https://www.spiegel.de/politik/zeitenwende-eine-zukunft-ohne-fortschritt-ein-debattenbeitrag-a-2d99303b-9a4e-4e7c-86cb-fc1fb1458e79 Freiheit, Wohlstand, Globalisierung Alles wird besser, alles wird mehr? Das war einmal Die moderne Gesellschaft lebt von positiven Zukunftserwartungen. Doch was passiert, wenn diese Versprechen nicht mehr gehalten werden können? Ein Debattenbeitrag von Andreas Reckwitz 18.09.2022, 16.48 Uhr • aus DER SPIEGEL 38/2022 Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist einer der angesehensten Soziologen Deutschlands. Zuletzt erschien von ihm »Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?« (zusammen mit Hartmut Rosa). Von der »Zeitenwende«, von der Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar dieses Jahres sprach, ist nun allenthalben die Rede. Die Aussage bezog sich auf die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Aber auch über die Konsequenzen des Kriegs hinausreichend, stellt sich vielen die Frage, inwiefern sich die westlichen Gesellschaften im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in einer Situation wiederfinden, in der grundlegende Gewissheiten nicht mehr gelten. Die modernen Gesellschaften leben vom Mythos des Neuanfangs, von den Revolutionen, Reformen, Disruptionen und Avantgarden, vom »großen Beginnergefühl« (Brecht). Aber es ist bezeichnend, dass der Begriff der Zeitenwende diese hoffnungsvollen Assoziationen nicht zu erwecken vermag. Im Gegenteil: Er ruft die Besorgnis hervor, dass es danach nicht besser werde, sondern schlechter. Es spricht tatsächlich einiges dafür, dass sich in den westlichen Gesellschaften mit immer größerer Rasanz Veränderungen vollziehen, die grundsätzlich den Motor betreffen, der sie vorantreibt: den Imperativ des Fortschritts. Ohne den Fortschrittsimperativ und das Fortschrittsversprechen, ohne die Vorstellung, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart, so wie auch die Gegenwart bereits besser ist als die Vergangenheit, kann die moderne Gesellschaft bisher nicht existieren. Sie lebt von positiven Zukunftserwartungen. Das Vertrauen, dass dieser Fortschritt einen quasi zwangsläufigen Mechanismus zum »Besser« und »Mehr« – insbesondere an Freiheit, Wohlstand und internationaler Kooperation – darstellt, wird jedoch brüchig. Stattdessen werden gegenwärtig allerorten Verluste sichtbar und schmerzhaft empfunden, oder man fürchtet sie in der Zukunft: Verluste im deindustrialisierten Mittleren Westen der USA, wo man Donald Trump wählte, oder in den Kleinstädten Frankreichs, in denen vor wenigen Jahren die Gelbwesten protestierten, Verluste auf den landwirtschaftlichen Gütern Andalusiens oder Norditaliens, in denen die klimabedingte Dürre zerstörerisch wirkt, Verluste an Sicherheit und Wohlstand – Stichwort Energiekrise – infolge der schlagartig durchbrechenden internationalen Konfrontation zwischen westlich-liberalen und autoritären Systemen, wie sie im Ukrainekrieg deutlich wird. Was hat es nun mit dem Fortschritt und der Modernisierung auf sich? Und was mit den Verlusten? Und wie kann es weitergehen? Das Pathos des Fortschrittsbegriffs bröckelt schon seit Längerem. Die Kritik der Intellektuellen am nur scheinbaren Fortschritt, an der Entfremdung, ökologischen Zerstörung, Ausbeutung, ja Barbarei, welche der weltweite Modernisierungsprozess mit sich bringe, ist so alt wie die Moderne selbst. Wer als Intellektueller an einen eindeutigen Fortschritt der Menschheit glaubt, steht unter Naivitätsverdacht. Aber man sollte sich nicht täuschen: Trotz dieser verbreiteten Fortschrittskritik ist der in den Institutionen und Lebenswelten verankerte Fortschrittsimperativ bis in die Gegenwart hinein enorm wirkungsmächtig. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der Industrialisierung und der Französischen Revolution, mit breiter gesellschaftsprägender Kraft nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge des technologischen und wirtschaftlichen Aufschwungs der »dreißig glorreichen Jahre« (Fourastié) von 1946 bis 1975, schließlich in einem letzten Schub nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und mit der scheinbaren Zwangsläufigkeit der Globalisierung – der Fortschrittsimperativ treibt die westlichen Gesellschaften voran. Sie leben von positiven Zukunftserwartungen. Die Zukunft erscheint ihnen als ein Versprechen – ein Versprechen auf kontinuierliche, scheinbar grenzenlose Verbesserung. Der Philosoph Karl Löwith argumentierte einmal, dass in diesem modernen Fortschrittsglauben insgeheim ein religiöses Erbe fortwirke, die Hoffnung des Christentums auf ein »Heilsgeschehen«. Der Fortschrittsglaube bringe gewissermaßen das Reich Gottes auf die Erde. Er bezeichnet letztlich eine höchst ungewöhnliche Vorstellung: eine Fortschrittsreligion. Trotz dieser besonderen kulturellen Voraussetzungen sind die positiven Zukunftserwartungen und das Vertrauen in die Entwicklung zum Besseren bis heute in der allgemeinen Systemlogik der wichtigsten Institutionen verankert: Die modernen Wissenschaften und die Technik gründen auf der Vorstellung, dass über die Entdeckungen und Erfindungen die Natur immer besser beherrschbar werde. Die kapitalistische Ökonomie gründet auf der Vorstellung von Wirtschaftswachstum, von immer neuen technischen Disruptionen, die sich nutzen lassen und die Massenwohlstand ermöglichen. Die moderne Politik schließlich gründet auf dem Versprechen der Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bürgerinnen und Bürger. Zwar mag es auch Phasen geben, in denen an den Opfergeist appelliert wird, aber dies kann nur temporär sein. Generell setzt die Politik der Moderne auf die Hoffnung »The best is yet to come« (Barack Obama). Der Fortschrittsglaube der modernen Gesellschaft basiert, wie es der französische Philosoph Pierre Charbonnier jüngst in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat, auf der doppelten Verheißung von »Überfluss und Freiheit«, auf der Entfaltung der Rechte und Möglichkeiten der Individuen und auf ein Leben im Wohlstand. Die Lebensführung der Mittelklasse, der sozialen Trägergruppe des Modernisierungsprozesses, wurzelt in dem Vertrauen, dass man den Fortschritt innerhalb der eigenen Lebenswelt erfährt: im sozialen Aufstieg und darin, dass Lebensstandard und Lebensqualität wachsen – ob für einen selbst im Laufe der Biografie oder zumindest für die nächste Generation. VW Käfer in den Sechzigerjahren VW Käfer in den Sechzigerjahren Foto: H. Armstrong Roberts / ClassicStock / Getty Images Man kann natürlich einwenden, dass dieser Fortschrittsglaube seine Versprechen niemals durchgängig eingelöst hat. Immer gab es in der Geschichte der Moderne soziale Gruppen, für die dieses Versprechen nicht galt, die marginalisiert oder unterdrückt wurden, Weltgegenden, in denen die Probleme des Westens externalisiert wurden. Immer hatte der Fortschritt auch seine Kosten, sei es in der Naturzerstörung durch die Industrialisierung oder einem verschärften Leistungs- und Konkurrenzdruck. Der American Dream ist immer auch Ideologie gewesen. Trotzdem: dass der Fortschrittsimperativ seine Versprechen zumindest teilweise eingelöst hat, wird man kaum bestreiten können. Insbesondere Deutschland – und dabei vor allem Westdeutschland – hat sich angewöhnt, in seiner jüngeren Geschichte eine erstaunliche Vorwärtsentwicklung wahrzunehmen. Daher sind nun die Einsicht in die Brüchigkeit des Fortschrittsversprechens und in die Realität der Verluste hierzulande besonders schmerzhaft. Die verschiedenen westlichen Gesellschaften unterscheiden sich in dieser Hinsicht durchaus: Die USA beispielsweise, die bis in die 1960er-Jahre hinein die Speerspitze des Zukunftsoptimismus bildeten, werden bereits seitdem von Selbstzweifeln, Niedergangsszenarien und politischer wie kultureller Polarisierung begleitet. Deutschland hingegen, das 1945 nach dem Ende des Nationalsozialismus und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sowie mit der Verantwortung für den Holocaust seinen Tiefpunkt erreichte, ist seinem Selbstverständnis zufolge danach zum Musterschüler des Modernisierungsprozesses avanciert. Man hat sich angewöhnt, die (west-)deutsche Geschichte seitdem als eine »success story« zu erzählen: in den 1950er- und 1960er-Jahren das Wirtschaftswunder, der Wiederaufbau, die Westbindung und der Aufstieg einer immer wohlhabenderen Mittelklasse; anschließend in den 1970er-Jahren ein durch die 68er und die sozialliberale Regierung angestoßener Prozess gesellschaftlicher Liberalisierung; 1989/90 dann der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung im Zentrum des ebenfalls vereinten Europas, zugleich ökonomischer Profiteur der Globalisierung; Deutschland – ein einziges »Sommermärchen«? Nun war die deutsche success story immer schon reichlich einseitig: Die Verbitterung über die Statusverluste vieler Menschen in Ostdeutschland nach der Wende oder die Erfahrung der Prekarität in jenem großen Niedriglohnsektor, der sich in den 2000er-Jahren ausgebildet hat, widersprechen der Vorstellung, dass es für alle aufwärtsgegangen sei. Vor allem lässt sich die besondere deutsche Erfahrung nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Dass Verlust- und Negativerfahrungen sich ausbreiten und sich gesellschaftlich artikulieren, ist mittlerweile in allen westlichen Gesellschaften ein verbreitetes Phänomen. Auch vor Deutschland macht diese Verlusteskalation nicht halt. Das Fortschrittsversprechen scheint mehr und mehr erschüttert. Vor allem drei Komplexe negativer Erfahrungen sind zu nennen, in denen anstelle eines Vorwärts und Aufwärts ein Rückwärts und Abwärts erlebt wird: der soziale Abstieg, der soziokulturelle Verzicht und die politische Regression. Foto: via www.imago-images.de / imago images/BildFunkMV Dass die westliche Mittelklasse nicht mehr ohne Weiteres von einem scheinbar automatischen Aufstieg für sich und die kommenden Generationen ausgehen kann, stellte für den Fall der USA Katherine Newman bereits 1993 in ihrem Buch »Declining Fortunes. The Withering of the American Dream« detailliert dar. Der wirtschaftliche Boom, der aus der Nachkriegszeit bis in die 80er-Jahre andauerte, und der enorme Wohlstandsgewinn, den er für große Teile der Gesellschaft bedeutete, erweisen sich im Rückblick als eine außergewöhnliche Phase. Die neue Konfrontation mit dem sozialen Abstieg kennt verschiedene Spielarten: Die Deindustrialisierung hat ein großes Segment gut bezahlter und angesehener Positionen in der Industriearbeiterschaft verschwinden lassen, an deren Stelle Jobs einer »service class« mit geringem sozialem Status getreten sind. Andere Teile der Mittelklasse bleiben vergleichsweise stabil, aber um den gleichen Lebensstandard zu halten, sind mehr Qualifikation und mehr Arbeit nötig. Hier findet nicht wirklich ein Abstieg statt, aber die positive Zukunftserwartung eines weiteren Aufstiegs wird unrealistisch. Das klassische gesellschaftliche Versprechen an die Mittelklasse, wenn sie nur fleißig in ihren Status investiere – über Bildung, Arbeitsleistung, Immobilienbesitz –, ist in Europa und Nordamerika höchst fragil geworden. Neben den sozialen Abstiegsängsten und Statusverlusten ist die Negativerfahrung des Verzichts ein zweiter Komplex, der den Fortschrittsimperativ konterkariert. Der wichtigste Hintergrund für diesen Verzicht ist der Klimawandel. Spätestens mit der Fridays-for-Future-Bewegung und der lebensweltlichen Präsenz von Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen und Naturkatastrophen sind die Erderwärmung und ihre Auswirkungen ins gesellschaftliche Bewusstsein getreten. Der Umgang mit ihnen führt zu einer Fülle von strategischen und ethischen Überlegungen, die allesamt auf den gemeinsamen Nenner des Verzichts auf bisher gewohnte Lebensoptionen – wo man lebt, wie man sich fortbewegt und was man konsumiert – bringen lassen. Bisherige Wohnorte können aus Klimagründen in Zukunft nicht mehr opportun erscheinen. Die automobile Lebensform, das Signum der industriellen Moderne, steht vor einem Rückbau zugunsten anderer Verkehrsformen. Dass eine stark an tierischen Produkten orientierte Ernährung enorm klimaschädlich ist, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Am tief greifendsten stellt sich die Frage des Verzichts in der politisch-ökonomischen Bewegung der Wachstumskritik und des Degrowth. Das ist neu: Wenn Verzicht in der Moderne bisher ein Thema war, dann als ein vorübergehendes Sparen, um sich in der Zukunft zu verbessern. Aber beim Verzicht in der Spätmoderne geht es um etwas anderes: darum, bestimmte Lebensoptionen nicht temporär, sondern auf Dauer aufzugeben. Der Traum von »Überfluss und Freiheit« scheint zu platzen. Ein dritter Komplex von Verlusten, die das Fortschrittsversprechen relativieren, betrifft die politische Regression. Damit ist ein Rückschritt in einen bereits überwunden geglaubten politischen Zustand gemeint. Die russische Invasion in der Ukraine ist ein eklatanter Akt der Regression: ein Angriffskrieg mitten in Europa, der die europäische Friedensordnung zerstört. Mit dem Krieg und seinen Folgen kündigt sich jedoch eine grundsätzliche Regression globalen Ausmaßes an: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa hatte sich in der westlichen Politik der Glaube etabliert, dass die Globalisierung alternativlos sei, ja das »Ende der Geschichte« (Fukuyama). Liberale Demokratie, Zivilgesellschaft und Menschenrechte würden sich weltweit durchsetzen, die internationale Kooperation die militärischen Blöcke endgültig hinter sich lassen, die Handelsfreiheit Demokratisierung bedeuten, so dieser Fortschrittsglaube. Blick im Mai 2021 auf ein baufälliges Gebäude im Zentrum von Tribsees Vorpommern, Rügen. In der Innenstadt gibt es seit mehr als 30 Jahre nach der Wende noch jede Menge Baulücken, verfallene Häuser und geschlossene Geschäfte. Vielerorts trifft man auf zugenagelte Fenster, geborstene Scheiben und geschlossene Gaststätten. Blick im Mai 2021 auf ein baufälliges Gebäude im Zentrum von Tribsees Vorpommern, Rügen. In der Innenstadt gibt es seit mehr als 30 Jahre nach der Wende noch jede Menge Baulücken, verfallene Häuser und geschlossene Geschäfte. Vielerorts trifft man auf zugenagelte Fenster, geborstene Scheiben und geschlossene Gaststätten. Foto: imago images/BildFunkMV Was sich gegenwärtig abzeichnet, ist im Gegensatz dazu eine neue internationale Konfrontationslinie zwischen liberal-westlichen und autoritären Systemen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat diese Konfrontationslinie mitten in Europa sowohl militärisch als auch ökonomisch etabliert. Was China angeht, so deutet sich auch hier eine solche Konfrontationslinie an. Ob sich langfristig aus diesen Konflikten ein neuer Kalter Krieg herauskristallisiert, ist noch nicht abzusehen. Deutlich ist aber, dass die Regression bereits jetzt insbesondere für Europa mit Blick auf Russland einen Verlust der militärischen und ökonomischen Friedensdividende bedeutet und eine tief greifende Beschädigung der europäischen Sicherheit. Sozialer Abstieg und Statusverlust, Verzicht auf gewohnte Lebensoptionen, politische Regression – teilweise unabhängig voneinander und teilweise miteinander verbunden, erlangen so Phänomene des Verlusts und der negativen Erfahrungen eine Präsenz wie seit 1945 nicht mehr. Natürlich: Man kann einwenden, dass solche etwaigen Verluste, zumal in Deutschland, von einem hohen Ausgangsniveau erfolgen und man sich mit ihnen arrangieren können sollte. Schmerzhaft sind diese Verluste trotzdem, und zwar aus mehreren Gründen: Der erste ist die grundsätzliche Verlustaversion des Individuums. Psychologen weisen auf eine »loss aversion« des Menschen hin, die sich in empirischen Untersuchungen immer wieder bestätigt: Gewinne heimst man gern ein und nimmt sie rasch für selbstverständlich. An Verlusten hingegen trägt man lange, sie erscheinen subjektiv dramatischer als Gewinne im gleichen Umfang erfreulich. Es gibt hier einen – möglicherweise evolutionspsychologisch erklärbaren – »negativity bias«: Das Negative, den eigenen Status Bedrohende nimmt man greller wahr, es zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich – ein Mechanismus im Übrigen, den sich die Medien zunutze machen. Ein zweiter Faktor lautet: Verluste sind schmerzhaft, wenn das, was man verliert, ein wichtiger Teil der eigenen Identität war. Und tatsächlich: Im Falle der Mittelklasse schmerzt nicht unbedingt, dass man sich mit einem objektiv niedrigen Lebensstandard begnügen muss, sondern dass das eigene Selbstverständnis darauf beruht, durch eigene Arbeit und Leistung immer mehr Wohlstand zu schaffen. Der Glaube in die Fairness der Welt leidet, wenn dies nicht der Fall ist. Die Gesellschaft habe den Fortschritt versprochen – nun sieht man sich mit »gebrochenen Versprechen« konfrontiert. Der Abschied von Automobil, Fernurlaub und fleischlicher Ernährung fällt auch deshalb schwer, weil sie für den Lebensstil der traditionellen Mittelklasse identitätsstiftend wirken. Und die politische Regression durch die russische Invasion berührt unmittelbar die kollektive Identität eines Europas, das sich bislang als ein Friedenskontinent verstanden hat, der die Kriege der Vergangenheit ein für allemal hinter sich gelassen hat. Besonders schwer zu verarbeiten sind die Verluste – und das ist der dritte Aspekt –, wenn der Verlust sich auf den Glauben an den Fortschritt selbst bezieht. Dann tritt ein Zukunftsverlust ein, das heißt die positiven Zukunftserwartungen werden langfristig durch negative ersetzt. Verluste lassen sich eher verschmerzen, wenn man davon ausgehen kann, dass es sich lediglich um eine vorübergehende Krise handelt, die zugunsten des weiterlaufenden Fortschrittsmotors wieder überwunden wird. Gegenwärtig verliert jedoch das Fortschrittsversprechen in seiner bisherigen Form grundsätzlich an Glaubwürdigkeit. Das zentrale Argument für einen solchen Fortschrittsverlust lautet: Die historischen Erfahrungen, welche dem Fortschrittsimperativ in den vergangenen Jahrzehnten Plausibilität verliehen haben, markieren außergewöhnliche Phasen der Geschichte, die sich nicht ohne Weiteres in die Zukunft verlängern lassen. Der Kontinuitätsbias, der Glaube, dass »es immer so weitergeht«, ist unbegründet. Das gilt für alle drei genannten Dimensionen: Der Glaube an den immerwährenden sozialen Aufstieg der Mittelklasse nährt sich entscheidend aus den »dreißig glorreichen Jahren« von 1946 bis 1975 mit massivem Wirtschaftswachstum und national organisierten Wohlfahrtsstaaten. Aber dies war letztlich eine historische Sondersituation der Nachkriegszeit. Der Glaube an eine Überflussgesellschaft mit immer mehr Konsummöglichkeiten basierte auf jener Phase zwischen 1950 und 2000, in der die Welt – auf rapide anwachsendem Verbrauch fossiler Energien fußend – einen Massenkonsum nie da gewesenen Ausmaßes entwickelte, aber ohne dass die ökologischen Kosten des Anthropozäns bereits sichtbar wurden. Grenzenloser Konsum scheinbar ohne Folgen für die Umwelt, ohne Verzicht und Reue – das war das Merkmal dieser außergewöhnlichen Phase. Sie ist unwiderruflich vorbei: Der Überflussgesellschaft wird die ökologische Quittung präsentiert. Schließlich: Der Glaube an Globalisierung, internationale Kooperation und Multilateralismus, an eine Welt ohne Blöcke und deren Machtkämpfe – alles unter dem Schirm des US-amerikanischen Hegemons – speist sich aus jener besonderen Phase von 1990 bis 2020, in der diese Struktur tatsächlich realistisch schien. Aber auch dies war – so stellt sich nun heraus – einer außergewöhnlichen Konstellation nach dem Untergang des Kommunismus geschuldet. Mittlerweile haben wir alle drei Ausnahmephasen, in denen der Fortschritt grenzenlos oder ewig schien, hinter uns gelassen. Die Ausnahmen der Vergangenheit taugen nicht für die Erwartungen der Zukunft. Wie gehen die westlichen Gesellschaften mit dieser Enttäuschung um? Die Frage, welche alternativen Strategien zu entwickeln sind, wenn alte Fortschrittsversprechen sich auflösen, kann gegenwärtig niemand befriedigend beantworten. Man kann aber das Feld möglicher politischer Antworten abstecken, die sich auftun: Eine erste Möglichkeit besteht darin, langfristige Zukunftsperspektiven durch kurzfristiges Krisenmanagement zu ersetzen – in der Politik wie im Alltag: Man fährt auf Sicht und hangelt sich von Krise zu Krise. Eine zweite Antwort präsentieren die Populisten: Sie suggerieren, es könne ein Zurück in den Zustand der Vergangenheit geben – »take back control«. Dies ist im Kern eine nostalgische Politik autoritärer Provenienz. Anspruchsvoller ist die mittlerweile viel diskutierte Strategie der Resilienz: Wenn man nicht mehr ohne Weiteres voranschreiten kann, dann gilt es, sich gegen die negativen Einschläge zu wappnen, eine institutionelle Widerstandsfähigkeit aufzubauen. Wenn der soziale Aufstieg nicht mehr realistisch ist, sollte es zumindest eine gesicherte Grundversorgung geben. Städte und Regionen müsse man so umrüsten, dass die Folgen des Klimawandels zumindest abgemildert werden. Auf die russische Aggression reagiert man mit dem Aufbau eines wehrhaften Militärs und mit einer Diversifizierung der Energielieferanten in Europa – auch das eine Resilienzstrategie. Offensiver ist jene politische Strategie, in der die »Krise als Chance« und der »Verlust als Gewinn« erscheint. Dies ist in der ökologischen Debatte prominent, etwa bei Maja Göpel und Harald Welzer: War der Fortschritt im Sinne von Überfluss wirklicher Fortschritt? Müssen nicht die Maßstäbe guten Lebens neu austariert werden, sodass Begriffe wie Verzicht und sozialer Abstieg sich deutlich relativieren? Ist ein »anderer Fortschritt« gefragt? Die Strategie der Resilienz und die des »anderen Fortschritts« sind keine strikten Alternativen, sondern lassen sich kombinieren. Dessen ungeachtet wird die Politik der Zukunft offenbar mit der Realität der Verluste umgehen müssen. Die Kunst besteht darin, diese nicht zu verdrängen, ohne sich darauf zu fixieren. Denn die Verluste sind real: Wenn der Glaube an den immerwährenden Aufstieg, den immer größer werdenden Überfluss oder die friedliche Weltgesellschaft nicht mehr realistisch erscheint, verursacht dies einen Schmerz, der politisch ernst genommen werden muss. Falls dies nicht geschieht, können die Emotionen, die sich anschließen, die Verlustwut, die Verlustangst und Verlustverbitterung, politisch toxisch wirken. Den quasireligiösen Glauben der Moderne an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts, an die Vorstellung »The best is yet to come« wird man wohl verabschieden müssen. Statt des einen Fortschritts des Modernisierungsprozesses im Singular gibt es in der Realität zweifellos einzelne Fortschrittsphasen im Plural, die zugleich immer wieder durch Prozesse der Stagnation und sogar der Regression gekreuzt werden. Ein revidiertes, skeptischeres Fortschrittsverständnis zu entwickeln und dabei die erlittenen Verluste nicht zu verdrängen, wird eine grundsätzliche Herausforderung der »Zeitenwende« sein.