Bitcoin-Allzeithoch: Wahre Bitcoiner verkaufen jetzt nicht! Oder? Ijoma Mangold 13–16 Minuten Seit nun mehr als 15 Jahren, seit dem 3. Januar 2009, gibt es das dezentrale Bitcoin-Netzwerk. Seither wird etwa alle zehn Minuten der Blockchain ein neuer Block hinzugefügt mit den jüngsten Bitcoin-Transaktionen, damit klar ist, wem was gehört. Das ist die Grundlage, das ist die Basis, das ist die einzige Wahrheit, die über Sein oder Nichtsein des Bitcoin-Netzwerks entscheidet. In diesen 15 Jahren ist das Netzwerk nicht einmal ernsthaft ins Stottern geraten, noch nicht einmal ist der Konsens über die Transaktionshistorie in systemgefährdender Weise strittig gewesen. Tick tock, next block – nur darauf kommt es an, auf diese Kontinuität und Verlässlichkeit. Ähnlich wie beim Stromnetz, dessen Herausforderung auch darin besteht, die Grundlast jederzeit sicherzustellen, damit es nie zu einem Blackout kommt. Ein Aussetzer, und alles Vertrauen geht flöten. Über diesen geradezu buddhistischen Grundbass legt sich alle paar Jahre in wiederkehrenden Zyklen eine deutlich schrillere und aufgeregtere Tonspur – das ist, wenn der Bitcoin-Kurs neue Allzeithochs anstrebt. Dann dreht sich alles plötzlich nur noch um den Preis. Und mit den Preisen steigt nicht nur die mediale Aufmerksamkeit, auch die zahllosen Bitcoin-Podcasts verzeichnen rasant wachsende Zuhörerzahlen, Bitcoin-Bücher verkaufen sich besser, die Fomo, die Angst, etwas zu verpassen, läuft heiß, neue Interessierte eröffnen Konten auf Bitcoin-Börsen, und selbst der Chart der Google-Suche für Bitcoin schnellt signifikant in die Höhe. Letzteres ist interessanterweise im Moment noch nicht passiert, was ein Zeichen dafür sein könnte, dass wir noch am Anfang des neuen Bullenmarkts stehen. Anders gesagt: Im Bärenmarkt, also in der Zeit, in der der Kurs schwächelt, wird still und fleißig an der Entwicklung der Technologie gearbeitet. Im Bullenmarkt sind die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf die Bitcoiner gerichtet, und plötzlich geht es nur noch um den Preis. Wie wenig die breite Masse Bitcoin bislang verstanden hat, lässt sich an dieser fundamentalen Differenz sehr gut ablesen: Für die Öffentlichkeit ist Bitcoin dann ein Erfolg, wenn er neue Preisrekorde erzielt, für Bitcoiner hingegen, wenn seine Technologie funktioniert und damit beweist, dass die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte über ein dezentrales, nicht manipulierbares Geldsystem verfügt, dessen Geldmenge keine Zentralbank ausweiten und dessen Transaktionen kein Staat zensieren kann. Die Frage nach dem Preis ist für Bitcoiner vulgär Während die öffentliche Meinung im Bitcoin ein wildes Casino sieht und Bitcoiner für Hasardeure mit Dollarzeichen in den Augen hält, die auf den nächsten Lamborghini warten, gilt die Frage nach dem Preis unter Bitcoinern als vulgär. Fremd- und Selbstwahrnehmung könnten also gar nicht krasser auseinanderfallen. Und das ist auch kein Wunder. Denn die Öffentlichkeit schaltet, metaphorisch gesprochen, den Fernseher immer erst dann ein, wenn der Bitcoin-Kurs zu neuen Rekorden eilt oder am Ende des Zyklus spektakulär abstürzt (und beides tut er zyklisch wiederkehrend, wobei jeder Absturz in der Regel höher ist als das vorangegangene all-time high), während Bitcoiner die Mühen der Ebene kennen, geistig-seelisch also auch den Bärenmarkt durchstehen müssen, ohne zu verkaufen. Und das kriegen sie nur deswegen so gut hin, weil der Bitcoin sie technologisch, politisch, ökonomisch und philosophisch so fasziniert, dass der Preis wirklich sein uninteressantester Aspekt ist. Ich weiß, das glaubt mir jetzt niemand aus der Normie-Welt – und es stimmt auch nicht zu 100 Prozent, denn, keine Frage, der Bitcoin will Geld sein, sogar das bessere Geld, was seinen Werterhalt betrifft. Und ein Geld, das immer nur an Wert verliert, nun, dafür bräuchte die Welt den Bitcoin nicht, dafür gibt es schon andere Währungen, etwa den Dollar, der seit 1913, seit der Gründung der Fed, 94 Prozent seines Wertes verloren hat. Bitcoin ist in den Nachwehen der Finanzkrise entstanden, als trotzige Reaktion auf das Bankencasino, und durchgesetzt hat sich Bitcoin nur, weil er ein glaubwürdiges Knappheitsversprechen bietet. Diese Knappheit macht seinen Wert aus. Nie wird es mehr als 21 Millionen Bitcoin geben. Wem Knappheit als ökonomische Größe nicht wichtig ist, der sollte einen großen Bogen um Bitcoin machen. Ob jemand ein Wal ist, sieht man ihm nicht an Was ich sagen will: Ein Bitcoin, der an Wert verliert, würde nicht taugen zum Wertspeicher, insofern ist es natürlich Quatsch, zu sagen, der Preis spiele überhaupt keine Rolle. Aber was die Bitcoiner bei der Stange hält und weshalb sie ohne Klagen und Selbstzweifel den letzten Kryptowinter, der heftig und lang war, durchgestanden haben, ist tatsächlich die intellektuelle Faszination für eine technologische Innovation, die erstmalig digitale Knappheit garantiert. Man kann das in diesen Tagen gut auf Madeira beobachten, wo eine hochkarätig besetzte Bitcoin-Konferenz, die Bitcoin Atlantis, stattfindet. Den Eröffnungsvortrag hielt der jünglingshafte Jack Mallers, CEO von Strike, einem Bitcoin-Zahlungsabwickler. Er bat das Publikum um volle Konzentration, denn er wolle in seinem Vortrag eine wirklich harte Nuss knacken, nämlich das Verständnis vertiefen, warum der eigentliche Innovationsclou an Bitcoin dessen selbst erzeugte Eigenzeit sei und warum das System nur wegen der Entropie funktioniere. Immer wieder atmete Mallers tief durch und fragte, ob ihm auch noch alle folgten, ihm sei klar, dass das jetzt ganz schön anspruchsvoll sei. Doch die Augen der Bitcoiner glühten – diese philosophischen IQ-Tests sind ihre wahren Hochämter. Immer geht es um Education, alle haben sie Stunden an Nachdenkzeit investiert, um ein besseres Bitcoin-Verständnis zu gewinnen. Den Bitcoin-Preis hat Jack Mallers nicht einmal erwähnt – er spielt auch sonst auf der Konferenz kaum eine Rolle. Es geht um anderes, um viel weitreichendere Herausforderungen – vor allem immer wieder um die Frage, wie man das Bitcoin-Netzwerk, wenn es immer weiter wächst, effizienter skalieren kann, weil schon jetzt wegen des limitierten Speicherplatzes pro Block die Gebühren für einzelne Transaktionen langsam beginnen, teuer zu werden. Hier wird man auf nachgeordnete Lösungen, sogenannte Layer-2-Applikationen wie Lightning und Liquid ausweichen, und da ist eben noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten. Nirgends knallen Champagnerkorken Kurz: Auch wenn alle selig lächelten, Champagnerkorken haben nirgends geknallt. Auf dem Weg vom Flughafen nach Funchal fragte ich einen jungen Bitcoiner, ob er den inseltypischen Wein Madeira kenne. Er räumte ein, er sei nur ein Biertrinker – und schmunzelnd fügte er hinzu: "Aber wenn das so weitergeht, werde ich ja bald in ganz anderen Kreisen verkehren, da muss ich dann wohl lernen, Wein zu trinken." Natürlich sind auf der Bitcoin Atlantis auch viele OGs, Original Gangsters, meist Entwickler und Informatiker, die Bitcoin schon früh entdeckten, als dieser noch nicht mal 100 Dollar kostete. Sie zählen zu den sogenannten Walen, die über 1.000 bis 5.000 Bitcoin verfügen. Aber ob jemand ein Wal ist oder nicht, sieht man ihm hier beim besten Willen nicht an. Wale verraten sich allenfalls dadurch, dass sie eine Bitcoin-Anekdote aus dem Jahr 2011 erzählen. Dann ahnt man, zu welchem Preis derjenige seine ersten Bitcoin gekauft haben dürfte. Ansonsten ist es, als würde die gute alte Etikette des Kulturbürgertums auch unter Bitcoinern gelten: Über Geld spricht man nicht. Dafür umso mehr über das kaputte Geldsystem. Ego Death heißt ein amerikanischer Venture-Capital-Fonds, der in Bitcoin-Start-ups wie die Schweizer Bitcoin-App Relai investiert. Zwei der klügsten Bitcoin-Analysten, Lynn Alden und Preston Pysh, beraten den Fonds. Ego Death lud seine Investoren zu einem kleinen Empfang auf einer Dachterrasse mit spektakulärem Blick über den Atlantik ein, und auch der Twitter-Gründer Jack Dorsey, der seine ganze intellektuelle und finanzielle Energie in dezentrale Technologien (wie Bitcoin und Nostr) steckt, schaute vorbei. Natürlich herrschte gute Stimmung, aber auch hier wurde nicht über die Rendite geredet, sondern über die Verführungskraft neuer Ideen. Eher ist es so, dass man in der Community den Spott der Mitwelt über die Bitcoiner vermisst, der diese auch zusammengeschweißt hat. Gerne wird hier daran erinnert, dass es keinen besseren Kontraindikator für den Bitcoin gebe als die EZB: Als diese im November 2022 erklärte, Bitcoin sei endgültig tot, war die Bodenbildung des Bitcoin-Preises bei etwa 16.000 Dollar erreicht, seither ging es nur noch bergauf, mit 150 Prozent Gewinn allein im Jahr 2023. Ein Bescheidenheitsethos, das jederzeit in Gefahr ist, zu zerbröseln Insgesamt gibt es in der Community also ein Bescheidenheitsethos, das aber jederzeit in Gefahr ist, zu zerbröseln. Wie soll man es beschreiben? Es ist nicht der Preis, der den Bitcoinern zu Kopfe steigt, allenfalls der Preis als Chiffre dafür, dass sie recht behalten haben. Wie wurden sie in der Vergangenheit bei jedem Crash verhöhnt! Aber gerade weil man sich auf der richtigen Seite der Geschichte zu wissen meint, gilt es im Höhenflug des Bullenmarkts, auf keinen Fall in Posen des Triumphalismus zu verfallen, sondern geduldig jedem, der von sich aus Interesse zeigt, Bitcoin zu erklären. Die anziehenden Preise bereiten dabei fast eher Sorge als Jubel, denn je langsamer die Bitcoin-Adaption vonstattengeht, desto schmerzfreier dürfte dieser Prozess auch für die sein, die erst später hinzukommen. Die enorme Preisdynamik, die im Moment zu spüren ist, empfinden viele deshalb als unheimlich. Bitcoiner sind Profis darin, mit Volatilität umzugehen, denn Bitcoin ist, keine Frage, sehr volatil. Wenn man beim Blick auf den Bitcoin-Chart nämlich nicht herauszoomt und die langen Verläufe in den Blick nimmt, dann sieht diese Vermögensklasse immer aus wie entweder eine rasant sich aufblähende oder wie eine spektakulär geplatzte Blase. Das ist aber alles buchstäblich optische Täuschung. Schaut man hingegen in einem logarithmischen Chart auf die lange Frist, auf die letzten vier Zyklen, dann stellt sich sein Kurs als klar aufsteigende Linie dar – die Volatilität ist weg. Für den einzelnen Anleger ist es eine Frage seiner Geduld und seiner guten Nerven. Bitcoiner sind keine Konsumisten, eher schon Asketen Die meisten Menschen hingegen steigen ein, nicht weil sie Bitcoin verstanden haben, sondern weil sein Preis sie kirre gemacht hat. Mit diesem Mindset ist es dann natürlich schwierig, Rückschläge auszuhalten. Diese Leute kaufen teuer und verkaufen billig. Keine gute Strategie. Wahre Bitcoiner sind sogenannte Hodler, sie halten und denken überhaupt nicht ans Verkaufen. Das ist es, was diese Wochen gerade zu einem so spannenden Experiment macht. Seit Januar, seit die amerikanische Börsenaufsicht SEC Bitcoin-ETFs genehmigt hat, ist die Wall Street von BlackRock bis zu Schwab und Fidelity zum ersten Mal in Bitcoin engagiert. Das erhöht logischerweise die Nachfrage. Aber jetzt passiert womöglich etwas auch für die Wall Street Neues: Erstmals hat sie es nämlich mit einer Anlageklasse zu tun, die sich bei steigender Nachfrage nicht vermehren lässt. Wenn Immobilienpreise steigen, wird halt mehr gebaut. Wenn der Goldpreis steigt, wird mehr Gold geschürft. Wenn der Aktienkurs steigt, können neue Aktien emittiert werden. Beim Bitcoin ändert sich angebotsseitig nichts. Und gleichzeitig ist es ein Markt von Überzeugungstätern. Mehr als 70 Prozent aller Bitcoin sind im letzten Jahr nicht verschoben worden. Der Preis muss mutmaßlich deutlich höher steigen, bis überzeugte Bitcoiner schwach werden und sich von ihrem geliebten Langzeit-Sparvehikel trennen. Für sie dreht sich alles um langfristiges Denken. Sie sind das Gegenteil von Konsumisten, eher schon Asketen. Auch hier klaffen Fremd- und Selbstwahrnehmung auseinander. Und noch ein Effekt kommt hinzu: Mit jedem Bärenmarkt, mit jedem Rücksetzer wandern Bitcoin von schwächeren in stärkere Hände – die sogenannten diamantenen Hände der Hodler. "Buy the motherfucking dip!", lautet der kategorische Imperativ von Bitcoinern: Nutze Rücksetzer, um BTC zum Discountpreis zu kaufen. Mit dem günstigen Nachkaufen ist es jetzt erst mal vorbei. Im April kommt das nächste Halving, ab da werden dann pro Block noch einmal weniger Bitcoin ausgeschüttet, die Angebotsseite verkürzt sich noch einmal. Was das mit dem Preis machen wird? Da hilft dann nur noch Yoga. Oder wie Bitcoiner sagen: "Stay humble and stack sats!" Transparenzhinweis: Unser Autor hat selbst in Bitcoin investiert.