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Demokratie und Klimawandel: Alles wird sich ändern
Georg Diez

Die Demokratien verändern sich gerade, durch Druck von außen und Druck von innen. Und eben nicht nur durch die Wahl eines AfD-Landrats und 20 Prozent der Deutschen, die mit dieser rechtsextremen Partei sympathisieren. Was wir sehen, gerade jetzt, da die Klimapolitik im Alltag ankommt, ist die Gestalt einer anderen als der liberalen Demokratie. Und teilweise sind es die, die diese liberale Demokratie zu schützen vorgeben, die einige der entscheidenden Prinzipien missachten.

Die kürzlichen Razzien gegen die Letzte Generation etwa waren Zeichen einer grundsätzlich veränderten Strategie – von Regierung, Polizei und Medien – im Umgang mit den Klimaprotesten. Sie signalisierten die Verschiebung von politischer Debatte zu polizeilichem Vorgehen und die Kriminalisierung von im Sinne des Bundesverfassungsgerichts legitimem Protest – das Gericht hatte die gegenwärtig politisch Handelnden aufgerufen, sehr viel mehr gegen den Klimawandel zu tun. Es stoßen hier zwei Zeitebenen aufeinander: die weite Zukunft, wie sie von der Letzten Generation in die demokratische Debatte gebracht wird, und die maßlose Gegenwart, die die demokratische Praxis regiert und nicht loslassen will.

Und doch waren diese Razzien nur eine Art Oberflächenzucken eines sehr viel tiefgreifenderen Prozesses: der Veränderung der Demokratie im Zeichen des Klimawandels. Ein paar Tage nach den Razzien ging in den sozialen Medien ein Video viral, in dem ein mutmaßlicher Unterstützer der Letzten Generation zu sehen war, wie er durch die Polizei abgeführt wurde – im Vorgriff auf eine vermutete Aktion der Klimaaktivisten. Es war eine Art Präventivhaft aufgrund von Verdachtsmomenten, die Umkehrung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung und wiederum eine Verbiegung in der demokratischen Zeitachse, wo erst ermittelt und dann geurteilt wird. Und gerade wurde bekannt, dass Journalisten, die mit der Letzten Generation telefonierten, mutmaßlich abgehört wurden – ein massiver Eingriff in die Pressefreiheit, Grundlage der liberalen Demokratie.

Anders als ein Heizungstausch

All das sind Symptome der fundamentalen Veränderung demokratischer Praxis im Zeichen des Klimawandels, dem großen Stresstest für liberale Werte – und des Widerstands gegen diesen Wandel. Die Veränderung ist grundsätzlich, sie betrifft die wesentlichen Institutionen und Wirkweisen der repräsentativen Demokratie genauso wie die Definition von Begriffen wie Freiheit, Wachstum oder Staat. Es zeigt sich zunehmend: Eine nachhaltige Demokratie funktioniert anders, muss anders funktionieren als eine nicht nachhaltige Demokratie.

So formuliert es etwa der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich in seinem gerade erschienenen und höchst relevanten Buch Nachhaltigkeit und Demokratie. Er widerspricht dort "einer dominanten Sichtweise", "die Nachhaltigkeit als primär technische Herausforderung versteht und in den entsprechenden Debatten und Diskursen eine im weitesten Sinne ingenieurwissenschaftliche Rahmung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erzeugt". Nachhaltigkeit, so Heidenreich, werde von der Politik wie ein "End of Pipe"-Problem behandelt. Also gemäß der Vorstellung, "durch technische Innovation, Effizienzsteigerungen und die Erschließung neuer Ressourcen" könne der Umbau der fossilen Demokratie zu einer Klima-Demokratie gelingen, auf der "Hinterbühne der Gesellschaft", ohne sichtbare und spürbare Veränderung für die Bürgerinnen und Bürger.

Das ist falsch. Und deshalb ist es auch so unverantwortlich, wie Parteien und Medien weitgehend verschweigen, dass der Wechsel zu einer nachhaltigen Klima-Demokratie anders und komplizierter ist als ein Heizungstausch. Felix Heidenreich geht in seiner Argumentation von der gegebenen politischen Praxis aus und setzt in seinem Entwurf einer politischen Theorie der Nachhaltigkeit am Begriff der Freiheit an. Dabei kontrastiert er den liberalen Freiheitsbegriff, der die "individuelle Ungebundenheit feiert", mit einem republikanischen Freiheitsbegriff, der "Freiheit als kollektive Selbstbindung" versteht.

Diese Selbstbindung, so Heidenreich, sei das eigentliche Ziel der Demokratie, in der sich Bürgerinnen und Bürger zusammenschließen, um nachhaltige Lebenswelten zu ermöglichen. Einen Unterschied zwischen nachhaltiger und nicht nachhaltiger Demokratie gibt es jedoch vor allem in Bezug auf Zeitlichkeit: In der herkömmlichen Demokratie schränken wir heute private und öffentliche Willkür ein, um im Jetzt mehr Freiheit für alle zu schaffen — simultane Selbstbindung und Freiheitsgewinn. In einer Klima-Demokratie schränken wir heute den Verzehr der Umwelt ein, um morgen mehr Freiheit für alle zu ermöglichen — Freiheitsgewinn und Selbstbindung werden asynchron. Die damit einhergehende Herausforderung ist offensichtlich.

Passen Demokratie und Kapitalismus wirklich zusammen?

Heidenreich bleibt dabei mit seinem Entwurf im Rahmen der bisherigen demokratischen Theorie und Praxis – einen Schritt weiter gehen die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler Geoff Mann und Joel Wainwright in ihrem 2018 erschienenen Buch Climate Leviathan – A Political Theory For Our Planetary Future. Mann und Wainwright stellen explizit die Frage nach Freiheitseinschränkungen und staatlicher Machtausdehnung. Während Heidenreich eine politische Theorie schreibt, ohne den Faktor Macht wirklich zur Geltung zu bringen, weshalb sich sein Buch auch relativ konfliktfrei liest, skizzieren Mann und Wainwright aus einer linken Perspektive die autoritären Tendenzen des kommenden Klimaregimes. Es bleibt offen, ob es sich dann noch um eine Demokratie im bisherigen Sinne handelt.

Wenn sich die Demokratie vor dem Druck ökologischer Verheerungen des Klimawandels retten lässt, so Mann und Wainwright, dann mit großer Wahrscheinlichkeit in der Form, wie sie der britische Theoretiker Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert beschrieben hat, als Reaktion auf den Bürgerkrieg in seinem Land. Der Leviathan, den die beiden Autoren sich als Denkfigur von Hobbes borgen, ist eine biblische Referenz, eine chaosstiftende Seeschlange. Bei Hobbes wird der Leviathan selbst zum Wesen und zur Gestalt einer Ordnung, die notwendig und harsch ist, um den gewalttätigen Naturzustand der Menschen, den "Krieg aller gegen alle" zu unterbinden. Hobbes sieht darin den Beginn einer möglichen demokratischen Ordnung – mit Betonung auf Ordnung. Mann und Wainwright sehen darin vor allem eine mögliche Antwort auf die Konflikte der Zukunft, bei der Ordnung über Demokratie triumphieren könnte.

Mann und Wainwright spielen vier Szenarien durch, wobei sie den Klima-Leviathan für am wahrscheinlichsten halten: eine Form von global autoritärer Scheindemokratie, die den Kapitalismus am Laufen hält, aber durch eine ökologisch gelenkte grüne Industriepolitik korrigiert, verbunden mit global agierenden Institutionen – also ein wenig wie die Gegenwart, bloß ökologisch-dominiert und kapitalistisch-freiheitsfeindlich. Die anderen Varianten der autoritären Wende sind für Mann und Wainwright der Klima-Mao, die antikapitalistische Form eines ökologischen Vollzugsregimes ohne wirkliche Freiheitsrechte, oder der Klima-Behemoth, die dunkelste Gestalt einer dystopisch kontrollierten kapitalistischen Weltordnung. Als Lichtblick offerieren sie am Ende des anregenden Buches ihr Konzept von Klima X – letztlich sehr ähnlich zu dem, was die Letzte Generation will.

Wechsel der politischen Logik

Das Konzept von Klima X knüpft an die Ideen der Politologin und Aktivistin Naomi Klein an, ebenso an die Idee von Blockadia. Sprich: Proteste sowohl gegen das globale Souveränitäts- oder Sicherheitsregime, wie es der Klima-Leviathan verkörpert, als auch gegen den grünen Kapitalismus, der das zentrale Ungerechtigkeitsproblem der gegenwärtigen Weltordnung ungelöst lässt. Hier verbinden sich der Widerstand gegen die Welthandelsordnung, wie er den linken Aktivismus der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre prägte, und Erfahrungen der Austerität, die in den 2010er-Jahren eine ganze Generation beeinflusste, etwa in Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien, mit der Dringlichkeit, wie sie den derzeitigen Kampf gegen das fossile Klimaregime auszeichnet.

Deutlich wird auch hier: Es geht im Kontext der Klimakrise nicht allein um programmatische Veränderungen, sondern um einen Wechsel der politischen Logik. Gegen die Beharrungskräfte, die die Pfründe der fossilen Marktwirtschaft verteidigen, müssen neue Machtressourcen geschaffen und ins Feld geführt werden.

Ob das ein Systemwechsel ist, das ist eine Frage der Perspektive. Man kann sehr gut argumentieren — wie das unter anderem der nicht dem Linksradikalismus verdächtige Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz tut, der Politikwissenschaftler Colin Crouch genauso wie die Demokratietheoretikerin Hélène Landemore –, dass wir längst in einem oligarchischen Regime leben und die notwendigen und scheinbar radikalen Veränderungen wiederum zu einer (Re-)Demokratisierung der gegenwärtigen Ordnung führen: etwa durch einen Gesellschaftsrat, wie ihn die Letzte Generation fordert, der fossile Lobbymacht umschiffen könnte. Oder durch die Absenkung des Wahlalters auf 16, 14 oder 12 Jahre, um die Zukunftsdimension der Demokratie zu stärken.

Deutlich wird bei all diesen Überlegungen vor allem eine Frage, die lange verdrängt wurde: Passen Demokratie und Kapitalismus wirklich zusammen? Oder anders gesagt: Unter welchen Bedingungen passen Demokratie und Kapitalismus zusammen? Historisch gesehen gab es eigentlich nur die Zeit, die in Frankreich die "trente glorieuse" genannt werden, in Deutschland in etwa die Jahre des Wirtschaftswunders – die Wohlstandsschübe der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1975. Die sonst im Kapitalismus angelegten Klassenkonflikte wurden in dieser Periode durch den wachsenden Wohlstand breiter Teile der Gesellschaft beruhigt. Man könnte mit Blick auf die heutige Klimakatastrophe auch sagen: Es gab eine Betäubung des Klassenkampfes auf Kosten der Natur.

Ausweitung der Freiheit der Künftigen

Was aber bedeutet es für das Verständnis von Demokratie, wenn deutlich wird, dass sie in ihrer jetzigen Form ohne dieses eben nicht mehr so replizierbare Wohlstandsversprechen zunehmend weniger funktioniert? Es ist eine immer wieder verdrängte Erklärung für den Aufstieg des Populismus, also den Widerstand gegen die gegenwärtige liberale Demokratie, dass fortschreitende Flexibilisierung und wachsende wirtschaftliche Ungleichheit zu tiefgreifender psychologischer Verunsicherung führen – nicht nur bei den Abgehängten, sondern gerade auch bei denen, die noch etwas zu verlieren haben. Eine grundsätzlich andere Wirtschaftspolitik, die sich nicht an den Prämissen der neoliberalen Ära der vergangenen 40 Jahre orientiert, sondern an den hohen Steuersätzen und der Gerechtigkeitslogik der Periode 1945 bis 1975, wie etwa vom Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty vorgeschlagen, wäre hier ein wirkungsvoller Ansatz, um antidemokratische Kräfte einzuhegen.

Ob das allerdings unter den Bedingungen der Klimakrise noch funktioniert, diese Frage stellt der französische Philosoph Pierre Charbonnier in seinem historisch argumentierenden und doch extrem gegenwartsrelevanten Buch Überfluss und Freiheit – Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen, das 2022 auf Deutsch erschien und eine grundlegende Analyse der materiellen Bedingungen von Freiheit bietet. Die planetare Klimakrise, schreibt Charbonnier, stelle die wesentlichen Annahmen liberaler Politik infrage, die mit menschlicher Freiheit sowie Autonomie zu tun haben – und untrennbar mit Wohlstand oder sogar Überfluss verbunden sind.

Freiheit sei in der Moderne dadurch ermöglicht worden, dass symbolisch wie materiell die Verbindung zur Natur, zum Land, das man bewirtschaftet, gekappt worden sei – ein Bruch zwischen Natur und Kultur, dem Menschen und seiner Umwelt. Doch gerade deshalb bestand von vornherein eine grundlegende Schieflage innerhalb unserer Konzeption von Freiheit. Diese wurde nämlich nur durch Externalisierung möglich, "Emanzipation als Ausbeutung", wie Charbonnier es formuliert. Die wesentlichen politischen Begriffe – Souveränität und Eigentum, Überfluss und Mangel, Autonomie und Ausbeutung, Markt und Produktion – müssen für die Demokratie unter Klimawandelbedingungen neu gedacht werden. Und weil das nicht schnell genug geht, weil die Welt sich rascher verändert als die demokratische Politik in ihrer Sprache, ihrem Denken, ihrer Praxis, entsteht eine Spannung, die letztlich zu einem neuen Freiheitsbegriff und damit einer neuen Form von Demokratie führen wird.

Wenn Freiheit zeitlich über die Gegenwart hinaus gedacht werden soll, bedeutet das für die Klima-Demokratie, dass es Kräften wie der Letzten Generation ermöglicht werden muss, die Tiefe ihrer Überzeugung adäquat auszudrücken – also ihre Proteste nicht juristisch zu kriminalisieren und medial zu pathologisieren. Nur so können gesellschaftliche Nachdenkprozesse überhaupt erst voranschreiten. Im Generationenverbund gedacht stellen die Aktionen der Letzten Generation keinen Einschnitt in die Freiheit der Heutigen dar, sondern – als ziviler Ungehorsam, der schwierige, aber gesellschaftlich notwendige Überzeugungsarbeit leistet – eine Ausweitung der Freiheit der Künftigen.

Die Hinterfragung des liberalen Pakts

"Wir haben eine Welt geerbt", so Charbonnier, "die mit den verfügbaren politischen Kategorien nicht gestaltet werden kann." Die Tiefengeschichte menschlichen Handelns, also das Anthropozän als politische Dimension, werde dazu führen, dass der "liberale Pakt" hinterfragt oder untergraben werde. Wie diese neue Form der planetaren Demokratie aussehen werde, das bleibt bei Charbonnier noch offen – fast zwangsläufig, denn die Arbeit an neuen Begriffen, an neuen Systemen, an neuen epistemologischen Grundlagen für eine andere Art der Demokratie haben gerade erst begonnen.

Auf die materiellen Grundlagen der Demokratie verweist auch die Letzte Generation in ihren Protesten immer wieder – sie greifen in die Infrastruktur des Alltags ein, den Straßenverkehr, um auf die Verbindung von fossiler Ausbeutung und dem Versprechen von Wohlstand und letztlich Freiheit und so etwas wie Gerechtigkeit hinzuweisen. Sie betonen auch, wie Charbonnier es benennt, die zeitliche Dimension der Demokratie unter den Bedingungen der Klimakrise: Wenn die Zukunft das Maß ist und schnelles Handeln rational gesehen notwendig, wie lässt sich eine Gesellschaft bewegen und so verändern, dass eine neue Konzeption von Demokratie entstehen kann?

Gerechtigkeit, kann man vor dem Hintergrund des Klimawandels sagen, lässt sich nicht gegen die Zukunft durchsetzen. Im gegenwärtigen liberaldemokratischen Rahmen allerdings wird dieser zukünftige Möglichkeitsraum dezidiert verengt. Es sind nicht die Aktionen der Letzten Generation, die undemokratisch sind oder die Demokratie gefährden, es sind die derzeitigen Maßnahmen gegen die Letzte Generation, die gesellschaftliche Überzeugungsprozesse blockieren und damit der Demokratie und dem Rechtsstaat von morgen gefährliche Altlasten hinterlassen.

Die Klima-Demokratie wird, wie jede grundlegende Veränderung im Verständnis der Demokratie, von Auseinandersetzungen begleitet werden, die die Grenzen von staatlicher Gewalt austesten. Thomas Hobbes hat das für die Bürgerkriege seiner Zeit beschrieben. Wir müssen nun herausfinden, was das für die Gegenwart bedeutet. Aber die geordneten Proteste von heute, frei von Gewalt gegen Personen, sind weit entfernt von den möglichen Unruhen, die uns auf unserem jetzigen Kurs noch erwarten könnten.