Hohnes und Hasses einer feindseligen Kritik war. Dazu muß ich ausholen: Wir wissen alle, daß es das erste Anliegen, die früheste Errungenschaft der Tonkunst war, den Klang zu denaturieren, den Gesang, der ursprünglich-urmenschlich ein Heulen über mehrere Tonstufen hinweg gewesen sein muß, auf einer einzigen festzuhalten und dem Chaos das Tonsystem abzugewinnen. Gewiß und selbstverständlich: eine normierende Maß-Ordnung der Klänge war Voraussetzung und erste Selbstbekundung dessen, was wir unter Musik verstehen. In ihr stehengeblieben, sozusagen als ein naturalistischer Atavismus, als ein barbarisches Rudiment aus vormusikalischen Tagen, ist der Gleitklang, das Glissando, — ein aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht zu behandelndes Mit-

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tel, dem ich immer eine anti-kulturelle, ja anti-humane Dämonie abzuhören geneigt war. Was ich im Sinne habe, ist die Leverkühn'sche — man kann natürlich nicht sagen: Bevorzugung, aber doch ausnehmend häufige Verwendung des Gleitklanges, wenigstens in diesem Werk, der >Apokalypse<, deren Schreckensbilder allerdings den verführerischsten und zugleich legitimsten Anlaß zum Gebrauch des wilden Mittels bilden. Wie entsetzlich wirken an der Stelle, wo die vier Stimmen des Altars das Loslassen der vier Würgeengel verordnen, welche Roß und Reiter, Kaiser und Papst und ein Drittel der Menschheit mähen, die Posaunen-Glissandi, die hier das Thema vertreten, — dieses zerstörerische Durchfahren der sieben Zugordnungen oder Lagen des Instruments! Das Geheul als Thema — welches Entsetzen! Und welch akustische Panik geht aus von den wiederholt vorgeschriebenen Pauken-Glissandi, einer Ton oder Schallwirkung, ermöglicht durch die — hier während des Wirbels manipulierte — Verstellbarkeit der Maschinenpauke auf verschiedene Tonstufen. Die Wirkung ist äußerst unheimlich. Aber das Markerschütterndste ist die Anwendung des Glissando auf die menschliche Stimme, die doch das erste Objekt der Tonordnung und der Befreiung aus dem Urzustände des durch die Stufen gezogenen Heulens war, — die Rückkehr also in diesen Urstand, wie der Chor der >Apokalypse< sie bei Lösung des siebenten Siegels, dem Schwarzwerden der Sonne, dem Verbluten des Mondes, dem Kentern der Schiffe in der Rolle schreiender Menschen grausig vollzieht.
Man lasse mich hier doch, wenn ich bitten darf, ein Wort einschalten über die Behandlung des Chores in dem Werk meines Freundes, diese nie erprobte Auflockerung des Vokalkörpers ins gruppenmäßig geteilte und verschränkte Widereinander, ins Dramatisch-Dialogische und in Einzelrufe, die allerdings den Antwort-Schlag »Barrabam!« aus der MatthäusPassion zum klassisch entfernten Vorbild haben. Die >Apokalypse< verzichtet auf Orchester-Zwischenspiele; dafür gewinnt mehr als einmal der Chor einen ausgesprochen und erstaunlich orchestralen Charakter: so bei den Choral-Variationen, die

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den Lobgesang der den Himmel füllenden 144000 Auserwählten wiedergeben, wobei das Choralmäßige eben nur darin besteht, daß alle vier Stimmen ständig in demselben Rhythmus verlaufen, während das Orchester die reichsten kontrastierenden Rhythmen dazu- oder dagegensetzt. Die extrem polyphonen Härten dieses Stückes (und nicht dieses Stückes allein) haben viel Anlaß zu Hohn und Haß gegeben. Aber es ist ja nicht anders, man muß es hinnehmen, ich wenigstens nehme es in willigem Staunen hin: das ganze Werk ist von dem Paradoxon beherrscht (wenn es ein Paradoxon ist), daß die Dissonanz darin für den Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen steht, während das Harmonische und Tonale der Welt der Hölle, in diesem Zusammenhang also einer Welt der Banalität und des Gemeinplatzes, vorbehalten ist.
Aber ich wollte etwas anderes sagen. Ich wollte hinweisen auf die seltsame Klangvertauschung, die oft zwischen dem Vokal- und dem Instrumental-Part der >Apokalypse< statthat. Chor und Orchester stehen einander nicht als das Menschliche und das Dingliche klar gegenüber; sie sind ineinander aufgelöst: der Chor ist instrumentalisiert, das Orchester vokalisiert, — in dem Grade und zu dem Ende, daß tatsächlich die Grenze zwischen Mensch und Ding verrückt erscheint, was sicher der künstlerischen Einheitlichkeit zustatten kommt, da es doch — wenigstens für mein Gemüt — auch etwas Beklemmendes, Gefährliches, Bösartiges an sich hat. Um ein paar Einzelheiten aufzuweisen: Die Stimme der babylonischen Hure, des Weibes auf dem Tiere, mit welcher gebuhlt haben die Könige auf Erden, ist seltsam überraschender Weise dem graziösesten Koloratursopran übertragen, und ihre virtuosen Läufe gehen zuweilen mit vollkommen flötenhafter Wirkung in den Orchesterklang ein. Andererseits gibt die verschiedenartig gedämpfte Trompete eine groteske vox humana ab, und das tut auch das Saxophon, das in mehreren der kleinen Splitter-Orchester eine Rolle spielt, welche die Teufelsgesänge, den schändlichen Liederreigen der Söhne des Pfuhls begleiten. Adrians Fähigkeit zu spottender Nachahmung, die tief in der Schwermut seines

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Wesens wurzelt, wird hier produktiv in der Parodie verschiedenster musikalischer Stile, in denen der insipide Übermut der Hölle sich ergeht: Klänge des französischen Impressionismus, ins Lächerliche gezogen, bürgerliche Salonmusik, Tschaikowski, Music Hall, die Synkopen und rhythmischen Purzelbäume des Jazz — wie ein Ringelstechen geht das bunt glitzernd rundum: über der Grundsprache des Hauptorchesters nämlich, die, ernst, dunkel, schwierig, mit radikaler Strenge den geistigen Rang des Werkes behauptet.
Weiter! Ich habe noch so viel auf dem Herzen über das kaum schon erschlossene Vermächtnis meines Freundes, und mir ist, als stellte ich meine Bemerkungen am besten auch ferner unter den Gesichtspunkt eines Vorwurfs, dessen Erklärlichkeit ich zugebe, da ich mir doch eher die Zunge abbisse, bevor ich seine Berechtigung anerkennte: des Vorwurfs des Barbarismus. Man hat ihn erhoben gegen die Vereinigung des Ältesten mit dem Neuesten, die das Werk charakterisiert, und die doch mitnichten eine Tat der Willkür ist, sondern in der Natur der Dinge liegt: sie beruht, so möchte ich sagen, auf der Krümmung der Welt, die im Spätesten das Früheste wiederkehren läßt. So kannte die alte Tonkunst den Rhythmus nicht, wie die Musik ihn später verstand. Der Gesang war nach den Gesetzen der Sprache metrisiert, er verlief nicht in taktmäßig und periodisch gegliedertem Zeitmaß, sondern gehorchte eher dem Geiste freier Rezitation. Und wie steht es um den Rhythmus unserer, der jüngsten Musik? Ist nicht auch er dem Sprachakzent angenähert? Durch wechselvolle Überbeweglichkeit aufgelöst? Schon bei Beethoven gibt es Sätze von einer rhythmischen Freiheit, die Kommendes ahnen läßt. Bei Leverkühn fehlt nichts, als daß die Takteinteilung selbst aufgegeben wäre. Sie ist es nicht, ironisch-konservativerweise. Aber ohne Rücksicht auf Symmetrie und rein dem Sprachakzent angepaßt, wechselt tatsächlich der Rhythmus von Takt zu Takt. Ich sprach von Einprägungen. Es gibt solche, die, dem Verstand unbeachtlich, wie sie scheinen mögen, in der Seele fortwirken und ihren unterschwellig bestimmenden Einfluß üben. Nun, auch die Figur und

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das herrisch- ahnungslose musikalische Betreiben jenes Kauzes über See, von dem ein anderer Kauz, Adrians Lehrer, uns in unserer Jugend erzählt, und über den mein Genosse sich auf dem Heimweg mit so hochmütigem Beifall geäußert hatte, — auch die Geschichte dieses Johann Conrad Beißel war eine solche Einprägung. Warum sollte ich mich stellen, als hätte ich nicht schon längst, nicht wiederholt schon an den strikten Schulmeister und Neubeginner der Sangeskunst zu Ephrata überm Meere gedacht? Eine Welt liegt zwischen seiner naiv beherzten Pädagogik und dem bis an die Grenzen musikalischer Gelehrsamkeit, Technik, Geistigkeit vorgetriebenen Werke Leverkühns. Und doch geht für mich, den Befreundet-Wissenden, der Geist des Erfinders der »Herren- und Dienertöne« und der musikalischen Hymnen-Rezitation gespenstisch darin um.
Trage ich mit dieser intimen Bemerkung zur Erklärung des mir so wehetuenden Vorwurfs bei, den ich zu erklären suche, ohne ihm das geringste Zugeständnis zu machen: des Vorwurfs des Barbarismus? Er hat wohl eher zu tun mit einem gewissen Einschlag von eisig anrührender Massen-Modernität in diesem Werk religiöser Vision, das das Theologische fast nur als Richten und Schrecken kennt, — einem Einschlag von stream-line, um das insultierende Wort zu wagen. Man nehme den testis, den Zeugen und Erzähler des grausamen Geschehens, »Ich, Johannes« also, den Beschreiber der Tiere des Abgrunds mit Löwen-, Kalbs-, Menschen- und Adlerköpfen, — diese Partie, die traditionsgemäß einem Tenor, diesmal aber einem solchen von fast kastratenhafter Höhe zugeschrieben ist, dessen kaltes Krähen, sachlich, reporterhaft, in schauerlichem Gegensatz zu dem Inhalt seiner katastrophalen Mitteilungen steht. Als im Jahre 1926, bei dem Fest der internationalen Gesellschaft für neue Musik< in Frankfurt am Main die >Apocalipsis< ihre erste und vorläufig letzte Auf führung (unter Klemperer) erlebte, wurde der äußerst schwierige Part mit Meisterschaft von einem Tenoristen eunuchalen Typs namens Erbe gesungen, dessen durchdringende Ansagen sich tatsächlich wie »neueste Berichte vom Weltuntergang« ausnahmen. Das war

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durchaus im Geiste des Werkes, der Sänger hatte diesen mit großer Intelligenz erfaßt. — Oder man nehme, als ein anderes Beispiel technischen Komforts im Entsetzen, die LautsprecherWirkungen (in einem Oratorium!),die der Komponist an verschiedenen Stellen vorgeschrieben hat, und die eine sonst nie bewerkstelligte räumlich-akustische Abstufung erzielen: dergestalt, daß durch den Verstärker einiges in den Vordergrund gebracht wird, anderes als Fern-Chor, Fern-Orchester zurücktritt. Man halte daneben noch einmal die allerdings sehr gelegentlichen, zu rein infernalischen Zwecken benutzten Jazz-Klänge, und man wird mir die schneidende Bezeichnung »streamlined« zugute halten für ein Werk, das nach seiner geistig-seelischen Grundstimmung mit >Kaisersaschern< mehr zu tun hat als mit moderner Schnittigkeit der Gesinnung, und dessen Wesen ich — mit gewagtem Wort — eine explodierende Altertümlichkeit nennen möchte. Seelenlosigkeit! Ich weiß wohl, dies ist es im Grunde, was diejenigen meinen, die das Wort >Barbarismus< gegen Adrians Schöpfung im Munde führen. Haben sie je, sei es auch nur mit dem lesenden Auge, gewissen lyrischen Partien —oder darf ich nur sagen: Momenten? — der >Apokalypse< gelauscht, Gesangsstellen, von Kammerorchester begleitet, die einem Härteren, als ich es bin, die Tränen in die Augen treiben könnten, da sie wie eine inständige Bitte um Seele sind? Man verzeihe mir die gewissermaßen ins Blaue gerichtete Polemik, aber Barbarei, Unmenschlichkeit sehe ich darin, ein solches Verlangen nach Seele — das Verlangen der kleinen Seejungfrau — Seelenlosigkeit zu nennen!
Ich schreibe es in ergriffener Abwehr nieder, — und eine andere Ergriffenheit packt mich: die Erinnerung an das Pandämonium des Lachens, das Höllengelächter, das, kurz, aber gräßlich, den Abschluß des ersten Teils der >Apocalipsis< bildet. Ich hasse, liebe und fürchte es; denn — man verzeihe dies allzu persönliche »denn«! — immer habe ich Adrians Neigung zum Lachen gefürchtet, der ich, anders als Rüdiger Schildknapp, stets schlecht zu sekundieren wußte, — und dieselbe Furcht, die

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selbe scheue und sorgende Unbeholfenheit empfinde ich bei diesem durch fünfzig Takte hinfegenden, mit dem Gekicher einer Einzelstimme beginnenden und rapide um sich greifenden, Chor und Orchester erfassenden, unter rhythmischen Umstürzen und Konterkarierungen zum Tutti-Fortissimo grauenhaft anschwellenden, überbordenden, sardonischen Gaudium Gehennas, dieser aus Johlen, Kläffen, Kreischen, Meckern, Röhren, Heulen und Wiehern schauderhaft gemischten Salve von Hohn- und Triumphgelächter der Hölle. So sehr verabscheue ich, an und für sich genommen, diese durch ihre Stellung im Ganzen noch besonders hervorgehobene Episode, diese Windsbraut infernalischer Lachlust, daß ich mich kaum überwunden hätte, sie hier zur Sprache zu bringen, wenn nicht gerade sie auch wieder, im Zusammenhang, mir das tiefste Geheimnis der Musik, welches ein Geheimnis der Identität ist, auf eine das Herz stockenlassende Weise offenbart hätte.
Denn das Höllengelächter am Schlüsse des ersten Teils hat ja sein Gegenstück in dem so ganz und gar wundersamen Kinderchor, der, von einem Teilorchester begleitet, sogleich den zweiten eröffnet,—einem Stück kosmischer Sphärenmusik, eisig, klar, gläsern-durchsichtig, zwar herb dissonant, dabei aber von einer, ich möchte sagen: unzugänglich-überirdischen und fremden, das Herz mit Sehnsucht ohne Hoffnung erfüllenden Lieblichkeit de,s Klanges. Und dieses Stück, das auch Widerstrebende gewonnen, gerührt, entrückt hat, ist für den, der Ohren hat, zu hören, und Augen, zu sehen, nach seiner musikalischen Substanz das Teufelsgelächter noch einmal! Überall ist Adrian Leverkühn groß in der Verungleichung des Gleichen. Man kennt seine Art, ein Fugenthema schon bei erster Beantwortung rhythmisch so zu modifizieren, daß es trotz strikt bewahrter Thematik als Wiederholung nicht mehr erkennbar ist. So hier — aber nirgends so tief, geheim und groß wie hier. Jedes Wort, das die Idee des >Hinüber<, der Verwandlung mystischen Sinnes, also der Wandlung, anklingen läßt: Transformation, Transfiguration, ist hier als genau zu begrüßen. Das zuvor vernommene Schrecknis ist zwar in dem unbeschreiblichen Kinderchor

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in eine gänzlich andere Lage übertragen zwar völlig uminstrumentiert und umrhythmisiert; aber in dem sirrenden, sehrenden Sphären- und Engelsgetön ist keine Note, die nicht, streng korrespondierend, auch in dem Höllengelächter vorkäme.
Das ist Adrian Leverkühn ganz. Es ist ganz die Musik, die er repräsentiert, und die Stimmigkeit ist als Tiefsinn, die zum Geheimnis erhobene Berechnung. So hat eine schmerzhaft auszeichnende Freundschaft mich die Musik zu sehen gelehrt, obgleich ich, der eigenen schlichten Natur nach, vielleicht gern etwas anderes in ihr gesehen hätte.


XXXV

Die neue Ziffer steht einem Abschnitt zu Häupten, der den Bericht von einem Trauerfall in meines Freundes Lebensbereich, einer menschlichen Katastrophe bringen soll, — aber, mein Gott, welcher Satz, welches Wort, das ich hier geschrieben, wäre denn nicht vom Katastrophalen umwittert, das unser aller Lebensluft geworden ist? Welches erzitterte nicht insgeheim, wie nur zu oft die Hand, die es schrieb, von den Vibrationen der Katastrophe, auf die meine Erzählung zustrebt, und zugleich derjenigen, in deren Zeichen die Welt — zum mindesten die humane, die bürgerliche Welt heute steht?
Hier handelt es sich um eine intim menschliche, von der Außenwelt kaum beachtete Katastrophe, zu deren Erfüllung vieles zusammenkam: männliche Schurkerei, weibliche Schwäche, weiblicher Stolz und berufliches Mißlingen. Es sind nun zweiundzwanzig Jahre, daß, beinahe vor meinen Augen, Clarissa Rodde, die Schauspielerin, Schwester der ebenfalls sichtlich gefährdeten Ines, zugrunde ging: Nach Ablauf der Winter-Saison 1921-22, im Mai, nahm sie sich zu Pfeiffering, im Hause ihrer Mutter und ohne viel Rücksicht auf diese, hastig und entschlossen mit dem Gifte das Leben, das sie eben für den Augenblick, wo ihr Stolz das Leben nicht mehr ertragen würde, von langer Hand her in Bereitschaft gehalten hatte.

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Ich will die Vorgänge, die zu ihrer uns alle erschütternden, doch im Grunde nicht zu tadelnden Schreckenstat führten, und die Umstände, unter denen sie die Tat vollzog, mit kurzen Worten hier wiedergeben. Angedeutet wurde schon, daß die Besorgnisse und Warnungen ihres Münchener Lehrers sich als nur zu stichhaltig erwiesen und Clarissa's künstlerische Laufbahn sich in Jahren noch immer nicht aus provinziellen Niederungen ins Höhere, Ansehnlich-Würdigere hatte erheben wollen. Von Elbing in Ostpreußen kam sie nach Pforzheim im Badischen, — das heißt: sie kam nicht, oder wenig, von der Stelle; die größeren Schauspielhäuser des Reiches kümmerten sich nicht um sie; sie war erfolglos oder ohne rechten Erfolg, aus dem einfachen und doch für den, den es angeht, so schwer zu fassenden Grunde, weil ihre natürliche Begabung nicht ihrem Ehrgeiz gleichkam, kein echtes und rechtes Theaterblut ihrem Wissen und Wollen zur Wirksamkeit verhalf und ihr auf der Bühne die Sinne und Herzen einer widerspenstigen Menge gewann. Es fehlte im Primitiven, — das nun einmal in aller Kunst, bestimmt aber in der des Komödianten das Entscheidende ist, — möge das nun zu Ehren oder Unehren der Kunst und insonderheit des Komödiantentums gesagt sein.
Etwas anderes kam hinzu, Clarissa's Existenz zu verwirren. Sie hielt, wie ich längst mit Bedauern bemerkt hatte, Bühne und Leben nicht wohl auseinander; sie war Schauspielerin und betonte die Schauspielerin, vielleicht eben weil sie keine rechte war, auch außerhalb des Theaters; der leiblich-persönliche Charakter dieser Kunst verführte sie zu einer Aufmachung ihrer zivilen Person mit Gesichtskosmetik, gepolsterten Frisuren und über-dekorativen Hüten, — einer völlig unnötigen und mißverständlichen Selbstinszenierung, die auf den freundschaftlich Empfindenden peinlich, auf den Bürger herausfordernd und auf die männliche Lüsternheit ermutigend wirkte, — ganz irrtümlich und gegen jede Absicht; denn Clarissa war das spöttischabweisendste, kühlste, keuscheste, nobelste Geschöpf, — mochte auch dieser Harnisch ironischen Hochmuts ein Schutzgebilde sein gegen Begehrungen ihrer Weiblichkeit, die sie nun doch

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wieder zur rechten Schwester Inessens Institoris, der Geliebt ten — oder ci devant-Geliebten Rudi Schwerdtfegers, machten.
Jedenfalls war nach jenem wohlkonservierten Sechziger, der sie zu seiner Maitresse hatte machen wollen, noch mancher Fant mit minder soliden Absichten ruhmlos bei ihr abgefahren, auch ein oder der andere öffentlich Urteilende, der ihr hätte nützlich werden können, sich aber natürlich für die Niederlage durch höhnische Herabsetzung ihrer Leistung rächte. Dann endlich ereilte das Schicksal sie doch und machte ihr Naserümpfen kläglich zuschanden: ich sage >kläglich<, weil der Bezwinger ihrer Magdschaft seines Sieges durchaus nicht würdig war und von Clarissa selbst auch keineswegs als würdig erachtet wurde: ein pseudo-dämonischer Spitzbart, Schürzenjäger, Coulissen-Habitue und Provinz-Viveur, der zu Pforzheim als Rechtsanwalt, Kriminal-Verteidiger wirkte, für seine Eroberung ausgestattet mit nichts als einer billig menschenverächterischen Suada, feiner Wäsche und viel schwarzen Haaren auf den Händen. Seiner Routine erlag eines Abends nach dem Spiel, wahrscheinlich im Weinrausch, die stachlichte, im Grunde aber unerfahrene und wehrlose Spröde, — zu ihrem größten Zorn, ihrer stürmischen Selbstverachtung; denn der Verführer hatte ihre Sinne zwar einen Augenblick hinzunehI men gewußt, aber sie empfand nichts für ihn außer dem Haß, den sein Triumph ihr erregte, und der eine gewisse Verwunderung ihres Herzens einschloß darüber, daß er sie, Clarissa Rodde, zu Falle zu bringen verstanden hatte. Durchaus, und mit Hohn dazu, verweigerte sie sich seitdem seiner Begierde, — in Ängsten nur immer, er möchte unter die Leute bringen, daß sie seine Geliebte gewesen, womit, als Druckmittel, der Mensch ihr damals schon drohte.
Unterdessen hatten sich der Gequälten, Enttäuschten, Gedemütigten erlösende menschliche und bürgerliche Aussichten eröffnet. Der sie ihr bot, war ein junger elsässischer Industrieller, der zuweilen in Geschäften von Straßburg nach Pforzheim herüberkam, in größerem Kreis ihre Bekanntschaft gemacht und sich sterblich in die schöngestaltige und spöttische

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Blondine verliebt hatte. Daß Clarissa damals nicht überhaupt ohne Engagement, sondern zum zweiten Mal, wenn auch nur für wenig dankbare Episodenrollen, dem Pforzheimer Stadttheater verpflichtet worden war, verdankte sie der Sympathie und Fürsprache eines älteren Dramaturgen, der, selbst literarisch bemüht, zwar auch nicht an ihre Berufenheit zur Bühne glauben mochte, aber ihren allgemeinen geistigen und menschlichen Rang zu schätzen wußte, welcher den im Gauklervölkchen üblichen so beträchtlich und oft so störend überstieg. Vielleicht, wer weiß? liebte er sie sogar und war nur zu sehr der Mann der Enttäuschung und des Verzichtes, um zu seiner stillen Neigung Mut zu fassen.
Zu Beginn der neuen Saison also begegnete Clarissa dem jungen Menschen, der versprach, sie aus einem verfehlten Beruf zu lösen und ihr dafür, als seiner Gattin, eine friedlich gesicherte, ja wohlbegüterte Existenz in zwar fremder, aber ihren Ursprüngen bürgerlich verwandter Sphäre zu bieten. Mit unverkennbarer Hoffnungsfreudigkeit, Dankbarkeit, ja Zärtlichkeit (die eine Frucht der Dankbarkeit war) berichtete sie brieflich an ihre Schwester und sogar an ihre Mutter über Henri's Werbung und auch über die Widerstände, auf die seine Wünsche vorläufig daheim noch stießen. Ungefähr des gleichen Alters wie seine Erwählte, Familiensohn —oder -söhnchen auch wohl —, Liebling seiner Mutter, Mitarbeiter seines Vaters im Geschäft, vertrat er zu Hause diese Wünsche mit Wärme und gewiß auch mit Willenskraft, — von der aber vielleicht ein Mehreres nötig gewesen wäre, um rasch das Vorurteil seines bürgerlichen Clans gegen die Schauspielerin, die Vagabundin, eine »boche« noch obendrein, zu überwinden. Henri hatte viel Verständnis für die Sorge der Seinen um seine Feinheit und Reinheit, für ihre Furcht, er möchte sich verplempern. Daß er dies keineswegs tat, indem er Clarissa heimführte, war nicht so leicht ihnen klarzumachen. Am besten geschah es, indem er sie persönlich in sein Elternhaus einführte, sie seinen liebenden Erzeugern, eifersüchtigen Geschwistern und urteilenden Tanten zur Prüfung vorstellte, und an der Bewilligung und Anordnung dieser Entrevue arbeitete

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er denn seit Wochen: in regelmäßigen Billets und bei wiederkehrenden Aufenthalten in Pforzheim unterrichtete er die Geliebte von seinen Fortschritten.
Clarissa war ihres Sieges gewiß. Ihre gesellschaftliche Ebenbürtigkeit, nur verdunkelt durch den Beruf, den aufzugeben sie bereit war, würde Henri's ängstlicher Sippe bei persönlicher Begegnung schon einleuchten. In ihren Briefen und mündlich bei einem Besuch in München nahm sie ihre offizielle Verlobung und die Zukunft vorweg, der sie entgegensah. Diese stellte sich ganz anders dar, als das entwurzelte, ins Geistige, Künstlerische strebende Patrizierkind sie sich erträumt hatte, aber sie war der Hafen, war das Glück, — ein bürgerliches Glück, das ihr offenbar annehmbarer erschien durch den Reiz der Fremdartigkeit, die nationale Neuheit des Lebensrahmens, in den sie versetzt werden sollte: sie malte sich das französische Geplauder ihrer zukünftigen Kinder aus.
Da erhob sich das Gespenst ihrer Vergangenheit, ein dummes, nichtssagendes und nichtswürdiges, aber freches und unbarmherziges Gespenst, gegen ihre Hoffnungen und machte sie zynisch zuschanden, trieb das arme Geschöpf in die Enge und in den Tod. Jener rechtskundige Lump, dem sie in schwacher Stunde angehört, erpreßte sie mit seinem einmaligen Siege. Henri's Angehörige, Henri selbst würden von seinem Verhältnis zu ihr erfahren, wenn sie ihm nicht neuerdings zu Willen war. Nach allem, was wir später in Erfahrung gebracht, müssen verzweifelte Szenen sich zwischen dem Mörder und seinem Opfer abgespielt haben. Vergebens flehte das Mädchen — zuletzt auf den Knien — ihn an, sie zu schonen, sie freizugeben, sie nicht zu nötigen, ihren Lebensfrieden mit dem Verrat an dem Manne zu bezahlen, der sie liebte, und dessen Liebe sie erwiderte. Eben dies Bekenntnis reizte den Unhold zur Grausamkeit. Er machte gar kein Hehl daraus, daß sie, indem sie sich ihm jetzt überließ, nur für den Augenblick, nur fürs nächste Ruhe gewann, die Reise nach Straßburg, die Verlobung erkaufte. Freigeben würde er sie nie, sie immer wieder, nach

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seinem Belieben, anhalten, sich ihm für sein Schweigen erkenntlich zu erweisen, das er brechen würde, sobald sie sich der Erkenntlichkeit weigerte. Sie würde im Ehebruch zu leben haben, — das würde die gerechte Strafe für ihr Philistertum, für das sein, was der Mensch ihr feiges Unterkriechen im Bürgerlichen nannte. Ging es nicht weiter, kam ihr, auch ohne seine Hilfe, ihr Männchen auf die Sprünge, so blieb ihr immer die alles ordnende Substanz, die sie von jeher in jenem dekorativen Gegenstand, dem Buch mit dem Totenkopf, aufbewahrte. Nicht umsonst sollte sie sich dem Leben durch den stolzen Besitz des hippokratischen Heilmittels überlegen gefühlt, ihm makabren Spott geboten haben, — einen Spott, der ihr besser zu Gesichte stand als der bourgeoise Friedensschluß mit dem Leben, zu dem sie sich bereitfinden wollte.
Nach meiner Meinung hatte der Wicht es, außer auf erzwungene Lust, geradezu auf ihren Tod abgesehen. Seine infame Eitelkeit verlangte nach einer Frauenleiche auf seinem Wege; es gelüstete ihn, daß ein Menschenkind, wenn nicht gerade für ihn, so doch von wegen seiner, sterbe und verderbe. Ach, daß Clarissa ihm den Gefallen tun mußte! Sie mußte es wohl, wie alles ging und stand, ich sehe es ein, wir alle mußten es einsehen. Noch einmal willfahrte sie ihm, um vorläufig Ruhe zu gewinnen, und war damit mehr als je in seiner Hand. Sie rechnete wohl, wenn sie erst einmal von der Familie angenommen, einmal mit Henri vermählt sei, werde sie (noch dazu auf fremdem Staatsgebiet geborgen) schon Mittel und Wege finden, dem Erpresser die Stirn zu bieten. Es kam nicht dazu. Offenbar hatte ihr Quäler beschlossen, es zu der Heirat nicht erst kommen zu lassen. Ein anonymer Brief, von Clarissa's Liebhaber in der dritten Person handelnd, tat sein Werk in der Straßburger Familie, bei Henri selbst. Er sandte ihr den Text — zur Rechtfertigung, wenn solche möglich war. Sein Begleitbrief ließ nicht eben eine unerschütterlichste Glaubensstärke der Liebe erkennen, die er für sie trug.
Clarissa empfing die eingeschriebene Sendung in Pfeiffering, wo sie nach Schluß der Pforzheimer Theater-Saison für ein

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paar Wochen im Häuschen ihrer Mutter, hinter den Kastanien, zu Gast war. Es war früher Nachmittag. Die Senatorin sah ihr Kind im Geschwindschritt von einem Spaziergang zurückkehren, den sie nach Tische auf eigene Hand unternommen. Auf dem kleinen Vorplatz des Hauses eilte Clarissa mit einem flüchtig-wirren und blinden Lächeln an ihr vorüber in ihr Zimmer, dessen Schlüssel sich hinter ihr kurz und energisch im Schlosse drehte. In ihrem eigenen Schlafzimmer, nebenan, hörte die alte Dame die Tochter nach einer Weile am Waschtisch mit Wasser gurgeln, — wir wissen heute, daß dies zur Kühlung der Verätzungen geschah, die die furchtbare Säure ihr im Schlünde verursacht. Dann trat Stille ein, — die unheimlich andauerte, als nach etwa zwanzig Minuten die Senatorin bei Clarissa klopfte und sie bei Namen rief. Wie dringlich sie dies wiederholte, so blieb die Antwort aus. Die Geängstigte, mit ihrem über der Stirn nicht mehr recht zu ordnenden Haar und ihrer Zahnlücke, lief hinüber zum Hauptgebäude und unterrichtete mit gepreßten Worten Frau Schweigestill. Die Vielerfahrene folgte ihr mit einem Knecht, der nach wiederholtem Rufen und Klopfen der beiden Frauen das Türschloß sprengte. Clarissa lag mit offenen Augen auf dem Kanapee am Fußende des Bettes, einem Möbel der siebziger oder achtziger Jahre, mit Rücken- und Seitenlehne, das ich aus der Rambergstraße kannte, und auf das sie sich eilig begeben hatte, als beim Gurgeln der Tod sie überkam.
»Da wird wohl nichts mehr zu machen sein, liebe Frau Senator«, sagte, den Finger an der Wange und kopfschüttelnd, Frau Schweigestill bei dem Anblick der halb aufrecht Hingestreckten. Mir wurde dieser nur zu überzeugende Anblick noch spät abends zuteil, als ich, von der Wirtin telephonisch benachrichtigt und von Freising herbeigeeilt, die wimmernde Mutter als alter Hausfreund bewegt und tröstend in die Arme geschlossen hatte und mit ihr, Else Schweigestill und Adrian, der mit herübergekommen war, an der Leiche stand. Dunkelblaue Stockungsflecke an Clarissa's schönen Händen und in ihrem Gesicht deuteten auf einen rapiden Erstickungstod, die jähe

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Lähmung des Atmungszentrums durch eine Dosis Zyansäure, mit der man wohl eine Kompanie Soldaten hätte töten können. Auf dem Tisch lag, entleert, die Unterseite aufgeschraubt, jener bronzene Behälter, das mit dem Namen des Hippokrates in griechischen Lettern beschriebene Buch, auf dem der Totenkopf ruhte. Dabei ein an ihren Verlobten gerichteter, hastig geschriebener Bleistiftzettel des Wortlautes:
»Je t'aime. Une fois je t'ai trompe, mais je t'aime.«
Der junge Mann fand sich zu dem Begräbnis ein, dessen Vorbereitung mir zufiel. Er war untröstlich, oder vielmehr »desole«, was, gewiß irrtümlicherweise, nicht ganz so ernst, ein wenig redensartlicher anmutet. Ich möchte den Schmerz nicht bezweifeln, mit dem er ausrief:
»Ah, monsieur, ich liebte sie hinlänglich, um ihr zu verzeihen ! Alles hätte gut werden können. Et maintenant— comme ca!«
Ja, »comme ca«! Alles hätte wohl wirklich anders kommen können, wenn er nicht solch mattes Familiensöhnchen gewesen wäre und Clarissa eine verlässigere Stütz-e an ihm gehabt hätte.
In jener Nacht verfaßten wir, Adrian, Frau Schweigestill und ich, während die Senatorin in tiefem Jammer bei der erstarrten Hülle ihres Kindes saß, die öffentliche, von Clarissa's Nächsten zu unterzeichnende Todesanzeige, der eine schonende Eindeutigkeit zu verleihen war. Wir einigten uns auf eine Formulierung, die besagte, daß die Verstorbene nach schwerem, unheilbarem Herzeleid das Zeitliche gesegnet habe. Dies hatte der Münchener Dekan gelesen, bei dem ich vorsprach, um ihn für die von der Senatorin dringend gewünschte kirchliche Bestattung zu gewinnen. Nicht allzu diplomatisch fing ich das an, indem ich von vornherein naiv-vertrauensvoll die Tatsache einbekannte, daß Clarissa den Tod einem Leben in Unehre vorgezogen habe, wovon doch der Geistliche, ein robuster Gottesmann von echt lutherischem Typ, nichts wissen wollte. Ich gestehe, daß es eine Weile dauerte, bis ich begriff, daß zwar einerseits die Kirche sich nicht inaktiviert zu sehen wünschte, daß sie aber riicht bereit war, den erklärten, wenn auch noch so ehrenhaften Selbstmord auszusegnen, — kurzum, daß der

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kräftige Mann nichts anderes wollte, als daß ich löge. So lenkte ich denn fast lächerlich unvermittelt ein, bezeichnete alles als unaufgeklärt, ließ einen Unglücksfall, eine Flacon-Verwechslung als möglich, ja wahrscheinlich zu und erreichte so, daß der Dickkopf, geschmeichelt denn doch für seine heilige Firma, durch das Gewicht, das man auf ihre Teilnahme legte, sich bereit erklärte, die Exequien vorzunehmen.
Sie fanden statt auf dem Münchener Waldfriedhof unter vollzähliger Beteiligung des Rodde'schen Freundeskreises. Auch Rudi Schwerdtfeger, auch Zink und Spengler, sogar Schildknapp fehlten nicht. Die Trauer war aufrichtig, denn alle hatten die arme, schnippische, stolze Clarissa gern gehabt. Ines Institoris, in dichtem Schwarz, nahm an Stelle ihrer Mutter, die sich nicht sehen ließ, das Hälschen schräg vorgestreckt, in zarter Würde die Beileidsbezeugungen entgegen. Ich konnte nicht umhin, in dem tragischen Ausgang des Lebensversuchs ihrer Schwester ein böses Omen für ihr eigenes Geschick zu sehen. Übrigens hatte ich im Gespräch mit ihr eher den Eindruck, daß sie Clarissa beneidete, als daß sie sie betrauerte. Die Verhältnisse ihres Gatten litten fortschreitend unter dem von gewissen Kreisen gewollten und herbeigeführten Verfall der Währung. Die Brustwehr des Luxus, dieser Schutz vor dem Leben, drohte der Ängstlichen zu schwinden, und schon war es fraglich geworden, ob man die reiche Wohnung am Englischen Garten werde halten können. Was Rudi Schwerdtfeger betraf, so hatte er zwar Clarissa, der guten Kameradin, die letzte Ehre erwiesen, aber den Friedhof so bald wie möglich wieder verlassen, — nachdem er bei der nächsten Leidtragenden zu einer Kondolenz vorgesprochen hatte, auf deren formelle Knappheit ich Adrian aufmerksam machte. Es war wohl das erste Mal, daß Ines den Geliebten wiedersah, seit er ihr Verhältnis gelöst hatte, — ich fürchte: mit einiger Brutalität, denn es >in netter Weise< zu tun, war bei der verzweifelten Zähigkeit, mit der sie sich daran klammerte, wohl nicht gut möglich gewesen. Wie sie da neben ihrem zierlichen Gemahl am Grabe der Schwester stand, war sie eine Verlassene

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und aller Mutmaßung nach entsetzlich unglücklich. Es hatte sich aber, gewissermaßen zu Trost und Ersatz, ein kleiner Verband von Frauen um sie zusammengeschlossen, dessen Mitglieder denn auch zum Teil mehr um ihretwillen als zu Clarissa's Ehren der Trauerfeier anwohnten. Zu dieser kleinen und festen Gruppe, Genossenschaft, Körperschaft, diesem Freundschaftsclub, oder wie ich mich ausdrücken soll, gehörte die exotische Natalia Knöterich als Inessens nächste Vertraute; es gehörte aber auch dazu eine von ihrem Manne geschiedene rumänisch-siebenbürgische Schriftstellerin, Verfasserin einiger Lustspiele und Inhaberin eines Boheme-Salons in Schwabing; ferner die Hofschauspielerin Rosa Zwitscher, eine Darstellerin von oft großer nervöser Intensität, — und noch eine oder die andere weibliche Figur, deren Kennzeichnung sich hier erübrigt, besonders da ich nicht bei jeder der aktiven Zugehörigkeit zu dem Bunde ganz sicher bin.
Der Kitt, der ihn zusammenhielt, war — der Leser ist darauf vorbereitet, es zu vernehmen — das Morphium: ein überaus starkes Bindemittel; denn nicht nur, daß die Genossen einander in unheimlicher Kameradschaftlichkeit mit der beglückenden und verderblichen Droge aushalfen, sondern auch moralisch besteht eine trübselige, aber auch zärtliche und sogar wechselseitig verehrungsvolle Solidarität zwischen den Sklaven derselben Sucht und Schwäche, und in unserem Fall wurden die Sünderinnen zudem noch durch eine bestimmte Philosophie oder Maxime zusammengehalten, die von Ines Institoris ausging, und der zu ihrer Rechtfertigung alle fünf oder sechs Freundinnen beipflichteten. Ines vertrat nämlich die Ansicht — ich selbst habe sie gelegentlich aus ihrem Munde vernommen —, daß der Schmerz menschenunwürdig, daß es eine Schmach sei, zu leiden. Nun sei aber, noch ganz abgesehen von jeder konkreten und besonderen Erniedrigung durch Körperschmerz oder Herzeleid, das Leben selbst und an und für sich, das bloße Dasein, die animalische Existenz eine unwürdige Kettenlast und niedrige Beschwer, und nichts weiter als nobel und stolz, ein Akt des Menschenrechtes und geistiger Befugnis

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sei es, diese Bürde sozusagen abzustemmen, sich ihrer zu entlasten, Freiheit, Leichtigkeit, ein gleichsam körperloses Wohlsein zu gewinnen durch die Versorgung der Physis mit dem gesegneten Stoff, der ihr solche Emanzipation vom Leiden gewährte.
Daß diese Philosophie die moralisch und körperlich ruinösen Folgen der verzärtelnden Gewohnheit in den Kauf nahm, gehörte offenbar zu ihrer Noblesse, und wahrscheinlich war es das Bewußtsein gemeinsamen frühen Verderbens, was die Kumpaninnen zu solcher Zärtlichkeit, ja verliebten Veneration untereinander stimmte. Nicht ohne Widerwillen beobachtete ich das entzückte Aufleuchten ihrer Blicke, ihre gerührten Umarmungen und Küsse, wenn sie in Gesellschaft zusammenkamen. Ja, ich bekenne meine innere Unduldsamkeit gegen diese Selbstdispensierung, — bekenne sie mit einer gewissen Verwunderung, da ich mir sonst doch keineswegs in der Rolle des Tugendboldes und Splitterrichters gefalle. Es mag jene gewisse süßliche Verlogenheit sein, zu der das Laster führt, oder die ihm von vornherein immanent ist, was mir die unüberwindliche Abneigung einflößt. Auch verübelte ich der Ines die rücksichtslose Gleichgültigkeit gegen ihre Kinder, die sie mit der Hingabe an diesen Unfug bewies, und die denn auch alle Affenliebe zu den weißen Luxusgeschöpfen als Lüge enthüllte. Kurzum, die Frau war mir in der Seele verleidet, seit ich wußte und sah, was sie sich erlaubte, und sie bemerkte recht wohl, daß ich sie in meinem Herzen hatte fallenlassen, und quittierte die Wahrnehmung mit einem Lächeln, das mich in seiner vertrackten und spitzbübischen Bosheit an das frühere erinnerte, das sie gezeigt, als sie zwei Stunden lang meine menschliche Teilnahme an ihren Liebesschmerzen und -lüsten eingestrichen hatte.
Ach, sie hatte wenig Grund, sich lustig zu machen, denn ein Elend war es, wie sie sich entwürdigte. Wahrscheinlich nahm sie Überdosen, die ihr nicht lebhaftes Wohlsein schufen, sondern sie in einen Zustand versetzten, worin sie sich nicht sehen lassen konnte. Jene Zwitscher spielte genialer unter der Wir-

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kung des Mittels, und Natalia Knöterich erhöhte damit ihren gesellschaftlichen Charme. Aber der armen Ines geschah es wiederholt, daß sie in halber Bewußtlosigkeit zu Tische kam und sich mit verglasten Augen und nickendem Kopf zu ihrer ältesten Tochter und ihrem kleinlich-peinlich berührten Gatten an dem immer noch wohlgepflegten, von Kristall funkelnden Eßtisch niederließ. Ich will dazu eines gestehen: Ines beging ein paar Jahre später ein Kapitalverbrechen, das allgemeines Entsetzen erregte und ihrer bürgerlichen Existenz ein Ende machte. Aber so sehr auch mir vor der Untat schauderte, so war ich doch, aus alter Freundschaft, fast stolz, nein, entschieden stolz darauf, daß sie in ihrer Gesunkenheit die Kraft und wilde Energie zu der Handlung gefunden hatte.


XXXVI

O Deutschland, du gehst zugrunde, und ich gedenke deiner Hoffnungen! Die Hoffnungen meine ich, die du erregtest (vielleicht ohne sie zu teilen); die nach deinem vorigen, vergleichsweise sanften Zusammenbruch, der Abdankung des Kaiserreichs, die Welt in dich setzen wollte, und die du trotz ausgelassenem Benehmen, trotz einer völlig verrückten, wild verzweifelten und wild demonstrativen >Aufblähung< deines Elends, jener betrunken zum Himmel kletternden Währungsinflation, einige Jahre lang bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen schienest.
Es ist wahr, der phantastische, weltverhöhnende und als Weltschrecknis gemeinte Unfug von damals hatte schon viel von der monströsen Unglaubwürdigkeit, der Exzentrizität, dem nie für möglich Gehaltenen, dem bösen Sansculottismus unserer Aufführung seit 1933 und gar seit 1939. Aber der Milliarden-Rausch, dieser Bombast der Misere, nahm ja eines Tages ein Ende, in das verfratzte Antlitz unseres Wirtschaftslebens kehrte der Ausdruck der Vernunft zurück, und eine Epoche seelischer Erholung, des gesellschaftlichen Fortschritts

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in Frieden und Freiheit, der mündigen und zukunftsgewillten kulturellen Bemühtheit, der gutwilligen Angleichung unseres Fühlens und Denkens ans Welt-Normale schien uns Deutschen zu dämmern. Unzweifelhaft, dies war, trotz aller eingeborenen Schwäche und Antipathie gegen sich selbst, der Sinn, die Hoffnung der deutschen Republik, — ich meine wiederum: die Hoffnung, die sie den Fremden erweckte. Sie war ein Versuch, ein nicht ganz und gar aussichtsloser Versuch (der zweite nach dem fehlgeschlagenen Bismarcks und seines Einigungskunststücks), zur Normalisierung Deutschlands im Sinne seiner Europäisierung oder auch >Demokratisierung<, seiner geistigen Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben der Völker. Wer will leugnen, daß viel guter Glaube an die Möglichkeit dieses Prozesses in den anderen Ländern lebendig war, — und wer bestreiten, daß eine hoffnungsvolle Bewegung in dieser Richtung unter uns, in Deutschland, überall im Lande, mit Ausnahmen bäurischer Verstocktheit, — tatsächlich festzustellen war?
Ich spreche von den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, besonders natürlich von ihrer zweiten Hälfte, die in allem Ernst eine Verschiebung des kulturellen Brennpunktes von Frankreich nach Deutschland brachte, und für die es denn doch in hohem Grade kennzeichnend war, daß in ihr, wie erwähnt, die Erstaufführung, genauer: die erste vollständige Aufführung von Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium sich ereignete. Selbstverständlich geschah das, obgleich der Schauplatz Frankfurt einer der gutwilligen, freimütigsten Stadtcharaktere des Reiches war, nicht ohne zornigen Widerspruch, nicht ohne daß der Vorwurf der Kunstverhöhnung, des Nihilismus, des musikalischen Verbrechertums, oder, um den geläufigsten Schimpf ruf von damals einzusetzen: der Vorwurf des >Kultur-Bolschewismus< mit Erbitterung laut geworden wäre. Aber das Werk und das Wagnis seiner Darbietung fanden intelligente, des Wortes mächtige Verteidiger, und dieser gute Mut, der, weit- und freiheitsfreundlich, um das Jahr 1927 auf seine Höhe kam, dies Widerspiel zur nationalistisch-wagnerisch-romantischen Reaktion, wie sie namentlich in München

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zu Hause war, bildete durchaus auch schon ein Element unseres öffentlichen Lebens in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, — wobei ich an kulturelle Vorkommnisse denke wie das Tonkünstlerfest in Weimar vom Jahre zwanzig und das erste Musikfest zu Donaueschingen im folgenden Jahr. Bei beiden Gelegenheiten wurden — leider in des Komponisten Abwesenheit — vor einem keineswegs unempfänglichen, ich möchte sagen: künstlerisch->republikanisch< gesinnten Publikum, neben anderen Beispielen einer neuen geistig-musikalischen Haltung auch Werke Leverkühns geboten: in Weimar die kosmische Symphonie< unter der rhythmisch besonders zuverlässigen Leitung Bruno Walters, an dem badischen Festort, in Verbindung mit Hans Platners berühmtem Marionettentheater, alle fünf Stücke der >Gesta Romanorum<, — ein das Gemüt zwischen frommer Rührung und Gelächter wie nie zuvor hin und her reißendes Erlebnis.
Gedenken aber auch will ich des Anteils, den deutsche Künstler und Kunstfreunde an der Gründung der internationalen Gesellschaft für neue Musik< im Jahre zweiundzwanzig hatten, und der Veranstaltungen dieses Verbandes zwei Jahre später in Prag, wobei schon Chor- und Instrumentalfragmente aus Adrians >Apocalipsis cum figuris< vor einer mit berühmten Gästen aus allen Musikländern stark durchsetzten Hörerschaft erklangen. Das Werk war damals bereits im Druck erschienen, und zwar nicht, wie Leverkühns frühere Arbeiten,beiSchottinMainz,sondern im Rahmen der >Universal-Edition< in Wien, deren noch jugendlicher, kaum dreißigjähriger, aber im musikalischen Leben Mittel-Europas eine einflußreiche Rolle spielender Direktor namens Dr. Edelmann eines Tages, nämlich zu einem Zeitpunkt, als die >Apokalypse< noch nicht einmal vollendet war (es war in den Wochen der Unterbrechung durch den Krankheitsrückfall), überraschend in Pf eiff ering auf getaucht war, um dem Gast der Schweigestills seine verlegerischen Dienste anzubieten. Der Besuch stand in erklärtem Zusammenhang mit einem dem Schaffen Adrians gewidmeten Artikel, der kürzlich in der radikal-progressiven Wiener Musikzeitschrift >Der An-

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bruch< erschienen war und aus der Feder des ungarischen Musikologen und Kultur-Philosophen Desiderius Feher stammte. Feher hatte über die intellektuelle Höhe und religiösen Gehalte, den Stolz und die Verzweiflung, die sündige, ins Inspirative getriebene Klugheit der Musik, auf die er da die Kulturwelt hinwies, sich mit einer Innigkeit ausgedrückt, die verstärkt wurde durch die eingestandene Scham darüber, daß der Schreiber nicht auf eigene Hand dies Interessanteste und Ergreifendste entdeckt, nicht kraft eigener innerer Führung darauf gestoßen war, sondern von außen, oder, wie er sagte, von oben, aus einer Sphäre, höher als alle Gelehrsamkeit, der Sphäre der Liebe und des Glaubens, des Ewig-Weiblichen mit einem Wort, hatte darauf hingelenkt werden müssen. Kurzum, der Aufsatz, der, seinem Gegenstand nicht unangemessen, das Analytische mit dem Lyrischen mischte, ließ, allerdings in sehr vagen Umrissen, die Gestalt einer sensitiven, wissenden und für ihr Wissen tätig werbenden Frau durchscheinen, die seine eigentliche Inspiratorin war. Da aber Dr. Edelmanns Besuch sich als angeregt von der Wiener Veröffentlichung erwies, so konnte man sagen, daß mittelbar auch dieser Besuch eine Bewerkstelligung jener zarten, sich im Verborgenen haltenden Energie und Liebe war.
Nur mittelbar? Ich bin nicht ganz sicher. Ich halte für möglich, daß auch dem jungen Musik-Geschäftsmann direkte Anregungen, Winke, Weisungen aus der »Sphäre« zugekommen waren, und ich werde in dieser Vermutung bestärkt durch die Tatsache, daß er mehr wußte, als der Artikel, ein wenig geheimnistuerisch, mitzuteilen sich herbeigelassen hatte: daß er den Namen wußte und ihn nannte, — nicht gleich, nicht von vornherein, aber im Lauf der Unterhaltung, gegen ihr Ende hin. Nachdem er fast abgewiesen worden war, aber verstanden hatte, seinen Empfang durchzusetzen, hatte er Leverkühn um Mitteilungen über seine laufende Produktion gebeten, hatte von dem Oratorium gehört — zum ersten Mal? Ich bezweifle es! — und es erreicht, daß Adrian, obgleich leidend bis zur Hinfälligkeit, ihm im Nike-Saal größere Partien aus dem Manu-

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skript vorspielte, worauf Edelmann das Werk vom Fleck weg für die >Edition< erworben hatte: der Vertrag kam am nächsten Tage aus dem Hotel >Bayerischer Hof< in München. Bevor er aber gegangen war, hatte er Adrian, sich der wienerischen, aus dem Französischen übernommenen Anrede bedienend, gefragt:
»Kennen Sie, Meister«, — ich glaube sogar, er sagte: »Kennen Meister« — »die Frau von Tolna?«
Ich bin im Begriffe, eine Figur in meine Erzählung einzuführen, wie ein Romanverfasser sie seinen Lesern niemals bieten dürfte, da Unsichtbarkeit in offenbarem Widerspruch zu den Bedingungen des Künstlerischen und also auch der Romanerzählung steht. Frau von Tolna aber ist eine unsichtbare Figur. Ich kann sie dem Leser nicht vor Augen stellen, von ihrem Äußeren nicht das kleinste Zeugnis geben, denn ich habe sie nie gesehen und nie eine Beschreibung von ihr empfangen, da niemand aus meiner Bekanntschaft sie je gesehen hat. Ich lasse dahingestellt, ob Dr. Edelmann, ob auch nur jener Mitarbeiter des >Anbruch<, der ihr Landsmann war, sich ihrer Bekanntschaft rühmen konnten. Was Adrian betraf, so antwortete er damals auf die Frage des Wieners verneinend. Er kenne die Dame nicht, sagte er, — aber ohne seinerseits zu fragen, wer das denn sei; weshalb denn auch Edelmann davon abstand, Aufklärungen zu geben, sondern nur erwiderte:
»Jedenfalls haben Sie« — oder: »haben Meister« — »keine wärmere Verehrerin.«
Offenbar nahm er das >Nicht-kennen< als die bedingte und in Diskretion gehüllte Wahrheit, die es war. Adrian konnte antworten, wie er es tat, weil es in seinen Beziehungen zu der ungarischen Aristokratin an jeder persönlichen Begegnung fehlte und — so füge ich hinzu — nach beiderseitiger stiller Übereinkunft immer fehlen sollte. Daß er seit Jahr und Tag in brieflichem Austausch mit ihr stand, einer Korrespondenz, in welcher sie sich als die klügste und genaueste Kennerin und Bekennerin seines Werkes, dazu als sorgende Freundin und Ratgeberin, als unbedingte Dienerin seiner Existenz erwies,

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und worin er für sein Teil an die Grenze der Mitteilsamkeit und des Vertrauens ging, deren die Einsamkeit fähig ist, — das ist eine andere Sache. Ich habe von bedürftigen Frauenseelen gesprochen, die sich durch uneigennützige Hingebung einen bescheidenen Platz in dem sicherlich unsterblichen Leben dieses Mannes eroberten. Hier ist eine dritte, ganz anders geartete, an Uneigennützigkeit jenen schlichteren nicht nur nicht nachstehend, sondern sie übertreffend: durch den asketischen Verzicht auf jede direkte Annäherung, die unverbrüchliche Observanz der Verborgenheit, der Zurückhaltung, der Nicht-Behelligung, des Unsichtbar-Bleibens, — das nicht wohl auf linkischer Scheu beruhen konnte, da es sich um eine Frau von Welt handelte, welche dem Einsiedler von Pfeiffering auch wirklich die Welt repräsentierte, — die Welt, wie er sie liebte, brauchte, ertrug, die Welt im Abstand, die aus intelligenter Schonung sich fernhaltende Welt...
Ich sage von diesem seltenen Wesen, was ich weiß. Madame de Tolna war eine reiche Witwe, die von einem ritterlichen, aber ausschweifenden, übrigens nicht an seinen Lastern zugrunde gegangenen, sondern beim Pferderennen verunglückten Gatten als Besitzerin eines Palais in Pest, eines riesigen, einige Stunden südlich der Hauptstadt, nahe Stuhlweißenburg, zwischen Plattensee und Donau gelegenen Rittergutes und dazu noch einer schloßartigen Villa an dem genannten See, dem Balaton, kinderlos zurückgelassen worden war. Das Gut, mit prächtigem, aus dem achtzehnten Jahrhundert bequem erneuerten Herrenhaus, umfaßte außer ungeheueren Weizenfeldern ausgedehnte Zuckerrüben-Pflanzungen, deren Ernten in eigenen Raffinierbetrieben auf dem Gut verarbeitet wurden. Keinen dieser Aufenthalte, Stadthaus, Gutsschloß und Sommervilla, benutzte die Eigentümerin für irgend längere Zeit. Ganz vorwiegend, man kann sagen: fast immer, war sie auf Reisen, indem sie Heimstätten, an denen sie offenbar nicht hing, von denen Unruhe oder peinliche Erinnerungen sie vertrieben, der Obsorge von Verwaltern und Hausmeistern überließ. Sie lebte in Paris, Neapel, Ägypten, im Engadin, von Ort zu Ort

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begleitet von einer Jungfer, einem männlichen Angestellten, der etwas wie einen Quartiermacher und Reisemarschall abgab, und einem allein ihren Diensten gewidmeten Arzt, was auf delikate Gesundheit schließen ließ.
Ihre Beweglichkeit schien von dieser nicht getroffen, und im Verein mit einem Enthusiasmus, der auf Instinkt, Ahnung, sensitivem Wissen — Gott weiß es —, geheimnisvoller Einfühlung und Seelenverwandtschaft beruhte, zeitigte sie überraschende Präsenzen. Es stellte sich heraus, daß diese Frau überall zur Stelle gewesen war und sich unauffällig ins Publikum gemischt hatte, wo immer man gewagt hatte, von Adrians Musik etwas erklingen zu lassen: in Lübeck (bei der verhöhnten Premiere der Oper), in Zürich, in Weimar, in Prag. Wie oft sie in München und also seinem Wohnsitz ganz nahe war, ohne sich bemerkbar zu machen, weiß ich nicht zu sagen. Aber sie kannte auch Pfeiffering, gelegentlich und unter der Hand kam es zutage: in der Stille hatte sie von Adrians Landschaft, seiner nächsten Umgebung Kenntnis genommen, hatte, wenn ich nicht irre, geradezu unter dem Fenster der Abtsstube gestanden — und sich ungesehen wieder entfernt. Dies ist packend genug, aber noch seltsamer ergreift es mich, und noch mehr ruft es die Vorstellung der Wall- und Pilgerfahrt wach, daß sie, wie sich ebenfalls lange nachher und mehr oder weniger zufällig herausstellte, auch nach Kaisersaschern gefahren war, daß sie in Dorf Oberweiler und auf Hof Buchel selbst Bescheid wußte, also vertraut war mit dem — mich jederzeit etwas bedrückenden — Parallelismus, der zwischen dem Schauplatz von Adrians Kindheit und seinem späteren Lebensrahmen bestand.
Ich vergaß zu erwähnen, daß sie jene Ortschaft in den Sabinerbergen, Palestrina, nicht ausgelassen, einige Wochen im Hause Manardi verweilt und, wie es schien, sich mit Signora Manardi rasch und herzlich angefreundet hatte. Wenn sie der Wirtin in ihren teils deutsch, teils französisch geschriebenen Briefen gedachte, so nannte sie sie »Mutter Manardi«, »Mere Manardi«. Die gleiche Bezeichnung ließ sie Frau Schweigestill zukommen, die sie, wie aus ihren Worten hervorging, gesehen

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hatte, ohne von ihr gesehen — oder beobachtet — worden zu sein. Und sie selbst? War es ihre Idee, sich diesen MutterFiguren anzuschließen und sie Schwester zu heißen? Welcher Name gebührte ihr — im Verhältnis zu Adrian Leverkühn? Welchen wünschte sie sich, nahm sie in Anspruch? Den einer Schutzgöttin, einer Egeria, einer geisterhaften Geliebten? Der erste Brief, den sie (aus Brüssel) an ihn richtete, war von dem Huldigungsgeschenk eines Ringes begleitet, wie ich seinesgleichen nie gesehen habe, was allerdings nicht viel heißen will, da Schreiber dieses in Dingen der Schätze dieser Welt wahrhaftig wenig bewandert ist. Es war ein Kleinod von — für mich — unschätzbarem Wert und von größter Schönheit. Der ziselierte Reif selbst war alt, Renaissance-Arbeit; der Stein ein großflächig geschnittenes Prachtexemplar des hellgrünen UralSmaragds, herrlich zu schauen. Man konnte sich denken, daß der Ring einst die Hand eines Kirchenfürsten geschmückt hatte, — die heidnische Inschrift, die er trug, sprach kaum gegen die Vorstellung. Der Härte des Edel-Berylls nämlich, seiner oberen Schleiffläche, waren in feinsten griechischen Lettern zwei Verse eingraviert, die man auf deutsch ungefähr wie folgt wiedergeben kann:

Welch ein Beben durchfuhr den Lorbeerbusch des Apollon!
Beben das ganze Gebälk! Unheilige, fliehet! Entweichet!


Es fiel mir nicht schwer, diese Verse als die Anfangsworte eines Apollon-Hymnus des Kallimachos zu lokalisieren. Sie beschreiben mit heiligem Schrecken die Anzeichen einer Epiphanie des Gottes bei seinem Heiligtum. Die Schrift hatte in ihrer Winzigkeit vollkommene Schärfe bewahrt. Etwas verwischter erschien das darunter eingeschnittene vignettenartige Wahrzeichen, das sich, am besten unter der Lupe, als geflügeltschlangenhaftes Ungeheuer bestimmen ließ, dessen hervorschießende Zunge die ausgebildete Gestalt eines Pfeiles hatte. Mich ließ das mythologische Phantasma an die Schuß- oder Bißwunde des Chryseischen Philoktet, dazu an den Namen denken, den Äschylos einmal dem Pfeile gibt: »Zischende geflügelte Schlange«,

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aber auch an die Beziehung, die zwischen den Geschossen des Phöbus und dem Sonnenstrahle besteht.
Ich kann bezeugen, daß Adrian sich über das bedeutende, aus fremder, teilnehmender Weite ihm zugekommene Geschenk kindlich freute, es ohne Bedenken annahm und sich zwar anderen nie damit zeigte, aber den Brauch, oder soll ich sagen: den Ritus übte, es für die Stunden der Arbeit anzulegen: während der ganzen Ausführung der >Apokalypse< trug er, wie ich weiß, das Juwel an der Linken.
Bedachte er wohl, daß der Ring das Symbol der Bindung, der Fessel, ja der Hörigkeit ist? Offenbar machte er sich keine Gedanken darüber, sondern sah in dem kostbaren Glied einer unsichtbaren Kette, das er zum Komponieren an den Finger steckte, nichts weiter als die Verbindung seiner Einsamkeit mit der Welt, — die ihm gesichtslos, persönlich kaum umschrieben war, und nach deren individuellen Zügen er sich anscheinend viel weniger fragte, als ich es tat. Gab es, fragte ich mich, etwas in dem Äußeren der Frau, woraus das Grundprinzip ihrer Beziehung zu Adrian, die Unsichtbarkeit, das Meiden, die NieBegegnung sich erklärte? Sie konnte häßlich, lahm, verwachsen, entstellt von einem Hautleiden sein. Ich nehme es nicht an, sondern glaube vielmehr, daß,' wenn es einen Schaden gab, er im Seelischen lag und zum Verständnis für jede Art Schonungsbedürftigkeit disponierte. Auch versuchte ihr Partner ja niemals, an jenem Gesetz zu rütteln, sondern fügte sich stillschweigend darein, daß dem Verhältnis striktes Verharren im rein Geistigen beschieden sein sollte.
Ich brauche ungern diese banale Wendung: »im rein Geistigen«. Sie hat etwas Farbloses und Unkräftiges, das schlecht zu einer gewissen praktischen Rüstigkeit paßt, die dieser fernen, verhüllten Ergebenheit und Fürsorge eigen war. Eine sehr ernstliche musikalische und allgemein europäische Bildung dort drüben verlieh dem Briefwechsel, wie er zur Zeit der Vorbereitung auf das apokalyptische Werk und während seiner Niederschrift gepflogen wurde, ein durchaus sachliches Rückgrat. Zu dem textlichen Aufbau des Werkes wußte man mei-

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nen Freund mit Anregungen, schwer zugänglichem Material zu versehen, — wie sich denn nachträglich erwies, daß jene altfranzösische Versübertragung der Paulus-Vision ihm aus der »Welt« zugekommen war. Energisch, wenn auch auf Umwegen und durch Mittelspersonen, war diese in seinen Diensten tätig. Sie war es, die den geistreichen Artikel im >Anbruch< hervorgerufen hatte, — allerdings dem einzigen Ort, wo damals von Leverkühns Musik mit Bewunderung die Rede sein konnte. Daß die >Universal-Edition< sich des werdenden Oratoriums versichert hatte, war ihrer Einflüsterung zuzuschreiben. Im Jahre einundzwanzig stellte sie dem Platner'schen Figurentheater aus der Verborgenheit, ohne daß die Quelle der Zuwendung klar wurde, für die kostbare und musikalisch vollkommene Inszenierung der >Gesta< in Donaueschingen bedeutende Mittel zur Verfügung.
Auf diesem Wort und der umfassenden Geste, die ihm zugehört, auf diesem >Zur Verfügung stellen< möchte ich beharren. Adrian durfte nicht zweifeln, daß ihm zur Verfügung stand, was die mondäne Verehrerin seiner Einsamkeit vermochte, — ihr Reichtum, der ihr, wie deutlich zu spüren, von kritischen Gewissens wegen eine Belastung war, obgleich sie ein Leben ohne ihn nicht kannte und wohl auch nicht zu führen gewußt hätte. Soviel wie möglich davon, soviel wie anzubieten sie nur wagen konnte, auf dem Altar des Genius darzubringen, war ihr unverleugnetes Verlangen, und wenn Adrian gewollt hätte, so hätte sein ganzer Lebensstil sich von heute auf morgen nach dem Muster des Kleinods ändern können, in dessen Schmuck nur die vier Wände der Abtsstube ihn sahen. Er wußte es so gut wie ich. Daß er nicht einen Augenblick sich mit der Möglichkeit ernstlich abgab, muß ich nicht sagen. Anders als ich, für den es immer etwas gewissermaßen Berauschendes hatte, zu denken, daß ein Riesenvermögen zu seinen Füßen lag, in das er nur zu greifen brauchte, um sich ein fürstliches Dasein zu bereiten, hat er sich den Gedanken daran gewiß niemals nahe kommen lassen. Und doch hat er einmal, als er, ausnahmsweise von seinem Pfeiffering ausgeflogen, ohnedies

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auf Reisen war, in flüchtigem Versuchen an der fast königlichen Lebensform genippt, die ihm für die Dauer zuzuwünschen ich heimlich nicht umhinkonnte.
Das ist nun zwanzig Jahre her und geschah, indem er der stehenden, ein für allemal gültigen Einladung Madame de Tolna's folgte, solange er wollte, auf einer ihrer Besitzungen Wohnung zu nehmen, wenn nämlich sie nicht dort war. Er war damals, Frühjahr 1924, in Wien, wo, imEhrbarsaal und im Rahmen eines der sogenannten >Anbruch-Abende <, Rudi Schwerdtfeger das endlich für ihn geschriebene Violinkonzert mit starkem Erfolg — nicht zuletzt für ihn selbst — zum erstenmal gespielt hatte. Ich sage: »nicht zuletzt« und meine »vor allem«, denn eine gewisse Konzentration des Interesses auf die Kunst des Interpreten liegt geradezu in den Absichten des Werkes, das, bei aller Unverkennbarkeit der musikalischen Handschrift, nicht zu Leverkühns höchsten und stolzesten gehört, sondern, wenigstens partienweise, etwas Verbindliches, Kondeszendierendes, ich sage besser: Herablassendes hat, welches mich an eine frühe Vorhersage aus unterdessen verstummtem Munde erinnerte. —
Adrian lehnte es denn auch ab, als das Stück geendigt, vor dem sehr beifallsfreudigen Publikum zu erscheinen, und hatte das Haus schon verlassen, als man nach ihm suchte. Wir trafen ihn später, die Veranstalter, der glückstrahlende Rudi und ich, in dem Restaurant des kleinen Hotels in der Herrengasse, wo er abgestiegen war, während Schwerdtfeger es sich schuldig zu sein geglaubt hatte, in einem Ring-Hotel Wohnung zu nehmen.
Die Nachfeier war kurz, da Adrian Kopfschmerzen hatte. Ich kann es aber aus der augenblicklichen Auflockerung seines Daseins verstehen, daß er sich am folgenden Tage entschloß, nicht sogleich nach Haus Schweigestill zurückzukehren, sondern seiner Welt-Freundin die Freude seines Besuches auf ihrem ungarischen Gute zu machen. Die Bedingung ihrer Abwesenheit war erfüllt, da sie ja — unsichtbar — in Wien weilte. Seine kurzfristige Anmeldung richtete er telegraphisch direkt nach dem Gut, worauf, wie ich annehme, eilige Verständigungen

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zwischen diesem und einem Wiener Hotel hin und her flogen. Er reiste, und sein Reisebegleiter war leider nicht ich, der ich kaum für das Konzert von meinen Amtspflichten mich hatte frei machen können, es war diesmal auch nicht Rüdiger Schildknapp, der Gleichäugige, der sich gar nicht nach Wien bemüht, auch wohl die Mittel dazu nicht besessen hatte. Sondern es war, sehr erklärlicher Weise, Rudi Schwerdtfeger, der frei für den Abstecher und zur Stelle war, mit dem es soeben ein glückliches künstlerisches Zusammenwirken gegeben hatte, und dessen unermüdbare Zutraulichkeit überhaupt gerade um jene Zeit von Erfolg — einem verhängnisschweren Erfolg — gekrönt wurde.
In seiner Gesellschaft also verbrachte Adrian, der empfangen wurde, als sei er der von Reisen heimkehrende Gebieter, zwölf Tage in einer Häuslichkeit von vornehmer Pracht, den Dix-huitieme-Sälen und -Gemächern von Schloß Tolna, sowie auf Wagenfahrten durch das fürstentumgroße Gutsgebiet und nach den heiteren Gestaden des Plattensees, betreut von einer demutsvollen, zum Teil türkischen Dienerschaft und als Nutznießer einer fünfsprachigen Bibliothek, zweier herrlicher Flügel auf dem Podium des Musiksaales, einer Hausorgel und jedweden Luxus. Er sagte mir, das zu der Herrschaft gehörige Dorf hätten die Besucher im Zustande tiefster Armut, auf ganz und gar archaischer, vor-revolutionärer Lebensstufe gefunden. Ihr Führer, der Gutsverwalter selbst, habe ihnen unter mitleidigem Kopf schütteln und als wissenswerte Merkwürdigkeit erzählt, daß die Bewohner nur einmal im Jahre, um Weihnachten, Fleisch zu essen und nicht einmal Unschlittkerzen zu brennen hätten, sondern buchstäblich mit den Hühnern zu Bette gingen. An diesen beschämenden Umständen, gegen die Gewohnheit und Unwissenheit die Menschen unempfindlich machten, zum Beispiel an dem unbeschreiblichen Schmutz der Dorfstraße, dem völligen Mangel an Hygiene in den Wohnkaten etwas zu ändern, wäre wohl ein revolutionärer Akt gewesen, dessen kein einzelner, am wenigsten eine Frau sich unterwinden konnte. Aber es läßt sich vermuten, daß der Anblick

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des Dorfes zu den Dingen gehörte, die Adrians verborgener Freundin den Aufenthalt auf ihrer Besitzung verleideten.
Im übrigen bin ich nicht der Mann, von dieser leicht exzentrischen Episode in meines Freundes strengem Leben ein mehr als skizzenhaftes Bild zu geben. Nicht ich war ihm dabei zur Seite und hätt' es nicht sein können, selbst wenn er mich dazu aufgefordert hätte. Schwerdtfeger war es, er könnte berichten. Aber er ist tot. —

XXXVII

Ich täte besser, diesem Abschnitt, gleich früheren, keine eigene Ziffer zuzubilligen, sondern ihn als Fortsetzung des vorigen, durchaus noch als diesem zugehörig, zu kennzeichnen. Ohne tiefere Zäsur fortzufahren, wäre das Rechte, denn immer noch läuft das Kapitel >Welt<, das Kapitel von meines verewigten Freundes Verhältnis oder Unverhältnis zu ihr, — die hier nun freilich aller geheimnisvollen Diskretion entsagt und sich nicht mehr als tiefverschleierte Schutzgöttin und Senderin kostbarer Symbole, sondern in dem naiv zudringlichen, keine Einsamkeit scheuenden, leichthin engagierenden und bei all dem für mich sogar anziehenden Typ des Herrn Saul Fiteiberg verkörpert, eines internationalen Musik-Gewerbmannes und Konzert-Unternehmers, der eines schönen Spätsommertages, als ich gerade zugegen war, an einem Samstagnachmittag also (am Sonntag früh wollte ich nach Hause zurückkehren, da meine Frau Geburtstag hatte), in Pfeiffering vorsprach und uns, Adrian und mich, wohl eine Stunde lang lächerlich gut unterhielt, worauf er zwar unverrichteter Dinge — soweit es sich eben um Dinge und Angebote handelte —, aber ohne Empfindlichkeit wieder abzog. Es war das Jahr 1923 — man kann nicht sagen, daß der Mann besonders früh aufgestanden war. Immerhin, er hatte die Prager, die Frankfurter Darbietungen nicht abgewartet, sie gehörten noch einer nicht fernen Zukunft an. Aber Weimar

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war gewesen, Donaueschingen war gewesen — wobei ich die Schweizer Aufführungen Leverkühn'scher Jugendwerke ganz beiseite lasse —, und eine erstaunliche prophetische Intuition gehörte nicht mehr dazu, um zu ahnen, daß es hier etwas zu schätzen, zu propagieren gab. Auch war die >Apokalypse< ja schon im Druck erschienen, und ich halte durchaus für möglich, daß Monsieur Saul in der Lage gewesen war, das Werk zu studieren. Jedenfalls also: der Mann hatte Lunte gerochen, er wünschte sich einzuschalten, einen Ruhm aufzubauen, ein Genie ans Licht zu ziehen, es als sein Manager der Neugier der mondänen Gesellschaft, in der er sich bewegte, vorzuführen. Dergleichen einzuleiten war der Zweck seines Besuches, seines ungenierten Eindringens in die Zuflucht schöpferischen Leidens. — Der Vorgang war dieser: Ich war am früheren Nachmittag in Pfeiffering eingetroffen, und bei der Rückkehr von einem Spaziergang ins Feld, den wir, Adrian und ich, nach dem Tee, also kurz nach vier, unternommen, bot sich uns zu unserer Verwunderung der Anblick eines auf dem Hof, bei der Ulme haltenden Automobils, —keiner gewöhnlichen Autodroschke, sondern eines Gefährtes von mehr privatem Ansehen, wie man es, samt Chauffeur, von einem Fuhrgeschäft stunden- und tagweise mietet. Jener, der Chauffeur, auch mit Andeutungen von Herrschaftlichkeit in seiner Tracht, stand rauchend neben seinem Wagen und lüftete, als wir vorübergingen, seine Schirmmütze mit breitem Lächeln, wahrscheinlich im Gedenken an die Spaße des wunderlichen Gastes, den er uns gebracht. Im Haustor trat Frau Schweigestill uns entgegen, eine Besuchskarte in der Hand und mit erschrocken gedämpfter Stimme redend. Ein »Weltmann« sei da, teilte sie uns mit, — das Wort hatte, besonders da es geflüstert wurde, als rasche Bestimmung eines Menschen, den man nur eben eingelassen, etwas wunderlich Geisterhaftes und Sibyllinisches für mich. Vielleicht sollte es zur Erläuterung der anspruchsvollen Bezeichnung dienen, daß Frau Else den Wartenden gleich darauf einen »spinnerten Uhu« nannte. »Scher Madam« habe er ihr gesagt, dann aber »petite Maman«, und

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die Clementine habe er in die Wange gezwickt. Sie habe das Kind vorläufig, bis der Weltmann weg sei, in ihrem Zimmer eingeschlossen. Wegschicken habe sie ihn denn doch nicht können, da er im Auto von München gekommen sei. Er warte im großen Wohnzimmer. Mit bedenklichen Mienen reichten wir einander die Karte, die über ihren Träger alle wünschenswerte Auskunft gab. »Saul Fitelberg. Arrangements musicaux. Repräsentant de nombreux artistes prominents.« Ich war froh, zu Adrians Bedeckung zur Stelle zu sein. Ungern dachte ich ihn mir allein diesem >Repräsentanten< ausgeliefert. Wir begaben uns zum Nike-Saal. Fitelberg stand schon in der Nähe der Tür, und obgleich Adrian mich zuerst eintreten ließ, richtete sich die ganze Aufmerksamkeit des Mannes sogleich auf jenen: nach einem flüchtigen Blick durch seine Hornbrille auf mich bog er sogar seinen feisten Oberkörper zur Seite, um hinter mir nach demjenigen auszulugen, dessentwegen er sich in die Unkosten einer zweistündigen Autofahrt gestürzt hatte. Natürlich ist es kein Kunststück, zwischen einem vom Genius Gezeichneten und einem schlichten Gymnasialprofessor zu unterscheiden; aber die rasche Orientierungsfähigkeit des Mannes, die Fixigkeit, mit der er ungeachtet meines Vorantritts meine Nebensächlichkeit erkannte und sich an den Rechten hielt, hatte trotzdem etwas Eindrucksvolles. »Cher Maitre«, begann er lächelnden Mundes, mit hartem Akzent, aber ungemein flüssig zu plappern, »comme je suis heureux, comme je suis emu de vous trouver! Meme pour un homme gäre, endurci comme moi, c'esttoujoursuneexperience touchante de rencontrer un grand homme. — Enchante, Monsieur le professeur«, fügte er nebenbei hinzu und reichte mir, da Adrian mich vorstellte, lässig die Hand, worauf er sich gleich wieder an die rechte Adresse wandte. »Vous maudirez l'intrus, cher Monsieur Leverkühn«, sagte er, indem er den Namen auf der dritten Silbe betonte, so, als würde er Le Vercune geschrieben. »Mais pour moi, etant une

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fois ä Munich, c'etait tout ä fait impossible de manquer . .. Oh, ich spreche auch deutsch«, unterbrach er sich mit derselben, recht angenehm zu hörenden harten Lautbildung. »Nicht gut, nicht musterhaft, aber zur Verständigung ausreichend. Du reste, je suis convaincu, daß Sie das Französische vollkommen beherrschen, — Ihre Kompositionen von Gedichten Verlaine's sind der beste Beweis dafür. Mais apres tout, wir sind auf deutschem Boden — auf einem wie deutschen, wie heimlichen, wie charaktervollen! Ich bin entzückt von dem Idyll, in das Sie, Maitre, weise genug waren, sich einzuschließen .. . Mais oui, certainement, setzen wir uns, merci, mille fois merci!« Er war ein wohl vierzigjähriger fetter Mann, nicht bauchig, aber fett und weich von Gliedern, mit weißen, gepolsterten Händen, glattrasiert, vollgesichtig, mit Doppelkinn, stark gezeichneten, bogenförmigen Brauen und lustigen Mandelaugen voll mittelmeerischen Schmelzes hinter der Hornbrille. Bei gelichtetem Haar hatte er gute, weiße Zähne, die man, da er immer lächelte, immer sah. Gekleidet war er sommerlich elegant, in einen auf Taille gearbeiteten, bläulich gestreiften Flanellanzug, zu dem er Schuhe aus Leinen und gelbem Leder trug. Die Kennzeichnung, die Mutter Schweigestill ihm verliehen, war heiter gerechtfertigt durch die bequeme Sorglosigkeit seiner Manieren, diese erquickliche Leichtigkeit, die, wie seinem raschen, leicht verwischten, immer ziemlich hoch, zuweilen im Diskant einsetzenden Sprechen, so seinem ganzen Gehaben eigentümlich war und zu der Feistheit seiner Person einen gewissen Widerspruch bildete, während sie sich doch auch wieder harmonisch mit ihr verband. Ich nenne sie erquicklich, diese ihm in Fleisch und Blut übergegangene Leichtigkeit, weil sie einem tatsächlich das komisch-tröstliche Gefühl einflößte, daß man das Leben ganz unnötig schwer nähme. Immer schien sie ausdrücken zu wollen: »Aber warum denn nicht? Was denn weiter? Hat nichts zu sagen! Seien wir vergnügt!« Und unwillkürlich gab man sich Mühe, ihm in dieser Gesinnung zu folgen. Daß er nichts weniger als ein Dummkopf war, darüber wird

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das, was ich aus noch heute frischer Erinnerung von seinen Reden mitteilen will, keinen Zweifel erlauben. Am besten werde ich tun, ihm ganz allein das Wort zu überlassen, da das, was Adrian oder ich allenfalls erwiderten und einwarfen, kaum eine Rolle spielte. Wir nahmen am einen Ende des wuchtigen Langtisches Platz, der das Haupteinrichtungsstück des Bauernsaales bildete: Adrian und ich nebeneinander, der Gast uns gegenüber. Mit seinen Wünschen, seinem Vorhaben hielt dieser nicht lange hinter dem Berge, ohne viel Umschweife kam er zur Sache. »Maitre«, sagte er, »ich verstehe vollkommen, wie Sie an der stilvollen Abgeschiedenheit hängen müssen, die Sie sich zum Aufenthalt erwählt haben, — oh, ich habe alles gesehen, den Hügel, den Teich, das Kirchdorf, et puis, cette maison pleine de dignite avec son hötesse maternelle et vigoureuse. Madame Schweige-still! Mais 9a veut dire: >Je sais me taire. Silence, silence!< Comme c'est charmant! Wie lange leben Sie schon hier? Zehn Jahre? Ununterbrochen? Kaum unterbrochen? C'est etonnant! Oh, sehr begreiflich! Und dennoch, figurez-vous, bin ich gekommen, Sie zu entführen, Sie zu vorübergehender Untreue zu verführen, Sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, sie Ihnen zu Füßen zu legen... Verzeihen Sie meine pompöse Ausdrucksweise! Sie ist wirklich ridiculement exageree, besonders was die >Herrlichkeit< betrifft. Es ist keineswegs so weit her, — keineswegs eine so aufregende Sache mit dieser Herrlichkeit, — das sage ich, der ich doch kleiner Leute Kind bin, aus sehr bescheidenen, um nicht zu sagen: miesen Verhältnissen stamme, — nämlich aus Ljublin mitten in Polen, von wirklich ganz kleinen jüdischen Eltern, — ich bin Jude, müssen Sie wissen: Fiteiberg, das ist ein ausgesprochen mieser, polnisch-deutsch-jüdischer Name, — nur daß ich ihn zu dem Namen eines angesehenen Vorkämpfers avantgardistischer Kultur und, ich kann wohl sagen, eines Freundes großer Künstler gemacht habe. C'est la verite pure, simple et irrefutable. Der Grund ist, daß ich von jung auf nach

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dem Höheren, dem Geistigen und Amüsanten gestrebt habe, — nach dem Neuen vor allen Dingen, das noch das Skandalöse ist, aber das ehren- und zukunftsvoll Skandalöse, das morgen das Höchstbezahlte, die große Mode, die Kunst sein wird. A qui le dis-je? Au commencement etait le scandale. Gottlob, das miese Ljublin liegt weit dahinten! Seit mehr als zwanzig Jahren schon lebe ich in Paris, — was glauben Sie, ich habe dort sogar einmal ein ganzes Jahr lang an der Sorbonne philosophische Vorlesungen gehört. Aber ä la longue langweilte mich das. Nicht als ob nicht auch die Philosophie skandalös sein könnte. O doch, sie kann es. Aber sie ist mir zu abstrakt. Und dann habe ich das dunkle Gefühl, daß man die Metaphysik lieber in Deutschland studieren sollte. Darin wird mein geehrtes vis-ä-vis, der Herr Professor, mir vielleicht recht geben . . . Das nächste war, daß ich ein ganz kleines, exklusives Boulevard-Theater leitete, un creux, une petite caverne für hundert Personen, nomme >Theätre des fourberies gracieuses<. Ist das nicht ein bezaubernder Titel? Aber was wollen Sie, die Sache war ökonomisch nicht haltbar. Die wenigen Plätze mußten so teuer sein, daß wir gezwungen waren, sie alle zu verschenken. Wir waren anstößig genug, je vous assure, aber dabei zu highbrow, wie die Engländer sagen. Mit James Joyce, Picasso, Ezra Pound und der Duchesse de Clermont-Tonnere als Publikum allein kommt man nicht aus. En un mot, die Fourberies gracieuses mußten nach sehr kurzer Spielzeit wieder schließen, aber für mich war das Experiment nicht fruchtlos gewesen, denn es hatte mich immerhin mit den Spitzen des Pariser Kunstlebens, Malern, Musikern, Dichtern, in Verbindung gebracht — in Paris, das darf ich selbst an dieser Stelle wohl sagen, schlägt gegenwärtig der Puls der lebendigen Welt, — es hatte mir auch, in meiner Eigenschaft als ^Direktor, den Zutritt zu mehreren aristokratischen Salons eröffnet, in denen diese Künstler verkehrten . .. Vielleicht werden Sie sich wundern. Vielleicht werden Sie sagen: >Wie hat er das gemacht? Wie brachte der kleine Judenjunge aus der polnischen Provinz es fertig, sich in diesen wäh-

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lerischen Cirkeln, unter der creme de la creme zu bewegen?< Ah, meine Herren, nichts leichter als das! Wie schnell lernt man es, sich eine Smoking-Schleife zu binden, wie schnell, mit vollendeter Nonchalance einen Salon zu betreten, selbst wenn es ein paar Stufen hinuntergeht, und jeden Gedanken daran fernzuhalten, daß einem seine Arme die geringste Sorge machen könnten. Danach hat man nur immerfort >Madame< zu sagen. >Ah, Madame, Oh, Madame, Que pensez-uous, Madame, On me dit, Madame, que vous etes fanatique de musique?< Das ist so gut wie alles. Man überschätzt diese Dinge von weitem ganz ungeheuer. Erifin, die Beziehungen, die ich den Fourberies verdankte, kamen mir zustatten und vervielfältigten sich noch, als ich dann mein Büro zur Organisation von Aufführungen zeitgenössischer Musik eröffnete. Das Beste war: ich hatte mich selber gefunden, denn wie Sie mich da sehen, bin ich Impresario, bin es von Geblüt, bin es notwendigerweise, — es ist meine Lust und mein Stolz, j'y trouve ma satisfaction et mes delices, das Talent, das Genie, die interessante Persönlichkeit herauszustellen, die Trommel dafür zu rühren, die Gesellschaft dafür zu begeistern, oder, wenn nicht zu begeistern, so doch zu erregen, — denn das ist alles, wpnach sie verlangt, et nous nous rencontrons dans ce desir, — die Gesellschaft will aufgeregt, will herausgefordert, in pro und contra auseinandergesprengt sein, für nichts ist sie so dankbar wie für den amüsanten Tumult, qui fournit le sujet für Zeitungskarikaturen und unendliches Geschwätz, — der Weg zum Ruhm führt in Paris über die Verrufenheit, — eine rechte Premiere muß so verlaufen, daß mehrmals während des Abends alles von den Plätzen springt und die Majorität brüllt: >Insulte! Impudence! Bouffonnerie ignominieuse!<, während sechs, sieben inities, Erik Satie, einige Surrealisten, Virgil Thomson, aus den Logen rufen: >Quelle precision! Qüel esprit! Cest divin! Cest supreme! Bravo! Bravo!< Ich fürchte, Sie zu erschrecken, messieurs, — wenn nicht Maitre Le Vercune, so doch vielleicht den Herrn Professor.

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Aber erstens beeile ich mich hinzuzufügen, daß noch nie ein solcher Konzertabend wirklich vor der Zeit abgebrochen werden mußte, — daran ist im Grunde auch den Allerentrüstetsten nichts gelegen, im Gegenteil, sie wünschen, sich noch wiederholt zu entrüsten, darin besteht der Genuß, den ihnen der Abend bereitet, und übrigens bewährt merkwürdigerweise die kleine Zahl der Kundigen eine überlegene Autorität. Zweitens aber ist ja keineswegs gesagt, daß es bei jeder Veranstaltung fortgeschrittenen Charakters zugehen muß, wie ich andeutete. Bei genügender publizistischer Vorbereitung, hinreichender Einschüchterung der Dummheit im voraus, kann man einen durchaus würdigen Verlauf garantieren, und gerade wenn man heute einen Angehörigen der ehemals feindlichen Nation, einen Deutschen präsentiert, ist auf ein vollkommen höfliches Verhalten des Publikums zu rechnen .. . Das ist eben die gesunde Spekulation, auf die mein Vorschlag, meine Einladung sich gründet. Ein Deutscher, un boche qui par son genie appartient au monde et qui marche ä la tete du progres musical! Das ist heutzutage eine extrem pikante Herausforderung an die Neugier, die Vorurteilslosigkeit, den snobisme, die gute Erziehung des Publikums, — desto pikanter, je weniger dieser Künstler sein nationales Gepräge, sein Deutschtum verleugnet, je mehr er Gelegenheit gibt zu dem Ausruf >Ah, ca c'est bien allemand, par exemple!< Denn das tun Sie, eher Maitre, pourquoi pas le dire? Sie geben diese Gelegenheit auf Schritt und Tritt, — nicht so sehr in Ihren Anfängen, zur Zeit von cette >Phosphorescence de la mer< und Ihrer komischen Oper, aber später von Werk zu Werk immer mehr. Gewiß denken Sie, daß ich vor allem Ihre grimmige Disziplin im Auge habe, et que vous enchainez votre art dans un Systeme de regles inexorables et neo-classiques, indem Sie sie ^zwingen, sich in diesen eisernen Fesseln — wenn nicht mit Anmut, so doch mit Geist und Kühnheit zu bewegen. Aber wenn es das ist, was ich meine, so meine ich zugleich mehr als das, indem ich von Ihrer qualite d'Allemand spreche, — ich meine — wie mich ausdrücken? — eine gewisse Viereckigkeit, rhyth-

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mische Schwerfälligkeit, Unbeweglichkeit, grossieret£, die altertümlich deutsch sind — en effet, entre nous, man findet sie auch bei Bach. Werden Sie mir meine Kritik übelnehmen? Non, j'en suis sür! Sie sind zu groß dazu. Ihre Themen, — sie bestehen fast durchweg aus geraden Werten, Halben, Vierteln, Achteln; sie sind zwar synkopiert und hinübergebunden, verharren aber gleichwohl in einer oft maschinell arbeitenden, stampfenden, hämmernden Unwendigkeit und Uneleganz. C'est >boche< dans un degre fascinant. Glauben Sie ja nicht, daß ich es tadle! Es ist einfach enormement caracteristique, und in der Serie von Konzerten internationaler Musik, die ich vorbereitete, ist diese Note ganz unentbehrlich . . . Sehen Sie, da breite ich meinen Zaubermantel aus. Ich werde Sie nach Paris führen, nach Brüssel, Antwerpen, Venedig, Kopenhagen. Man wird Sie mit dem intensivsten Interesse empfangen. Ich stelle die besten Orchester und Solisten zu Ihrer Verfügung. Sie werden die >Phosphorescence< dirigieren, Stücke aus >Love's Labour's Lost<, Ihre >Symphonie Cosmologique<. Sie begleiten am Flügel Ihre Lieder nach französischen und englischen Dichtern, und alle Welt wird entzückt sein, daß ein Deutscher, ein Feind von gestern, diese Weitherzigkeit in der Wahl seiner Texte an den Tag legt, -<- ce cosmopolitisme genereux et versatile! Meine Freundin, Madame Maja de StrozziPecic, eine Kroatin, heute vielleicht die schönste Sopranstimme beider Hemisphären, wird es sich zur Ehre rechnen, diese Sachen zu singen. Für den Instrumentalpart der Hymnen von Keats engagiere ich das Quartett Flonzaley von Genf oder das >Pro Arte<-Quartett von Brüssel. Das Beste vom Besten — sind Sie zufrieden? Was höre ich, Sie dirigieren nicht? Sie tun es nicht? Und auch Pianist wollen Sie nicht sein? Sie lehnen es ab, Ihre Lieder zu begleiten? Ich verstehe. Cher Maitre, je vous comprends ä demi mot! Es ist nicht Ihre Art, sich beim Vollendeten aufzuhalten. Für Sie ist die Ausführung eines Werkes seine Aufführung, es ist für Sie mit der Niederschrift abgetan. Sie spielen es nicht, Sie dirigieren es nicht, denn sogleich würden Sie 534

es verändern, es in Varianten und Variationen auflösen, es weiterentwickeln und vielleicht verderben. Wie ich das verstehe! Mais c'est dommage, pourtant. An persönlichem Reiz erleiden die Konzerte dadurch eine entschiedene Einbuße. Ah, bah, wir werden uns zu helfen wissen! Wir werden uns nach weltbekannten Chefs d'orchestre als Interpreten umsehen — wir werden uns nicht lange umzusehen haben! Der ständige Begleiter von Madame de Strozzi-Pecic wird das Accompagnement der Lieder übernehmen, und wenn Sie, Maitre, nur überhaupt mitkommen, nur überhaupt dabei sind und sich dem Publikum zeigen, so wird nichts verloren, wird alles gewonnen sein. Dies allerdings ist Bedingung, — ah, non! Sie dürfen mir nicht die Aufführung Ihrer Werke in absentia anheimgeben! Ihr persönliches Erscheinen ist unerläßlich, particulierement ä Paris, wo der musikalische Ruhm in drei, vier Salons gemacht wird. Was kostet es Sie, einige Male zu sagen: >Tout le monde sait, Madame, que votre jugement musical est infaillible?< Es kostet Sie nichts, und Sie werden eine Menge Vergnügen davon haben. Als gesellschaftliche Ereignisse kommen meine Veranstaltungen gleich nach den Premieren von Herrn Diaghilews Ballet Russe, — wenn sie nach ihnen kommen. Sie werden jeden Abend eingeladen sein. Nichts schwieriger, im allgemeinen, als in die vornehme Pariser Gesellschaft einzudringen. Für einen Künstler jedoch ist nichts leichter als das — und befände er sich auch erst im Vorstadium des Ruhms, der skandalösen Vielberufenheit. Die Neugier legt jede Barriere nieder, sie schlägt alle Exklusivität aus dem Felde . .. Aber was rede ich viel von der vornehmen Gesellschaft und ihrer Neugier! Ich sehe wohl, daß es mir nicht gelingt, damit Ihre Neugier, eher Maitre, zu entzünden. Wie sollte ich auch? " Ich habe gar nicht im Ernst den Versuch dazu gemacht. Was geht Sie die vornehme Gesellschaft an? Entre nous,—was geht sie mich an? Geschäftlich — dies und das. Aber innerlich? Nicht so viel. Dieses Milieu, dieses Pfeiffering, und das Zusammensein mit Ihnen, Maitre, tragen nicht wenig dazu bei, mir die

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Gleichgültigkeit, die Geringschätzung bewußt zu machen, die ich jener Welt der Frivolität und Oberflächlichkeit entgegenbringe. Dites-moi donc: Stammen Sie nicht aus Kaisersaschern an der Saale? Was für eine ernste, würdige Herkunft! Nun, ich, ich nenne Ljublin meinen Geburtsort, — auch eine würdige, altersgraue Stätte, von der man einen Fonds von severite ins Leben mitnimmt, un etat d'äme solennel et un peu gauche . . . Ach, ich bin der Letzte, Ihnen die elegante Gesellschaft preisen zu wollen. Aber Paris wird Ihnen Gelegenheit geben, die interessantesten, stimulierendsten Bekanntschaften zu machen unter Ihren Brüdern in Apoll, Ihren Mitstrebenden und Pairs, Malern, Schriftstellern, Sternen des Balletts, Musikern vor allem. Die Spitzen europäischer Erfahrung und des artistischen Experiments, sie alle sind meine Freunde, und sie sind bereit, die Ihren zu sein. Jean Cocteau, der Dichter, Massine, der Tanzmeister, Manuel de Falla, der Komponist, Les Six, die sechs Größen der neuen Tonkunst, — diese ganze hohe und amüsante Sphäre des Wagnisses und des Affronts, sie wartet nur auf Sie, Sie gehören dazu, sobald Sie nur wollen... Ist es möglich, daß ich einen gewissen Widerstand auch dagegen in Ihrer Miene lese? Aber hier, eher Maitre, ist nun wirklich jede Scheu, jedes embarras ganz fehl am Platze, — worin immer solche isolierenden Gefühle ihren Grund haben mögen. Ich bin weit entfernt, nach diesen Gründen zu forschen, die respektvolle und, ich möchte sagen, gebildete Annahme genügt mir vollkommen, daß sie vorhanden sind. Dieses Pfeiffering, ce refuge etrange et eremitique, — es wird seine eigene interessante, seelische Bewandnis damit haben — mit Pfeiffering. Ich frage nicht, ich überschlage alle Möglichkeiten, ich ziehe sämtliche, auch die ausgefallensten, freimütig in Betracht. Eh bien, was weiter? Ist das ein Grund zum embarras angesichts einer Sphäre unbegrenzter Vorurteilslosigkeit, — einer Vorurteilslosigkeit, die ihrerseits ihre guten Gründe hat? Oh, la, la! So ein Cirkel den Geschmack bestimmender Genies und mondäner Kunst-Koryphäen pflegt sich ja aus lauter demi-fous excentriques, maroden Seelen und ausgepichten

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Sündenkrüppeln zusammenzusetzen. Ein Impresario, c'est une espece d'infirmier, voilä! Und nun sehen Sie, wie schlecht ich meine Sache führe, dans quelle maniere tout ä fait maladroite! Daß ich es bemerke, ist alles, was zu meinen Gunsten spricht. In der Absicht, Sie zu ermutigen, ärgere ich Ihren Stolz und arbeite sehenden Auges gegen mich selbst. Denn ich sage mir natürlich, daß Ihresgleichen — aber ich sollte nicht von Ihresgleichen sprechen, sondern nur von Ihnen —, daß Sie also Ihre Existenz, Ihr destin als etwas zu Einmaliges betrachten und es zu heilig halten, um es mit anderen zusammenzuwerfen. Sie wollen von den anderen destinees nichts wissen, sondern nur von Ihrer eigenen, als etwas einzigem — ich weiß, ich verstehe. Sie verabscheuen das Herabsetzende aller Generalisierung, Einreihung, Subsumierung. Sie bestehen auf der Unvergleichlichkeit des persönlichen Falles. Sie huldigen einem personalistischen Einsamkeitshochmut, der seine Notwendigkeit haben mag. >Lebt man denn, wenn andere leben?< Ich habe die Frage irgendwo gelesen, ich bin nicht sicher, wo, es war bestimmt an sehr prominenter Stelle. Ausdrücklich oder im stillen fragt ihr alle so, aus bloßer Höflichkeit und mehr zum Schein nehmt ihr voneinander Kenntnis, — wenn ihr Kenntnis nehmt voneinander. Wolf, Brahms und Bruckner lebten jahrelang in derselben Stadt, nämlich in Wien, mieden sich aber wechselseitig die ganze Zeit, und keiner, soviel ich sehe, ist je dem andern begegnet. Es wäre ja auch penible gewesen, bei ihren Urteilen übereinander. Urteile kritischer Kollegialität waren das nicht, sondern solche der Wegleugnung, des aneantissement, um allein zu sein. Brahms hielt von Bruckners Symphonien so wenig wie möglich; er nannte sie unförmige Riesenschlangen. Umgekehrt war Bruckners Meinung von Brahms äußerst gering. Er fand das erste Thema des d-Moll-Konzerts recht gut, stellte aber fest, daß Brahms nie wieder etwas annähernd Gleichwertiges erfunden habe. Ihr wollt nichts voneinander wissen. Für Wolf bedeutete Brahms le dernier ennui. Und haben Sie je seine Kritik der Siebenten von Bruckner im

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Wiener >Salonblatt< gelesen? Man hat da seine Meinung über die Bedeutung des Mannes überhaupt. Er warf ihm >Mangel an Intelligenz< vor — avec quelque raison, denn Bruckner war ja, was man ein einfaches, kindliches Gemüt nennt, versunken in seine majestätische Generalbaß-Musik und ein kompletter Idiot in allen Dingen europäischer Bildung. Stößt man aber auf gewisse briefliche Äußerungen von Wolf über Dostojewski, qui sont simplement stupefiants, so fragt man sich nach der Formung seines eigenen Geistes. Den Text zu seiner nicht mehr vollendeten Oper >Manuel Venegas<, den ein gewisser Dr. Hörnes hergestellt hatte, nannte er ein Wunderwerk, shakespearisch, den Gipfel der Poesie, und wurde geschmacklos bissig, wenn Freunde ihre Zweifel ausdrückten. Nicht genug damit übrigens, daß er einen Hymnus für Männerchor: >Dem Vaterland< komponierte, so wollte er ihn auch dem deutschen Kaiser widmen. Wie finden Sie das? Das Immediat-Gesuch wurde abgewiesen! Tout cela est un peu embarrassant, n'est-ce pas? Une confusion tragique. Tragique, messieurs. Ich nenne es so, weil nach meiner Meinung das Unglück der Welt auf der Uneinheitlichkeit des Geistes, der Dummheit, der Verständnislosigkeit beruht, die seine Sphären voneinander trennt. Wagne.r schmähte den malerischen Impressionismus seiner Zeit als Kleckserei, — streng konservativ, wie der Mann war, auf diesem Felde. Dabei haben seine eigenen harmonischen Ergebnisse doch eine Menge mit dem Impressionismus zu tun, führen zu ihm hin, gehen als Dissonanzen häufig schon über die impressionistischen hinaus. Gegen die Pariser Kleckser spielte er Tizian aus; der sei das Wahre. A la bonne heure. Aber in Wirklichkeit war sein Kunstgeschmack wohl eher etwas zwischen Piloty und Makart, dem Erfinder des dekorativen Bouquets, und Tizian, das war mehr Lenbachs Sache, der seinerseits von Wagner so viel verstand, daß er den >Parsifal< ein Tingel-Tangel nannte — und zwar in des Meisters Gesicht hinein. Ah, ah, comme c'est melancolique, tout c.a! Meine Herren, ich bin schrecklich abgekommen. Aber das

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will sagen: ich bin abgekommen von meinem Vorhaben. Nehmen Sie meine Plauderhaftigkeit als Ausdruck der Tatsache, daß ich auf den Plan verzichtet habe, der mich herführte! Ich habe mich davon überzeugt, daß er undurchführbar ist. Sie werden, Maitre, meinen Zaubermantel nicht besteigen. Ich werde Sie nicht als Ihr Manager in die Welt führen. Sie lehnen es ab, und das sollte mir eine größere Enttäuschung sein, als es tatsächlich ist. Sincerement, ich frage mich, ob es überhaupt eine ist. Nach Pfeiffering kommt man vielleicht zu einem praktischen Zweck, — aber dieser ist stets und notwendig von zweitrangiger Bedeutung. Man kommt, selbst wenn man ein Impresario ist, in erster Linie pour saluer un grand homme. Kein sachlicher Fehlschlag kann dies Vergnügen mindern, besonders nicht, wenn ein gut Teil positiver Genugtuung auf dem Grund der Enttäuschung liegt. So ist es, eher Maitre, unter anderem bereitet Ihre Unzugänglichkeit mir auch Genugtuung, und zwar vermöge des Verständnisses, der Sympathie, die ich ihr unwillkürlich entgegenbringe. Ich tue es gegen mein Interesse, aber ich tue es, — als Mensch, möchte ich sagen, wenn das nicht eine zu weite Kategorie wäre, ich sollte mich spezieller ausdrücken. Sie wissen wohl gar nicht, Maitre, wie deutsch Ihre repugnance ist, die sich, wenn Sie mir erlauben, en psychologue zu sprechen, aus Hochmut und Inferioritätsgefühlen charakteristisch zusammensetzt, aus Verachtung und Furcht, — sie ist, möchte ich sagen, das Ressentiment des Ernstes gegen den Salon der Welt. Nun, ich bin Jude, müssen Sie wissen, — Fitelberg, das ist ein eklatant jüdischer Name. Ich habe das Alte Testament im Leibe, und das ist eine nicht weniger ernsthafte Sache als das Deutschtum — es schafft im Grunde geringe Disposition für die Sphäre der Valse brillante. Zwar ist es ein deutscher Aberglaube, daß es draußen nur Valse brillante gibt und Ernst nur in Deutschland. Und doch, man ist als Jude im Grunde skeptisch gesinnt gegen die Welt, zugunsten des Deutschtums, auf die Gefahr hin natürlich, Fußtritte einzuhandeln für seine Neigung. Deutsch, das heißt ja vor allem:

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volkstümlich — und wer glaubte einem Juden Volkstümlichkeit? Nicht nur, daß man sie ihm nicht glaubt, — man gibt ihm ein paar über den Schädel, wenn er die Zudringlichkeit hat, sich darin zu versuchen. Wir Juden haben alles zu fürchten vom deutschen Charakter, qui est essentiellement anti-semitique, — Grund genug für uns natürlich, uns zur Welt zu halten, der wir Unterhaltungen und Sensationen arrangieren, ohne daß das besagte, daß wir Windbeutel oder auf den Kopf gefallen sind. Wir wissen sehr wohl zwischen Gounods >Faust< und dem von Goethe zu unterscheiden, auch wenn wir französisch sprechen, auch dann . . . Meine Herren, ich sage das alles nur aus Verzicht, wir haben geschäftlich ja ausgeredet, ich bin schon so gut wie fort, ich habe den Türgriff schon in der Hand, wir sind ja längst auf den Füßen, ich plaudere nur noch pour prendre conge. Gounods >Faust<, meine Herren, wer wollte die Nase darüber rümpfen? Ich nicht und Sie nicht, wie ich zu meinem Vergnügen sehe. Eine Perle — une marguerite, voll der entzückendsten musikalischen Erfindungen. Laisse-moi, laisse-moi contempler — bezaubernd! Auch Massenet ist bezaubernd, lui aussi. Besonders reizend muß er als Pädagog gewesen sein, — als Professor am Conservatoire, man kennt Geschichtchen darüber. Von Anfang an sollten seine Kompositionsschüler zu eigener Produktion angeregt werden, ganz gleich, ob ihr technisches Können ausreichte, einen fehlerlosen Satz zu schreiben. Human, nicht wahr? Deutsch ist es nicht, aber human. Ein Junge kam zu ihm mit einem frisch komponierten Lied, — frisch und von einiger Begabung zeugend. >Tiens!< sagte Massenet. >Das ist wirklich ganz nett. Höre, du hast doch gewiß eine liebe kleine Freundin. Spiel es der vor, es wird ihr gewiß gefallen, und das weitere wird sich dann schon finden.< Es ist ungewiß, was unter dem >weiteren< zu verstehen ist, — alles mögliche wahrscheinlich, die Liebe betreffend und die Kunst. Haben Sie Schüler, Maitre? Die hätten es gewiß nicht so gut. Aber Sie haben gleich gar keine. Bruckner hatte welche. Er hatte selbst von früh an mit der Musik und ihren heiligen Schwierigkeiten gerungen, wie

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Jakob mit dem Engel, und eben das verlangte er von seinen Studenten. Jahrelang mußten die das heilige Handwerk, die Grundelemente der Harmonie und des strengen Satzes üben, bevor ihnen erlaubt war, ein Lied zu singen, und zu einer lieben kleinen Freundin hatte diese Musik-Pädagogik nicht die geringste Beziehung. Man ist ein einfaches, kindliches Gemüt, aber die Musik ist einem die geheimnisvolle Offenbarung höchster Erkenntnisse, ein Gottesdienst, und der musikalische Lehrberuf ein priesterliches A m t . . . Comme c'est respectable! Pas precisement humain, mais extremement respectable! Sollen wir Juden, die wir ein priesterliches Volk sind, auch wenn wir in Pariser Salons minaudieren, uns nicht zum Deutschtum hingezogen fühlen und uns nicht ironisch stimmen lassen von ihm gegen die Welt und die Kunst für die kleine Freundin? Volkstümlichkeit wäre für uns eine den Pogrom herausfordernde Frechheit. Wir sind international, — aber wir sind pro-deutsch, sind es wie niemand sonst in der Welt, schon weil wir gar nicht umhinkönnen, die Verwandtschaft der Rolle von Deutschtum und Judentum auf Erden wahrzunehmen. Une analogie frappante! Gleicherweise sind sie verhaßt, verachtet, gefürchtet, beneidet, gleichermaßen befremden sie und sind befremdet. Man spricht vom Zeitalter des Nationalismus. Aber in Wirklichkeit gibt es nur zwei Nationalismen, den deutschen und den jüdischen, und der aller anderen ist Kinderspiel dagegen, — wie das Stockfranzosentum eines Anatole France die reine Mondänität ist im Vergleich mit der deutschen Einsamkeit — und dem jüdischen Erwähltheitsdünkel... France — ein nationalistischer nom de guerre. Ein deutscher Schriftsteller könnte sich nicht gut >Deutschland< nennen, so nennt man höchstens ein Kriegsschiff. Er müßte sich mit >Deutsch< begnügen, — und da gäbe er sich einen jüdischen Namen, — oh, la, la! Meine Herren, dies ist nun wirklich der Türgriff, ich bin schon draußen. Ich sage nur eines noch. Die Deutschen sollten es den Juden überlassen, pro-deutsch zu sein. Sie werden sich mit ihrem Nationalismus, ihrem Hochmut, ihrer Unvergleich-

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lichkeitspuschel, ihrem Haß auf Einreihung und Gleichstellung, ihrer Weigerung, sich bei der Welt einführen zu lassen und sich gesellschaftlich anzuschließen, — sie werden sich damit ins Unglück bringen, in ein wahrhaft jüdisches Unglück, je vous le jure. Die Deutschen sollten dem Juden erlauben, den mediateur zu machen zwischen ihnen und der Gesellschaft, den Manager, den Impresario, den Unternehmer des Deutschtums — er ist durchaus der rechte Mann dafür, man sollte ihn nicht an die Luft setzen, er ist international, und er ist pro-deutsch . . . Mais c'est en vain. Et c'est tres dommage! Was rede ich noch? Ich bin längst fort. Cher Maitre, j'etais enchante. J'ai manque ma mission, aber ich bin entzückt. Mes respects, Monsieur le professeur. Vous m'avez assiste trop peu, mais je ne vous en veux pas. Mille choses ä Madame Schwei-ge-still. Adieu, adieu...«