THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
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DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


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XLIV

Ursula Schneidewein, Adrians Schwester in Langensalza, hatte nach den Jahr für Jahr, 1911, 12 und 13, aufeinanderfolgenden Geburten ihrer ersten drei Kinder ein wenig an der Lunge gekränkelt und einige Monate in einer Heilstätte im Harz verbringen müssen. Der Spitzenkatarrh schien dann ausgeheilt, und während des Jahrzehnts, das bis zu dem Erscheinen ihres Jüngsten, des kleinen Nepomuk, verging, war Ursula den Ihren eine unbekümmert tätige Gattin und Mutter, obgleich die Hungerperiode während des Krieges und nachher ihre Gesundheit zu keiner rechten Blüte kommen ließ, häufige Erkältungen, die mit bloßem Schnupfen begannen und sich dann regelmäßig in die Bronchien senkten, sie heimsuchten und ihr Aussehen (worüber eine gutwillig frohe und umsichtige Miene hinwegtäuschen konnte) wenn nicht leidend, so doch zart und bläßlich blieb.
Die Schwangerschaft von 1923 schien ihre Vitalität eher zu heben, als daß sie sie beeinträchtigt hätte. Von der Entbindung dann freilich erholte sie sich mühsam, und die fiebrigen

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Störungen, die vor zehn Jahren zu dem Kuraufenthalt geführt hatten, flackerten wieder auf. Schon damals war von einer erneuten Unterbrechung ihres Hausfrauendaseins zum Zweck spezifischer Pflege die Rede, aber, wie ich mit Bestimmtheit vermute, unter dem Einfluß psychischer Wohltat, des Mutterglücks, der Freude an ihrem Söhnchen, das das friedlich-freundlichste, liebenswürdigste, leichtest zu wartende Baby von der Welt war, gingen die Symptome wieder zurück, und durch Jahre hielt die tapfere Frau sich rüstig, — bis zum Mai 1928, als der fünfjährige Nepomuk, recht heftig, die Masern bekam und die angstvolle Betreuung des ausnehmend geliebten Kindes bei Tag und Nacht zu einer schweren Belastung ihrer Kräfte wurde. Sie selbst erlitt einen Anfall der Krankheit, nach welchem die Temperaturschwankungen, der Husten nicht weichen wollten, so daß der behandelnde Arzt nun einen Anstaltsaufenthalt, den er ohne falschen Optimismus von vornherein auf ein halbes Jahr bemaß, kategorisch beantragte.
Dies brachte Nepomuk Schneidewein nach Pfeiffering. Seine Schwester Rosa nämlich, siebzehnjährig und, wie auch schon der ein Jahr jüngere Ezechiel, in dem optischen Handel tätig (während der fünfzehnjährige Raimund noch zur Schule ging), hatte nun zugleich den natürlichen Beruf, ihrem Vater in Abwesenheit der Mutter den Haushalt zu führen, und würde aller Voraussicht nach zu beschäftigt sein, um auch noch die Beaufsichtigung des kleinen Bruders über sich nehmen zu können. Ursula hatte Adrian ins Bild gesetzt, ihm geschrieben, wie der Arzt eine sehr glückliche Lösung darin sehen würde, wenn der kindliche Rekonvaleszent einige Zeit in oberbayerischer Landluft verbringen könnte, und ihn gebeten, seine Wirtin für den Gedanken zu stimmen, eine gemessene Zeitlang bei dem Kleinen Mutter- oder Großmutterstelle zu vertreten. Dazu war Else Schweigestill, unter dem Zureden Clementine's obendrein, gern bereit gewesen, und während also, Mitte Juni dieses Jahres, Johannes Schneidewein seine Frau ins Harzgebirge begleitete, in dieselbe Kuranstalt nahe Suderode, die ihr schon einmal gutgetan, fuhr Rosa mit ihrem Brüderchen gen Süden

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und brachte ihn in den Schoß von ihres Oheims zweitem Elternhaus.
Ich war nicht zugegen bei der Ankunft der Geschwister auf dem Hof, aber Adrian hat mir die Szene geschildert, wie das ganze Hausvolk, Mutter, Tochter, Erbsohn, Mägde und Knechte in hellem Entzücken, vor Freude lachend, den Kiemen umstanden und sich nicht satt sehen konnten an so viel Lieblichkeit. Besonders die Frauen, natürlich, und wieder die dienend-volkstümlichen am rückhaltlosesten, waren schier aus dem Häuschen, beugten sich mit gerungenen Händen zu dem Männlein herab, hockten nieder bei ihm und riefen Jesus, Maria und Joseph an ob des schönen Buben — unter dem nachsichtigen Lächeln seiner großen Schwester, der man es anmerkte, daß sie nichts anderes erwartet hatte und der allgemeinen Verliebtheit in den Jüngsten ihres Hauses gewöhnt war.
Nepomuk, oder >Nepo<, wie die Seinen ihn riefen, oder >Echo<, wie er, schon seit er zu lallen begonnen hatte, in wunderlicher Verfehlung der Mitlaute sich selber nannte, war sehr schlicht-sommerlich und kaum städtisch gekleidet: in ein weißbaumwollenes Hemdjäckchen mit kurzen Ärmeln, ganz kurze Leinenhöschen und ausgetretene Lederschuhe an den bloßen Füßen. Trotzdem war einem bei seinem Anblick nicht anders, als sähe man ein Elfenprinzchen. Die zierliche Vollendung der kleinen Gestalt mit den schlanken, wohlgeformten Beinchen; der unbeschreibliche Liebreiz des länglich ausladenden, von blondem Haar in unschuldiger Wirrnis bedeckten Köpfchens, dessen Gesichtszüge, so kindlich sie waren, etwas AusgeprägtFertiges und Gültiges hatten, sogar der unsäglich holde und reine, zugleich tiefe und neckische Aufschlag der langbewimperten Augen von klarstem Blau, — nicht einmal so sehr dies alles war es, was jenen Eindruck von Märchen, von Besuch aus niedlicher Klein- und Feinwelt hervorrief. Hinzu kam das Stehen und Gehaben des Kindes unter dem umringenden, lachenden, sowohl leise Jubelrufe wie Seufzer der Rührung ausstoßenden Großvolk, sein selbstverständlich von Koketterie und Wissen um seinen Zauber nicht ganz freies Lächeln, Anrworten

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und Bedeuten, das etwas lieblich Lehrendes und Botenhaftes hatte, das Silberstimmchen der kleinen Kehle und dieses Stimmchens Rede, die, noch mit kindlichen Fehllauten wie »iß« und »nißt« untermischt, den vom Vater ererbten und von der Mutter früh übernommenen, leicht bedächtigen, leicht feierlich schleppenden und bedeutsamen schweizerischen Tonfall, mit Zungen-R und drollig stockender Silbenfolge, wie »stut-zig« und »schmut-zig«, hatte, und die das Männchen, wie ich es nie bei Kindern gesehen, mit erläuternden, aber, weil sie oft nicht recht dazu paßten, seine Worte eher verwischenden und verfremdenden und dabei höchst anmutigen, vag ausdrucksvollen Gebärden seiner Ärmchen und Spielhändchen begleitete.
Dies, beiläufig, ist Nepo Schneideweins — ist, wie nach seinem Beispiel gleich alle ihn nannten, >Echo's< Beschreibung, so gut das unbeholfen sich annähernde Wort sie dem, der nicht sah, zu geben vermag. Wie viele Schriftsteller vor mir schon mögen die Untauglichkeit der Sprache beseufzt habend Sichtbarkeit zu erreichen, ein wirklich genaues Bild des Individuellen hervorzubringen! Das Wort ist geschaffen für Lob und Preis, es ist ihm verliehen zu erstaunen, zu bewundern, zu segnen und die Erscheinung durch das Gefühl zu kennzeichnen, das sie erregt, aber nicht, sie zu beschwören und wiederzugeben. Mehr als durch den Versuch eines Portraits tue ich wahrscheinlich für meinen lieblichen Gegenstand, iridem ich bekenne, daß heute, nach vollen siebzehn Jahren, die Tränen mir in die Augen treten beim Gedenken an ihn, welches zugleich mich doch mit einer grundseltsamen, ätherischen, nicht ganz irdischen Heiterkeit erfüllt.
Die Antworten, die er unter reizendem Gestenspiel auf Fragen nach seiner Mutter, seiner Reise, seinem Aufenthalt in der großen Stadt München erteilte, hatten, wie gesagt, prononciert schweizerischen Akzent und wiesen, im Silber-Timbre seines Stimmchens, viel Dialekthaftes auf, wie »Hüsli« statt Haus, »öppis Feins« für »Etwas Feines« und »es bitzli« statt »ein bißchen«. Eine Vorliebe für »also« fiel ebenfalls auf, in Verbindungen wie »Es war also herzig« und dergleichen mehr. Auch

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kam mehreres würdig Stehengebliebene aus älterer, Sprache in seiner Rede vor, wie er zum Beispiel von etwas, woran er sich nicht mehr erinnern konnte, sagte: »Es ist mir abgefallen«, und wie er schließlich erklärte: »Mehr neue Zitig« (für >Zeitung<) »weiß ich nicht.« Er sagte dies aber merklich nur, weil es ihm darum zu tun war, den Cercle zu beenden, denn danach kamen folgende Worte von seinen Bienenlippen:
»Echo dünkt es nicht wohlanständig, länger noch außer Dach zu bleiben. Es ziemt sich, daß er ins Hüsli geht, den Oheim zu grüßen.«
Damit streckte er sein Händchen nach der Schwester aus, damit sie ihn hineinführe. In diesem Augenblick aber trat Adrian, der geruht und sich inzwischen fertiggemacht hatte, selbst auf den Hof hinaus, um seiner Nichte Willkommen zu bieten.
»Und dies ist«, sagte er, nachdem er das junge Mädchen begrüßt und sich über ihre Ähnlichkeit mit der Mutter ausgelassen hatte, »und dies ist unser neuer Hausgenosse?«
Er hielt Nepomuks Hand und blickte, schnell versunken, in das süße Licht dieser in azurnem Lächeln zu ihm aufgeschlagenen Augensterne.
»Nun, nun«, sagte er nur, indem er der Bringerin langsam zunickte und dann zu dem Anblick zurückkehrte. Niemandem konnte seine Bewegung entgehen, auch dem Kinde nicht, und statt dreist zu klingen, hatte es etwas rücksichtsvoll Vertuschendes, treuherzig Beschwichtigendes und die Sache zum Schlichten und Freundschaftlichen Auslegendes, als Echo — und dies war das erste Wort, das er zu dem Onkel sprach — einfach feststellte:
»Gelt, da freust du dich, daß ich gekommen bin.«
Alles lachte, auch Adrian.
»Das will ich meinen!« erwiderte er. »Und ich hoffe, du 1 freust dich auch, uns alle kennenzulernen.«
»Es ist eine wohl-lustbarliche Begegnig«, sagte das Knäbchen wundersam.
Wieder wollten die Umstehenden herauslachen, aber Adrian legte, den Kopf gegen sie schüttelnd, den Finger auf den Mund.

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»Man muß doch«, sagte er leise, »das Kind nicht mit Gelächter verwirren. Ist auch kein Grund zum Lachen, was meinen Sie, Mutter?« wandte er sich an Frau Schweigestill.
»Gar ka Grund!« antwortete sie mit übertrieben fester Stimme und führte den Zipfel ihrer Schürze zum Auge.
»So wollen wir hineingehen«, entschied er und nahm wieder Nepomuks Hand, ihn zu führen. »Gewiß habt ihr unseren Gästen eine kleine Erfrischung vorbereitet.«
Das war geschehen. Im Nike-Saal wurde Rosa Schneidewein mit Kaffee, der Kleine mit Milch und Kuchen bewirtet. Sein Onkel saß mit am Tisch und sah ihm zu bei der Mahlzeit, die er sehr zierlich und reinlich einnahm. Mit seiner Nichte hielt Adrian dabei wohl einiges Gespräch, hörte aber schlecht auf das, was sie sagte, beschäftigt wie er war mit dem Anschauen des Elfen und ebensosehr damit, seine Ergriffenheit im Diskreten zu halten und nicht beschwerlich damit zu fallen, — eine unnötige Sorge übrigens, da Echo sich aus stummer Bewunderung und gebannten Blicken längst nichts mehr zu machen schien. Den holden Dankesaufblick dieser Augen für ein Stück Kuchen, die Zureichung von etwas Eingemachtem zu versäumen, wäre ohnehin Sünde gewesen.
Schließlich sprach das Männlein die Silbe »'habt«. Sie war, wie die Schwester erklärte, von jeher sein Ausdruck für Gesättigtsein, Zur-Genüge-Haben, Nicht-mehr-Mögen, eine frühkindliche Abkürzung von »Ich hab' es gehabt«, die er bis heute beibehalten hatte, »'habt!« sagte er; und als Mutter Schweigestill ihm aus Gastlichkeit noch etwas aufnötigen wollte, erklärte er mit einer gewissen überlegenen Vernunft:
»Echo will des lieber Umgang nehmen.«
Er rieb sich die Augen mit den Fäustchen zum Zeichen der Schläfrigkeit. Man brachte ihn zu Bett, und während seines Schlummers unterhielt Adrian sich mit Schwester Rosa in seinem Arbeitszimmer. Sie blieb nur bis in den dritten Tag, ihre Pflichten in Langensalza zogen sie heim. Bei ihrem Fortgang weinte Nepomuk etwas, versprach dann aber, bis sie ihn wieder hole, immer »herzig« zu sein. Mein Gott, als ob er sein

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Wort nicht gehalten hätte! Als ob er überhaupt fähig gewesen wäre, es nicht zu halten! Er brachte etwas wie Glückseligkeit, eine beständige heitere und zärtliche Erwärmung der Herzen, nicht nur auf den Hof, sondern bis in das Dorf und bis nach Stadt Waldshut hinein, — wohin immer die Schweigestills, Mutter und Tochter, begierig, sich mit ihm sehen zu lassen, des gleichen Entzückens überall gewärtig, ihn mit sich nahmen, damit er beim Apotheker, beim Krämer, beim Schuhmacher unter zauberhaftem Gestenspiel und mit ausdrucksvollst schleppender Betonung seine Verschen aufsage: vom brennenden Paulinchen aus dem Struwwelpeter oder die vom Jochen, der so schmutzig vom Spiel nach Haus kommt, daß Frau En-te und Herr En-terich sich wundern und selbst das Schwein stut-zig wird. Der Pfarrer von Pfeiffering, vor dem er mit zusammengetanen Händen — er hielt sie in Höhe seines Gesichtchens, in einiger Entfernung davon — ein Gebet sprach — und zwar ein sonderbares altes Gebet, das mit den Worten begann: »Kein Ding hilft für den zeitling Tod« —, konnte in seiner Ergriffenheit nur sagen: »Ach, du Gottskindlein, du benedeites!«, streichelte ihm das Haar mit seiner weißen Priesterhand und schenkte ihm gleich ein buntes Bild des Lammes. Dem Lehrer wurde auch, wie er nachher sagte, »ganz anders« im Gespräch mit ihm. Auf Markt und Gassen wollte jeder dritte von »Fräul'n Clementine« oder Mutter Schweigestill wissen, was ihnen denn da vom Himmel gefallen sei. Die Leute sagten benommen: »Ja, da schau her! Da schau her!« oder auch nicht viel anders als der Herr Pfarrer: »Ach, du lieb's Kindl, du ganz selig's!«, und Frauen ließen meist eine Neigung merken, bei Nepomuk niederzuknien.
Als ich das nächste Mal auf dem Hofe vorsprach, waren seit seiner Ankunft schon vierzehn Tage vergangen; er war einge, lebt dort und rings, in der Gegend bekannt. Ich sah ihn zuerst von weitem: Adrian zeigte ihn mir von der Hausecke aus, wie er ganz allein im rückwärtigen Nutzgarten am Boden saß, zwischen Erdbeer- und Gemüsebeeten, ein Beinchen ausgestreckt, das andere halb hochgezogen, die geteilten Strähnen des Haars

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in der Stirn, und, wie es schien, mit etwas distanziertem Wohlgefallen ein Bilderbuch betrachtete, das ihm der Oheim geschenkt hatte. Er hielt es auf den Knien mit der Rechten am Rande. Das linke Ärmchen und Händchen aber, womit er das Blatt gewendet hatte, verharrten, die Bewegung des Umblätterns unbewußt festhaltend, in unglaublich graziöser Gebarung, das Händchen geöffnet, seitwärts vom Buch in der Luft, so daß mir war, als hätte ich nie ein Kind so reizend dasitzen sehen (meinen eigenen war's nicht im Traume gegeben, den Augen dergleichen zu bieten!), und bei mir dachte, auf diese Manier müßten die Englein droben die Seiten ihrer Hallelujabücher wenden.
Wir gingen hinüber, damit ich die Bekanntschaft des kleinen Wundermannes machte. Ich tat es, pädagogisch zusammengenommen, gewillt zu der Feststellung, daß hier alles mit recht und schlechten Dingen zugehe, entschlossen, mir jpdenfalls nichts merken zu lassen und kein Süßholz zu raspebr. Zu diesem Behuf legte ich mein Gesicht in barsche Falten, machte mir eine recht tiefe Stimme und redete ihn an in dem bekannten rauh-gönnerhaften Tongehaben von »Nun, mein Sohn?! Immer brav derweilen?! Was treiben wir denn da?!« — kam mir aber, während ich mich so anstellte, unsäglich lächerlich vor, und das Schlimme war, daß er das merkte, auch das Gefühl, das ich mir selbst einflößte, augenscheinlich teilte und, beschämt für mich, das Köpfchen senkte, indem er den Mund nach unten zog, wie einer, der sich das Lachen verbeißt, was mich so außer Fassung brachte, daß ich längere Zeit überhaupt nichts mehr sagte.
Er war noch nicht in dem Alter, wo ein Junge vor Erwachsenen aufzustehen und seinen Diener zu machen hat, und, wenn irgendeinem Wesen, so standen ihm die zarten Privilegien, die anforderungslose Heiligung zu Gesicht, die man dem auf Erden noch Neuen, halb Fremden und Unbewanderten zugesteht. Er sagte uns, wir sollten »absitze« (der Schweizer braucht »absitzen« und »abliegen« für Sichsetzen und -legen); und so taten wir, nahmen den Elfen in unsere Mitte im Grase

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und schauten mit ihm in sein Bilderbuch, das unter der im Laden angebotenen Kinderliteratur wohl noch zum Annehmbarsten gehört hatte: mit Schildereien im englischen Geschmack; einer Art von Kate-Greenaway-Stil und gar nicht unebenen Reimen dazu, die Nepomuk (ich nannte ihn immer so und nicht >Echo<, was mir idiotischerweise als poetische Verweichlichung erschien) fast sämtlich schon auswendig wußte und uns >vorlas<, indem er mit dem Fingerchen an ganz falscher Stelle die Zeilen entlangfuhr.
Das Merkwürdige ist, daß auch ich noch heute diese >Gedichte< auswendig weiß, nur weil ich sie einmal — oder mögen es mehrere Male gewesen sein? — von seinem Stimmchen und in seiner fabelhaften Betonung gehört habe. Wie gut weiß ich immer noch das von den drei Orgelmännern, die sich an einer Straßenecke trafen, und von denen einer dem anderen gram war, so daß keiner vom Flecke wich. Ich könnte es jedem Kinde wieder vorsagen, aber entfernt so gut nicht, wie Echo es tat, was bei diesem Ohrenschmaus die Nachbarschaft auszustehen hatte. Die Mäuse hielten Fasten ab, die Ratten zogen aus! Zum Schlüsse hieß es:

Wer das Konzert zu End' gehört,
das war ein junger Hund,
und als der Hund nach Hause kam,
da war er nicht gesund.

Man mußte das bekümmerte Kopfschütteln sehen, mit dem der Kleine, die Stimme traurig senkend, das Übelbefinden des Hundes aussagte. Oder man mußte die zierliche Grandezza beobachten, mit der er zwei wunderliche kleine Herrschaften am Meeresstrand sich begrüßen ließ:

Guten Morgen, Euer Gnaden!
Es ist heute schlecht baden.

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Dies aus mehreren Gründen: erstens, weil das Wasser heut gar so naß sei und auch nur fünf Grad Reaumur habe, ferner aber, weil »drei Gäste aus Schweden« da seien —

Ein Schwertfisch, ein Sägefisch und Hai —
ganz in der Nähe schwimmen die drei.

Er brachte diese vertraulichen Warnungen so drollig vor und hatte eine so großäugige Art, die drei unerwünschten Gäste aufzuzählen und ins Gemütlich-Unheimliche zu fallen bei der Nachricht, sie schwämmen ganz nahebei, daß wir beide laut auflachten. Er blickte uns in die Gesichter dabei, unsere Heiterkeit mit schelmischer Neugier beobachtend, — die meine zumal, wie mir schien, denn er wollte wohl sehen, ob, zu meinem eigenen Besten, meine abgeschmackte Rauh- und TrockenPädagogik sich darin löse.
Guter Gott, das tat sie denn auch, ich kam nach dem ersten dummen Versuche nicht mehr darauf zurück, außer allein, daß ich den kleinen Gesandten aus Kinder- und Elfenland stets mit fester Stimme >Nepomuk!< anredete und ihn >Echo< nur nannte, wenn ich mit seinem Onkel von ihm sprach, (Her, wie die Frauen, diesen Namen aufgegriffen hatte. Dabei wird man es verstehen, daß der Erzieher und Lehrer in mir etwas besorgt, beunruhigt, ja verlegen blieb angesichts einer freilich anbetungswürdigen Lieblichkeit, die aber doch der Zeit anheimgegeben, und der beschieden war, zu reifen und dem Irdischen zu verfallen. In kurzer Frist würde das lächelnde Himmelsblau dieser Augen seine Urreinheit von anderwärts einbüßen; dies Engelsmienchen von eigentümlich ausgesprochener Kindlichkeit, mit dem leicht gespaltenen Kinn, dem reizenden Mund, der im Lächeln, wenn er die schimmernden Milchzähne sehen ließ, etwas voller wurde, als er in der Ruhe war, und zu dessen Winkeln, von dem feinen Naschen her, zwei weich gerundete Züge, die Mund- und Kinnpartie gegen die Bäckchen absetzend, hinuntergingen, würde zum Gesicht eines mehr oder weniger gewöhnlichen Buben werden, den man nüchtern und prosaisch würde anfassen müssen, und der keinen Grund mehr haben würde, solcher Behandlung mit der Ironie zu begegnen, mit der Nepo meinen pädagogischen Anlauf beobachtet hatte. Und doch war hier etwas — und jener Elfenspott schien der

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Ausdruck des Wissens davon —, was einen außerstand setzte, an die Zeit und ihr gemeines Werk, an ihre Macht über diese holde Erscheinung zu glauben, und das war ihre seltsame Insich-Geschlossenheit, ihre Gültigkeit als Erscheinung des Kindes auf Erden, das Gefühl von Herabgestiegensein und, ich wiederhole es, lieblichem Botentum, das sie einflößte, und das die Vernunft in außerlogische, von unserem Christentum tingierte Träume wiegte. Sie konnte die Unvermeidlichkeit des Wachstums nicht leugnen, aber sie rettete sich in eine Vorstellungssphäre des Mythisch-Zeitlosen, Gleichzeitigen und Nebeneinander-Bestehenden, worin die Mannesgestalt des Herrn keinen Widerspruch bildet zu dem Kinde im Arm der Mutter, das er auch ist, das immer ist und immer vor anbetenden Heiligen sein Händchen zum Kreuzeszeichen erhebt.
Welche Schwärmerei! wird man sagen. Aber ich kann nichts anderes tun, als meine Erfahrung wiedergeben und die tiefe Unbeholfenheit einbekennen, in die das leicht schwebende Dasein des Kleinen mich immer versetzte. Ich hätte mir ein Beispiel nehmen sollen — und versuchte auch, es zu tun — an Adrians Betragen, der kein Schulmann war, sondern ein Künstler, und die Dinge nahm, wie sie sich gaben, augenscheinlich ohne Gedanken an ihre Wandelbarkeit. Mit anderen Worten: er verlieh dem unaufhaltsamen Werden den Charakter des Seins, er glaubte ans Bild, und das war ein Glaube von einer gewissen Gelassenheit und Gemütsruhe (so schien es mir wenigstens), der, bildgewohnt, sich auch durch das unirdischste der Bilder nicht aus der Fassung bringen ließ. Echo, der Elfenprinz, war gekommen, — nun gut, man mußte ihn nach seiner Natur behandeln und weiter kein Aufhebens machen. Das schien mir Adrians Standpunkt. Natürlich war er weit entfernt von gefalteten Mienen und Trivialitäten wie »Nun, mein Jung', immer brav?« Doch andererseits überließ er die »Ach, du selig's Kindl«-Ekstase den einfachen Leuten draußen. Sein Verhalten zu dem Kleinen war von versonnen lächelnder oder auch ernster Zartheit, ohne Schöntuerei, ohne Geflöte, ohne Zärtlichkeit sogar. Tatsächlich habe ich ihn das Kind niemals

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auf irgendeine Weise liebkosen, ihn kaum sein Haar berühren sehen. Nur, daß er gern Hand in Hand mit ihm ins Feld spazierenging, das ist wahr.
Mich in der Wahrnehmung zu beirren, daß er das Nefflein vom ersten Tage an zärtlich liebte, daß dessen Erscheinen in seinem Leben hellichte Epoche gemacht hatte, vermochte sein Benehmen nun freilich nicht. Gar zu unverkennbar war, wie tief, innig, glücklich der süße, leichte, gleichsam spurlos gehende und dabei in gravitätische alte Worte gekleidete Elfenreiz des Kindes ihn beschäftigte und seine Tage füllte, obgleich er ihn nur stundenweise um sich hatte, die Wartung des Knäbleins selbstverständlich den Frauen zufiel, und dieses, da Mutter und Tochter viel anderes auszurichten hatten, auch oft an sicherem Orte sich selbst überlassen blieb. Von der Masernkrankheit war ihm ein starkes Schlafbedürfnis, wie ganz kleine Kinder es haben, zurückgeblieben, dem er am Tage, auch außerhalb der zur Ruhe bestimmten Nachmittagsstunden, viel nachgab, wo immer er gerade war. Er pflegte »'Nacht!« zu sagen, wenn der Schlummer ihn ankam, wie er es abends beim Zubettgehen sagte, aber das war sein Abschiedsgruß überhaupt: er sagte es zu jeder Tageszeit, wenn er wegging, oder ein anderer wegging, — statt »Adieu«, »Lebewohl« sagte er »'Nacht!« — es war das Gegenstück zu dem »'habt!«, mit dem er stets ein Genossenes quittierte. Er gab auch wohl das Händchen bei seinem »'Nacht!«, bevor er einschlief, im Grase oder im Stuhl, und ich habe Adrian gefunden, wie er im rückwärtigen Garten, auf einem sehr schmalen, nur aus drei zusammengenagelten Brettern bestehenden Bänkchen sitzend, Echo's Schlaf zu seinen Füßen bewachte. »Vorher hat er mir sein Händchen gegeben«, berichtete er, als er mich, aufblickend, erkannte. Denn meine Annäherung hatte er nicht bemerkt.
Was Else und Clementine Schweigestill mir berichteten, war, daß Nepomuk das artigste, fügsamste, unverdrießlichste Kind sei, das ihnen je vorgekommen, — was ja mit den Nachrichten über seine frühesten Tage übereinstimmte. Wirklich habe ich ihn wohl, wenn er sich weh getan, weinen sehen, doch niemals

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greinen, plärren, brüllen hören, wie Kinder im Zustand der Ungebärdigkeit tun. Es war dergleichen bei ihm ganz undenkbar. Verweise, Verbote, etwa zur Unzeit mit dem Knecht zu den Rössern oder mit Waltpurgis in den Kuhstall zu gehen, nahm er mit betontem Entgegenkommen hin und sprach vertröstende Worte dabei: »es bitzli später, leicht morgen einmal«, die weniger zur eigenen Beruhigung als zum Tröste derer dienen zu sollen schienen, die ihm, gewiß ungern, einen Wunsch verwehrten. Ja, er pflegte dabei den Verbieter zu streicheln, ganz mit dem Ausdruck: »Nimm es dir nicht zu Herzen! Nächstens einmal wirst du dir keinen Zwang mehr antun müssen und mir's gewähren dürfen.«
So war es auch, wenn er nicht in die Abtsstube hineindurfte, zu seinem Oheim. Es zog ihn sehr zu diesem, schon als ich ihn kennenlernte, nur vierzehn Tage nach seiner Ankunft, war deutlich, daß er an Adrian ausnehmend hing und nach seiner Gesellschaft strebte, auch deshalb gewiß, weil diese das Besondere und Interessante, diejenige seiner Pflegerinnen aber das Gewöhnliche war. Wie hätte ihm übrigens entgehen sollen, daß dieser Mann, seiner Mutter Bruder, unter den Ackerbürgern von Pfeiffering eine einzigartige, geehrte, ja mit Scheu betrachtete Stellung einnahm! Diese Scheu der anderen gerade mochte einen Sporn für seinen kindlichen Ehrgeiz bilden, mit dem Onkel sein zu dürfen. Man kann nun aber nicht sagen, daß Adrian dem Trachten des Kleinen uneingeschränkt entgegenkam. Ganze Tage sah er ihn nicht, ließ ihn nicht zu sich, schien ihn zu meiden und sich den zweifellos geliebten Anblick zu verbieten. Dann freilich wieder verbrachte er lange Stunden mit ihm, nahm, wie ich sagte, sein Händchen zu Spaziergängen, so ausgedehnt, wie sie dem zarten Gefährten eben zuzumuten waren, wanderte mit ihm, in einträchtigem Schweigen oder in kleinem Gespräch, durch die feuchte Sättigung der Jahreszeit, in der Echo gekommen war, die Düfte des Faulbaums und Flieders, sodann des Jasmins an ihren Wegen, oder ließ den Leichten auch^auf schmalen Pfaden vor sich gehen, zwischen Mauern dem Schnitt schon gelb entgegenreifenden Korns,

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dessen Halme, mit nickenden Ähren, so hoch, wie Nepomuk war, aus der Krume stiegen.
»Aus dem Erdrich«, sagte ich besser, denn so sagte der Kleine, indem er seine Genugtuung bekundete, daß der »Rein« dieser Nacht das Erdrich »erkickt« habe.
»Der Rein, Echo?« fragte sein Onkel, indem er sich das »erkicken« als Kindersprache gefallen ließ.
»Ja, der Reigen«, bestätigte sein Weggenosse etwas ausführlicher und wollte sich auf weitere Diskussionen nicht einlassen.
»Denke dir, er spricht von erkickendem Rein!« berichtete mir Adrian das nächste Mal mit großen Augen. »Ist das nicht seltsam?«
Ich konnte den Freund darüber belehren, daß in unserem Mitteldeutsch »Rein« oder »Reigen« Jahrhunderte lang, bis ins fünfzehnte, das Wort für »Regen« gewesen sei, und daß übrigens »erkicken« oder »erkücken« im Mittelhochdeutschen neben »erquicken« bestanden habe.
»Ja, der ist weither«, nickte Adrian mit einer gewissen benommenen Anerkennung.
Aus der Stadt, wenn er dorthin fahren mußte, brachte er dem Knaben Geschenke mit: allerlei Getier, einen aus der Schachtel springenden Zwerg, eine Eisenbahn, an der, wenn sie um ihr Schienen-Oval eilte, ein Blinklicht zuckte^ einen Zauberkasten, in dem das geschätzteste Stück ein Glas mit rotem Weine war, das nicht auslief, wenn man es umkehrte. Echo freute sich wohl über diese Gaben, sagte aber doch bald »'habt«, wenn er damit gespielt hatte, und zog es bei weitem vor, wenn der Onkel ihm die Gegenstände seines eigenen Gebrauches zeigte und erklärte — immer dieselben und immer aufs neue, denn Beharrlichkeit und Wiederholungsverlangen der Kinder sind groß in Dingen der Unterhaltung. Das aus einem Elefantenzahn zugeschliffene Papiermesser, der um seine schräge Achse rollende Globus mit zerrissenen Ländermassen, einschneidenden Meerbusen, Binnengewässern absonderlicher Gestalt und blauend raumbedeckenden Ozeanen; die schlagende

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Stutzuhr, deren Gewichte man mit einer Kurbel aus der Tiefe, worin sie gesunken, wieder emporwand: das waren von den Eigentümlichkeiten einige, die der Kleine nachzuprüfen begehrte, wenn er schlank und fein bei ihrem Inhaber eintrat und mit seinem Stimmchen fragte:
»Siehst du sauer ins Feld, weil ich komme?«
»Nein, Echo, nicht sonderlich sauer. Die Uhrgewichte sind aber erst halb hinunter.«
In diesem Fall mochte es die Spieldose sein, nach der er verlangte. Sie war meine Beisteuer, ich hatte sie ihm gebracht: ein braunes Kästchen, dessen Werk an der Unterseite aufzuziehen war. Dann drehte die mit kleinen Metallwarzen bedeckte Walze sich an den gestimmten Zinken eines Kammes vorbei und spielte, anfangs in beeilter Zierlichkeit, dann langsamer ermüdend, drei wohlharmonisierte kleine Biedermeier-Melodien, denen Echo in immer gleichem Gebanntsein lauschte, mit Augen, in denen Amüsiertheit, Erstaunen und tief schauende Träumerei sich auf unvergeßliche Weise mischten.
Auch des Onkels Handschriften, diese über die Liniensysteme hingestreuten, mit Fähnchen und Federchen geschmückten, durch Bögen und Balken verbundenen, leeren und schwarzen Runen, betrachtete er gern und ließ sich erklären, wovon etwa mit all den Zeichen die Rede war: — von ihm, unter uns gesagt, und ich möchte wohl wissen, ob er das ahnungsweise schloß, ob es in seinen Augen zu lesen war, daß er es schloß aus des Meisters Erläuterungen. Dies Kind, vor uns allen zuerst, durfte >Einblick< nehmen in die Partiturskizze von Ariels Liedern aus dem >Tempest<, an denen Leverkühn damals heimlich arbeitete: er setzte sie, indem er das erste, von geisternd zerstreuten Naturstimmen erfüllte, das »Come unto these yellow sands«, mit dem zweiten, rein lieblichen, dem »Where the bee sucks, there suck I«, zur Einheit zusammenzog, für Sopran, Celesta, sordinierte Geige, eine Oboe, eine gedämpfte Trompete und die Flageolett-Töne der Harfe, und wahrlich, wer diese >zierlich spukenden« Klänge vernimmt, sie auch nur mit seines Geistes Ohr, beim Lesen, vernimmt, mag wohl

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mit dem Ferdinand des Stückes fragen: »Wo ist wohl die Musik? In der Luft? auf Erden?« Denn der sie fügte, hat in sein spinnwebfeines, wisperndes Gewebe nicht nur die schwebende, kindlich-hold-verwirrende Leichtigkeit Ariels — of my dainty Ariel —, sondern die ganze Welt der Elfen von Hügeln, Bächen, Hainen eingefangen, wie sie, nach Prospero's Beschreibung, als schwache Meisterlein und halbe Püppchen bei Mondschein ihre kleine Kurzweil treiben, dem Schafe Futter ringeln, das es vermeidet, und mitternächtige Pilze ziehen.
Echo wollte immer wieder in den Noten die Stellen sehen, wo der Hund »Bowgh, wowgh« und der Hahn »Cock-a-doodledoo« macht. Und Adrian erzählte ihm dazu von der schlimmen Hexe Sycorax und ihrem kleinen Diener, den sie, weil er ein allzu zarter Geist war, um ihren gemeinen Weisungen zu gehorchen, in den Spalt einer Fichte klemmte, in welcher Zwangslage er zwölf jammervolle Jahre verbrachte, bis der gute Zaubermeister kam und ihn befreite. Nepomuk begehrte zu wissen, wie alt das Geistlein gewesen sei, als es eingeklemmt wurde, und wie alt also nach zwölf Jahren, als ihm Befreiung ward; aber der Onkel sagte ihm, der Kleine habe kein Alter gehabt, sondern sei vor und nach der Gefangenschaft immer dasselbe zierliche Kind der Lüfte gewesen, was Echo zu befriedigen schien.
Auch andere Märchen erzählte ihm der Herr der Abtsstube, so gut er sich ihrer erinnerte: vom Rumpelstilzchen," vom Falada und von Rapunzel, vom singenden springenden Löweneckerchen, und dazu freilich wollte der Kleine auf des Oheims Knien sitzen, seitlich, indem er zuweilen das Ärmchen um dessen Nacken schlang. »Das rauscht also wunderlich daher«, sagte er wohl, wenn eine Geschichte geendigt war, schlief aber öfters vorher ein, den Kopf an der Brust des Erzählers geborgen. Der saß dann lange unbeweglich, das Kinn leicht auf das Haar des Schlummernden gestützt, bis eine der Frauen kam und Echo holte.
Wie ich sagte, hielt Adrian sich tageweise das Knäblein fern, sei es, weil er beschäftigt war, oder weil die Migräne ihn in die Stille, ja ins Dunkel zwang, oder aus welchem Grunde immer.

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Aber nach einem Tage gerade, an welchem er Echo nicht gesehen, trat er gern abends, wenn man das Kind zu Bett gebracht hatte, leise und kaum bemerkt, bei ihm ein, um dem Nachtgebet beizuwohnen, das es, auf dem Rücken liegend, die flachen Händchen vor der Brust zusammengefügt, mit einer seiner Pflegerinnen oder auch beiden, Frau Schweigestill und ihrer Tochter, abhielt. Es waren absonderliche Segen, die er da, das himmlische Blau seiner Augen zur Decke aufgetan, höchst ausdrucksvoll rezitierte, und er verfügte über eine ganze Auswahl davon, so daß er kaum je an zwei aufeinanderfolgenden Abenden sich des gleichen bediente. Zu bemerken ist, daß er »Gott« immer wie »Gor« aussprach und es liebte, dem »wer«, »welch« und »wie« ein anlautendes S zu verleihen, so daß er sagte:

Swelch Mensche lebt in Gotes Gebote,
In dem ist Got und er in Gote.
Demselben ich mich befehlen tu.
Wird mir helfen zu rechter Ruh. Amen.

Oder:

Swie groß si jemands Missetat,
Got dennoch mehr Genaden hat.
Mein Sund nicht viel besagen will,
Got lächelt in Seiner Gnadenfüll'. Amen. 1

Oder, sehr merkwürdig wegen der unverkennbaren Färbung des Gebetes durch die Prädestinationslehre:

Durch Sünde niemand lassen soll,
Er tu doch noch etwelches Wohl.
Niemandes Guttat wird verloren,
Er sei zur Höllen denn geboren.
O wollten ich und die ich mein' (liebe)
Zur Seligkeit geschaffen sein! Amen.

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Dann auch zuweilen:

Die Sonne schint den Tüfel an
Und scheidet reine doch hindan.
Halt du mich rein im Erdentale,
Bis daß ich Todesschuld bezahle. Amen.


Oder endlich:

Merkt, swer für den andern bitt',
Sich selber löset er damit.
Echo bitt' für die ganze Welt,
Daß Got auch ihn in Armen hält. Amen.

Diesen Spruch hörte ich selbst von ihm mit größter Rührung, ohne daß er, glaube ich, meiner Gegenwart gewahr wurde.
»Was sagst du«, fragte Adrian mich draußen, »zu dieser theologischen Spekulation? Er bittet gleich für die ganze Schöpfung, ausdrücklich um selbst mit eingeschlossen zu sein. Sollte der Fromme eigentlich wissen, daß er sich selber dient, indem er für andere bittet? Die Uneigennützigkeit ist doch aufgehoben, sobald man sich merkt, daß sie nützlich ist.«
»So weit hast du recht«, erwiderte ich. »Er wendet die Sache aber doch ins Uneigennützige, indem er nicht für sich selbst nur bitten mag, sondern es für uns alle tut.«
»Ja, für uns alle«, sagte Adrian leise.
»Übrigens sprechen wir von ihm«, fuhr ich fort, »als hätte er selbst sich diese Dinge ausgedacht. Hast du ihn je gefragt, woher er sie hat? Von seinem Vater oder von wem?«
Die Antwort war:
»O nein, ich ziehe es vor, die Frage auf sich beruhen zu lassen, und nehme an, er wüßte mir keinen Bescheid.« Es schien, die Schweigestill'schen Frauen hielten es ebenso. Auch sie haben, meines Wissens, niemals das Kind befragt, wie es zu seinen Abendsprüchlein gekommen sei. Von ihnen habe ich diejenigen, die ich nicht selber von ferne mit angehört. Ich ließ sie mir von ihnen sagen zu einer Zeit, als Nepomuk Schneidewein nicht mehr unter uns weilte.

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XLV

Er wurde uns genommen, das seltsam-holde Wesen wurde von dieser Erde genommen, — ach, du mein Gott, was suche ich nach sanften Worten für die unfaßlichste Grausamkeit, deren Zeuge ich je gewesen, und die mir das Herz noch heute zu bitterer Anklage, ja zur Empörung versucht. Mit entsetzlicher Wildheit und Wut wurde er gepackt und in wenigen Tagen dahingerafft, durch eine Krankheit, von der kein Fall in der Gegend seit längerem vorgekommen war, von der aber der gute, von solchem Ungestüm ihres Auftretens ganz betroffene Dr. Kürbis uns sagte, daß Kinder während der Rekonvaleszenz von Masern oder Keuchhusten wohl anfällig für sie seien.
Die ersten Merkmale eines alterierten Befindens mit eingerechnet, spielte das Ganze sich in knapp zwei Wochen ab, von denen die erste noch das schrecklich Bevorstehende niemanden — ich glaube, niemanden — ahnen ließ. Es war Mitte August und draußen die Ernte, mit zusätzlichen Arbeitskräften, in vollem Gange. Zwei Monate lang war Nepomuk die Freude des Hauses gewesen. Ein Schnupfen trübte die süße Klarheit seiner Augen — es war gewiß auch nur diese lästige Affektion, die ihm die Eßlust raubte, ihn verdrießlich stimmte und die Somnolenz verstärkte, zu der er, seit wir ihn kannten, geneigt hatte. Er sagte »'habt« zu allem, was man ihm anbot, zur Nahrung, zum Spielen, zum Bilderbesehen, zum Märchenhören, »'habt!« sagte er, das Mienchen schmerzlich verzogen, und wandte sich ab. Bald trat eine Intoleranz gegen Licht und Töne hervor, beunruhigender als die bisherige Verstimmung. Er schien das Geräusch in den Hof einfahrender Wagen, den Stimmklang der Leute als übermäßig zu empfinden. »Sprecht leise!« bat er und flüsterte selbst, wie um ein Beispiel zu geben. Nicht einmal die zierlich klimpernde Spieldose wollte er hören, sprach rasch sein gequältes »'habt, 'habt!«, stoppte eigenhändig das Werk und weinte dann bitterlich. So floh er den Sonnenschein jener Hochsommertage in Hof und Garten, suchte das Zimmer, saß dort

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gebückt und rieb sich die Augen. Schwer war es zu sehen, wie er, sein Heil suchend, von einem, der ihn liebte, zum anderen ging und ihn umhalste, um bald wieder ungetröstet von jedem abzulassen. So klammerte er sich an Mutter Schweigestill, an Clementine, an die Magd Waltpurgis und kam aus demselben Triebe mehrmals zu seinem Onkel. Er drängte sich an seine Brust und blickte, auf seinen sanften Zuspruch lauschend, zu ihm auf, lächelte auch wohl schwach, ließ aber dann das Köpfchen in Abständen tief und tiefer sinken und murmelte »'Nacht!«, — womit er auf seine Füße glitt und leise schwankend das Zimmer verließ.
Der Arzt kam, nach ihm zu sehen. Er gab ihm Nasentropfen und verschrieb ein tonisches Mittel, hielt aber nicht mit der Vermutung zurück, daß wohl eine ernstere Krankheit im Anzüge sein könnte. Auch gegen seinen langjährigen Patienten in der Abtsstube äußerte er diese Besorgnis.
»Meinen Sie?« fragte Adrian erbleichend.
»Die Sache ist mir nicht ganz geheuer«, meinte der Doktor.
»Nicht geheuer?!«
Die Wendung wurde in so erschrecktem und fast schrecklichem Ton wiederholt, daß Kürbis sich fragte, inwiefern er damit übers Ziel geschossen.
»Nun ja, in dem Sinn, wie ich sagte«, antwortete er. »Sie selbst könnten besser ausschauen, Verehrter. Hängen wohl arg an dem Buberl?«
»O doch«, hieß es da. »Es ist eine Verantwortung, Doktor. Das Kind ist zur Stärkung seiner Gesundheit hier auf dem Lande in unsere Obhut gegeben worden .. .«
»Das Krankheitsbild, wenn man von einem solchen überhaupt sprechen kann«, erwiderte der Arzt, »bietet im Augenblick keinerlei Handhabe für eine unerfreuliche Diagnose. Ich komme morgen wieder.«
Das tat er und konnte seine Bestimmung des Falles nun mit nur allzuviel Sicherheit abgeben. Nepomuk hatte ein jähes, eruptionsartiges Erbrechen gehabt, und zugleich mit Fieber von allerdings nur mittleren Graden hatten Kopfschmerzen eingesetzt,

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die sich binnen wenigen Stunden ins offenbar Unerträgliche steigerten. Das Kind war, als der Doktor kam, schon zu Bett gebracht worden, hielt sich das Köpfchen mit beiden Händen und stieß Schreie aus, die sich oft, eine Marter für jeden, der es hörte — und man hörte es durch das ganze Haus —, bis zum letzten Rest des Atems verlängerten. Dazwischen streckte es die Händchen nach denen aus, die es umgaben, und rief: »Helft! Helft! O Hauptwehe! Hauptwehe!« Dann riß ein neues wildes Erbrechen es auf, von dem es unter Zuckungen zurücksank.
Kürbis prüfte des Kindes Augen, deren Pupillen sehr klein zusammengezogen waren, und die eine Neigung zum Schielen zeigten. Der Puls eilte. Muskelkontraktionen und eine beginnende Starre des Nackens waren deutlich. Es war Cerebrospinal-Meningitis, die Hirnhautentzündung, — der gute Mann sprach, mit einer mißlichen Kopfbewegung nach der Schulter, den Namen aus, in der Hoffnung doch wohl, man möchte sich über die fast völlige Ohnmacht nicht im klaren sein, die seine Wissenschaft vor dieser fatalen Berührung einzugestehen hatte. Eine Andeutung davon lag in seinem Vorschlag, man möge immerhin vielleicht den Eltern des Kindes telegraphische Nachricht geben. Die Gegenwart der Mutter wenigstens werde wahrscheinlich beruhigend auf den kleinen Patienten wirken. Ferner verlangte er die Zuziehung eines Internisten aus der Hauptstadt, mit dem er sich in die Verantwortung für den leider nicht unernsten Fall zu teilen wünsche. »Ich bin ein einfacher Mann«, sagte er. »Hier ist ein Aufgebot von höherer Autorität am Platze.« Ich glaube, es lag betrübte Ironie in seinen Worten. Die Rückenmarkpunktion jedenfalls, sogleich notwendig zur Festigung der Diagnose, wie auch, weil sie das einzige Mittel war, dem Kranken Erleichterung zu schaffen, getraute er sich sehr wohl selbst vorzunehmen. Frau Schweigestill, bleich, aber •.rüstig und dem Menschlichen treu wie immer, hielt das wimmernde Kind im Bette gebeugt, daß Kinn und Knie sich fast berührten, und zwischen den auseinandergegangenen Wirbeln führte Kürbis seine Nadel bis zum Spinalkanal; aus dem tropfenweise die Flüssigkeit austrat. Fast sofort ließen die

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unsinnigen Kopfschmerzen nach. Sollten sie wiederkehren, sagte der Doktor — er wußte, daß sie schon nach ein paar Stunden wiederkehren mußten, da nur so lange die Druckentlastung durch die Entziehung der Gehirnventrikelflüssigkeit vorhält —, so solle man außer dem obligaten Eisbeutel die Chloral-Medizin geben, die er verschrieb, und die aus der Kreisstadt geholt wurde.
Aus dem Schlaf der Erschöpfung, in den er nach der Punktion gefallen war, durch neues Erbrechen, Konvulsionen seines kleinen Körpers und schädelsprengende Schmerzen aufgestört, begann Nepomuk wieder sein herzzerreißendes Lamentieren und gellendes Aufschreien, — es war der typische >hydrocephale Schrei<, gegen den nur das Gemüt des Arztes, eben weil er ihn als typisch erfaßt, leidlich gewappnet ist. Das Typische läßt kühl, nur das als individuell Verstandene macht, daß wir außer uns geraten. Dies ist die Ruhe der Wissenschaft. Sie hinderte ihren ländlichen Jünger nicht, von den Brom- und Chloral-Präparaten seiner ersten Verordnung sehr bald zum Morphium überzugehen, das etwas besser anschlug. Er mochte sich ebensosehr um der Hausbewohner willen — wobei ich besonders einen im Auge habe — wie aus Barmherzigkeit für das gemarterte Kind dazu entschließen. Nur alle vierundzwanzig Stunden durfte die Flüssigkeitsentnahme wiederholt werden, und nur während zweier davon hielt die Erleichterung an. Zweiundzwanzig Stunden schreiender, sich bäumender Folter eines Kindes, und dieses Kindes, das die bebenden Händchen faltet und stammelt: »Echo will herzig sein, Echo will herzig sein!« Ich füge hinzu und sage, daß für die, die Nepomuk sahen, ein Nebensymptom vielleicht das Schrecklichste war. Es war das zunehmende schielende Verschieden seiner Himmelsaugen, zu erklären aus einer mit der Nackenstarre einhergehenden Augenmuskellähmung. Es verfremdete jedoch das süße Gesicht aufs gräßlichste und erweckte besonders im Verein mit dem Zähneknirschen, in das der Heimgesuchte bald verfiel, einen Eindruck von Besessenheit.
Am nächsten Nachmittag kam, von Waldshut abgeholt durch Gereon Schweigestill, die konsultierende Autorität aus

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München, Professor von Rothenbuch. Unter den von Kürbis vorgeschlagenen hatte Adrian ihn seines Rufes wegen gewählt. Er war ein hochgewachsener, gesellschaftlich gewandter, zur Königszeit persönlich geadelter, vielgesuchter und kostspieliger Mann mit einem wie zu beständiger Examinierung halb geschlossenen Auge. Er beanstandete das Morphium, weil es ein Coma vortäuschen könne, das »noch gar nicht eingetreten« sei, und ließ nur Codein zu. Offenbar lag ihm vor allem an einem korrekten, in seinen Stadien unverwischten Ablauf des Falles. Im übrigen bestätigte er nach der Untersuchung die Anordnungen seines ländlichen, ihn sehr umdienernden Kollegen: also Abblendung des Tageslichtes, Hochlagerung des gekühlten Kopfes, vorsichtigste Berührung des kleinen Patienten, Hautpflege durch Alkohol-Abreibungen und konzentrierte Nahrung, deren Einführung mit Schlauch durch die Nase wahrscheinlich notwendig werden würde. Seine Tröstungen waren, wohl weil er sich nicht im Elternhause des Kindes befand, freimütig-unzweideutiger Art. Bewußtseinstrübung, legitim und nicht verfrüht durch Morphium herbeigeführt, werde nicht lange auf sich warten lassen und sich rasch vertiefen. Das Kind werde dann weniger und endlich überhaupt nicht mehr leiden. Auch krasse Symptome solle man sich aus diesem Grunde nicht allzu nahgehen lassen. Nachdem er die Güte gehabt, eigenhändig die zweite Punktion auszuführen, verabschiedete er sich würdevoll und kam nicht wieder.
Für mein Teil konnte ich mich, durch Mutter Schweigestill täglich über die jammervollen Vorgänge telephonisch benachrichtigt, erst am vierten Tage nach dem vollen Ausbruch der Krankheit, einem Samstag, in Pfeiffering einfinden, als, unter wütenden Krämpfen, die den kleinen Leib auf die Folter zu spannen schienen und ihm die Augäpfel nach oben kehrten, das ^Coma schon eingesetzt hatte, des Kindes Schreien verstummt war, und nur noch Zähneknirschen übrigblieb. Frau Schweigestill, übernächtigen Anblicks und mit dickverweinten Augen, empfing mich im Haustor und empfahl mir dringend, sogleich zu Adrian zu gehen. Das arme Kind, bei dem übrigens seit

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gestern nacht schon die Eltern seien, sähe ich früh genug. Der Herr Doktor aber, er habe meinen Zuspruch nötig, es stehe nicht gut um ihn, im Vertrauen gesagt, scheine es ihr manchmal, als rede er irre.
Mit Bangen begab ich mich zu ihm. Er saß an seinem Arbeitstisch und blickte bei meinem Eintreten nur flüchtig und gleichsam geringschätzig auf. Erschreckend blaß, hatte er die geröteten Augen aller Bewohner des Hauses und bewegte geschlossenen Mundes die Zunge mechanisch irgendwo seitlich am Inneren der Unterlippe hin und her.
»Du, guter Mann?« sagte er, als ich zu ihm getreten war und ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Was willst du hier? Das ist kein Ort für dich. Mach wenigstens dein Kreuz, so, von der Stirn zu den Schultern, wie du's als Kind zu deinem Schütze gelernt hast!«
Und da ich ein paar Worte des Trostes und der Hoffnung sprach —
»Spar dir«, unterbrach er mich rauh, »die Humanistenflausen! Er nimmt ihn. Wollte er's kurz machen! Vielleicht kann er's nicht kürzer machen mit seinen elenden Mitteln.«
Und er sprang auf, lehnte sich gegen die Wand und preßte den Hinterkopf gegen die Täfelung.
»Nimm ihn, Scheusal!« rief er mit einer Stimme, die mir ins Mark schnitt. »Nimm ihn, Hundsfott, aber beeil dich nach Kräften, wenn du denn, Schubiack, auch dies nicht dulden wolltest! Ich hatte gedacht«, wandte er sich plötzlich leise-vertraulich an mich, schritt vor und sah mich mit einem verlorenen Blicke an, den ich nie vergessen werde, »daß er dies zulassen werde, dies vielleicht doch, aber nein, woher soll der Gnade nehmen, der Gnadenferne, und gerade dies wohl mußt' er in viehischer Wut zertreten. Nimm ihn, Auswurf!« schrie er auf und trat wieder zurück von mir, wie ans Kreuz. »Nimm seinen Leib, über den du Gewalt hast! Wirst mir seine süße Seele doch hübsch zufrieden lassen müssen, und das ist deine Ohnmacht und dein Ridikül, mit dem ich dich ausspotten will Äonen lang. Mögen auch Ewigkeiten gewälzt sein zwischen meinen Ort und

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seinen, ich werde doch wissen, daß er ist, von wo du hinausgeworfen wurdest, Dreckskerl, und das wird netzendes Wasser sein für meine Zunge und ein Hosianna dir zum Hohn im untersten Fluch!«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, wandte sich um und lehnte die Stirn gegen das Holz.
Was sollte ich sagen? Was tun? Wie solchen Worten begegnen? »Lieber, um alles, beruhige dich, du bist außer dir, der Schmerz spiegelt dir Unsinniges vor«, sagt man ungefähr und mag aus Ehrfurcht vorm Seelischen, besonders wenn es sich um einen Menschen handelt wie diesen, nicht an körperliche Kalmierungen und Herabsetzungen, nicht an das Bromural denken, das im Hause ist.
Auf meinen bittenden Trost antwortete er wieder nur:
»Spar dir's, spar dir's und mach dein Kreuz! Da oben geht's zu. Mach's nicht für dich nur, sondern gleich auch für mich und meine Schuld! — Welche Schuld, welche Sünde, welch ein Verbrechen« — und er saß nun wieder am Schreibtisch, die Schläfen zwischen den geschlossenen Händen —, »daß wir ihn kommen ließen, daß ich ihn in meine Nähe ließ, daß ich meine Augen an ihm weidete! Du mußt wissen, Kinder sind aus zartem Stoff, sie sind gar leicht für giftige Einflüsse empfänglich ...«
Nun war ich es wahrhaftig, der aufschrie und ihm entrüstet das Wort verbot.
»Adrian, nein!« rief ich. »Was tust du dir an und quälst dich mit was für absurden Selbstbezichtigungen einer blinden Schickung wegen, die das liebe, vielleicht für diese Erde zu liebe Kind hätte ereilen können, wo es auch war! Sie mag uns das Herz zerreißen, soll uns aber nicht der Vernunft berauben. Du hast ihm nichts als Liebes und Gutes getan ...«
Er winkte nur ab. Ich saß bei ihm wohl eine Stunde und . sprach ihn hie und da leise an, worauf er Antworten murmelte, die ich kaum verstand. Dann sagte ich, ich wollte unseren Kranken besuchen.
»Tu das nur«, erwiderte er und fügte hartherzig hinzu:
»Aber red ihn nicht an wie damals, mit >Nun, mein Jung',

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immer brav< und so weiter. Erstens hört er dich nicht, und dann war's wohl überhaupt gegen den humanistischen Geschmack.«
Ich wollte gehen, aber er hielt mich auf, indem er mich bei meinem Nachnamen rief: »Zeitblom!«, was ebenfalls sehr hart klang. Und als ich mich umwandte:
»Ich habe gefunden«, sagte er, »es soll nicht sein.«
»Was, Adrian, soll nicht sein?«
»Das Gute und Edle«, antwortete er mir, »was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.«
»Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?«
»Die Neunte Symphonie«, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete.
Verwirrt und gramvoll begab ich mich hinauf in das Schicksalszimmer. Die Atmosphäre der Krankenstube, medikamentös, dumpfig und reinlich-fade, herrschte dort, obgleich die Fenster offenstanden. Doch waren die Läden bis auf einen Spalt herangezogen. Nepomuks Bett war von mehreren Personen umstanden, denen ich die Hand reichte, während meine Augen doch nur auf das sterbende Kind gerichtet waren. Es lag auf der Seite, zusammengekrümmt, Ellbogen und Knie angezogen. Mit hochgeröteten Wangen atmete es einmal tief, und dann hatte man lange auf den nächsten Atemzug zu warten. Die Augen waren nicht völlig geschlossen, aber zwischen den Wimpern war nicht das Blau der Iris zu sehen, sondern nur Schwärze. Es waren die Pupillen, die größer und größer, wenn auch verschieden groß, geworden waren und fast den Farbstern verschlangen. Doch war es noch gut, wenn man ihre spiegelnde Schwärze sah. Zuweilen wurde es weiß im Spalt: Dann preßten die Ärmchen sich enger an die Flanken des Kindes, und der knirschende Krampf -verbog, grausam zu sehen, wenn auch vielleicht nicht mehr erlitten, die kleinen Glieder.
Die Mutter schluchzte. Ich hatte ihre Hand gedrückt und

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drückte sie wieder. Ja, sie war da, Ursel, Hof Bucheis braunäugige Tochter, Adrians Schwester, und aus den harmvollen Zügen der nun Achtunddreißigjährigen traten mir, stärker noch als ehemals, zu meiner Rührung die väterlichen, die altdeutschen Züge Jonathan Leverkühns entgegen. Mit ihr war ihr Gatte, an den die Depesche gegangen war, und der sie von Suderode abgeholt hatte: Johannes Schneidewein, ein großer, schöner, schlichter Mann im blonden Bart, mit den blauen Augen Nepomuks und von der bieder-bedeutsamen Sprechweise, die Ursula früh von ihm angenommen, und deren Rhythmus wir im Stimmklang des Elfen, an Echo gekannt hatten.
Wer sonst noch im Zimmer war, außer der ab- und zugehenden Frau Schweigestill, das war die wollige Kunigunde Rosenstiel, welche bei einem Besuch, der ihr erlaubt gewesen, des Knäbleins Bekanntschaft gemacht und es leidenschaftlich in ihr trauerndes Herz geschlossen hatte. Sie hatte damals, mit der Maschine, auf Briefbögen ihrer derben Firma und mit kaufmännischen Und-Zeichen, einen langen Brief in vorbildlichem Deutsch über ihre Eindrücke an Adrian geschrieben. Nun hatte sie es, die Nackedey aus dem Felde schlagend, durchgesetzt, die Schweigestills und zuletzt Ursel Schneidewein in der Pflege des Kindes ablösen zu dürfen, wechselte seinen Eisbeutel, wusch es mit Alkohol, suchte ihm Medizin und Nahrungssaft einzuflößen und räumte nachts ungern und selten einem andern den Platz an seinem Bette ein...
Wir hatten, die Schweigestills, Adrian, seine Verwandten, Kunigunde und ich, im Nike-Saal ein wortkarges Abendessen miteinander, von dem öfters eine der Frauen aufstand, um nach dem Kranken zu sehen. Am Sonntagvormittag schon mußte ich, so schwer es mir wurde, Pfeiffering verlassen. Für den Montag hatte ich noch einen ganzen Stapel lateinischer Extemporalien zu korrigieren. Ich schied von Adrian, milde Wünsche auf den Lippen, und wie er mich entließ, war mir lieber, als wie er mich gestern empfangen hatte. Mit einer Art von Lächeln sprach er auf englisch die Worte:
»Then to the elements. Be free, and fare thou well!«

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Dann wandte er sich rasch von mir.
Nepomuk Schneidewein, Echo, das Kind, Adrians letzte Liebe, entschlief schon zwölf Stunden später. Die Eltern nahmen den kleinen Sarg mit sich in ihre Heimat.


XLVI

Beinahe vier Wochen lang habe ich an diesen Aufzeichnungen nicht fortgeschrieben, angehalten erstens durch eine gewisse seelische Erschöpfung nach dem vorstehend Erinnerten, zugleich aber durch die jetzt einander jagenden, nach ihrem logischen Ablauf vorausgesehenen, in gewisser Weise ersehnten und nun doch ein ungläubiges Grauen erregenden Tagesereignisse, die unser unseliges Volk, von Jammer und Schrecken ausgehöhlt, unfähig zu begreifen, in stumpfem Fatalismus über sich ergehen läßt, und denen auch mein von alter Trauer, altem Entsetzen müdes Gemüt hilflos ausgesetzt war.
Seit Ende März schon — wir schreiben den 25. April dieses Schicksalsjahres 1945 — ist im Westen des Landes unser Widerstand sichtlich in voller Auflösung begriffen. Die öffentlichen Blätter, schon halb entfesselt, registrieren die Wahrheit, das Gerücht, genährt von Radio-Meldungen des Feindes, von den Erzählungen Flüchtiger, kennt keine Zensur und trägt die Einzelfälle der sich rapide ausbreitenden Katastrophe in den noch nicht von ihr verschlungenen, noch nicht befreiten Gegenden des Reiches umher bis in meine Klause. Kein Halten mehr: alles gibt sich gefangen und läuft auseinander. Unsere zerschmetterten und zermürbten Städte fallen wie reife Pflaumen. Darmstadt, Würzburg, Frankfurt gingen dahin, Mannheim und Kassel, Münster gar, Leipzig bereits gehorchen den Fremden. Eines Tages standen die Engländer in Bremen, die Amerikaner im oberfränkischen Hof. Nürnberg ergab sich, die Stadt der unkluge Herzen hoch erhebenden Staatsfeste. Unter den Großen des Regimes, die sich in Macht, Reichtum und Unrecht gewälzt, wütet richtend der Selbstmord.

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Russische Corps, durch die Einnahme von Königsberg und Wien zur Forcierung der Oder frei geworden, rückten, eine Millionen-Armee, gegen die in Schutt liegende, von allen Staatsämtern schon geräumte Reichshauptstadt, vollendeten mit ihrer schweren Artillerie das längst aus der Luft Vollstreckte und nähern sich gegenwärtig dem Stadtzentrum. Der grausige Mann, der voriges Jahr dem Anschlage verzweifelter, auf Rettung der letzten Substanz, der Zukunft bedachter Patrioten mit dem Leben, allerdings einem nur noch irre flackernden und flatternden, entrann, befahl seinen Soldaten, den Angriff auf Berlin in einem Meer von Blut zu ertränken und jeden Offizier zu erschießen, der von Übergabe spreche. Das ist vielfach befolgt worden. Gleichzeitig durchirren seltsame, ebenfalls nicht mehr ganz geistesklare Radio-Sendungen deutscher Zungen den Äther: solche sowohl, die die Bevölkerung und selbst die Schergen der Geheimen Staatspolizei, als vielverleumdet, dem Wohlwollen der Sieger empfehlen, wie auch solche, die von einer auf den Namen >Werwolf< getauften Freiheitsbewegung zu melden wissen: einem Verbände rasender Knaben, die, in Wäldern versteckt und aus ihnen nächtlich hervorbrechend, schon durch manchen wackeren Mord an den Eindringlingen sich um das Vaterland verdient gemacht hätten. O jammervolle Groteske! So wird bis zuletzt das rohe Märchen, der grimme Sagenniederschlag im Gemüt des Volkes, nicht ohne vertrauten Widerhall, angerufen.
Unterdessen läßt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Weimar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren und erklärt sie — soll man sagen: mit Unrecht? —, erklärt diese Bürger, die in scheinbaren Ehren ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, obgleich der Wind ihnen den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen blies, — erklärt sie für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln, auf die er sie zwingt, die Augen zu richten. Mögen sie schauen — ich schaue mit ihnen, ich lasse mich schieben im Geiste von ihren stumpfen oder auch schaudernden Reihen. Der dickwandige Folter

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keller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach. Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft >Deutschland< in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?
Man nenne es finstere Möglichkeiten der Menschennatur überhaupt, die hier zutage kommen, — deutsche Menschen, Zehntausende, Hunderttausende, sind es nun einmal, die verübt haben, wovor die Menschheit schaudert, und was nur immer auf deutsch gelebt hat, steht da als ein Abscheu und als Beispiel des Bösen. Wie wird es sein, einem Volke anzugehören, dessen Geschichte dies gräßliche Mißlingen in sich trug, einem an sich selber irre gewordenen, seelisch abgebrannten Volk, das eingestandenermaßen daran verzweifelt, sich selbst zu regieren, und es noch für das beste hält, zur Kolonie fremder Mächte zu werden; einem Volk, das mit sich selbst eingeschlossen wird leben müssen wie die Juden des Ghetto, weil ein ringsum furchtbar aufgelaufener Haß ihm nicht erlauben wird, aus seinen Grenzen hervorzukommen, — ein Volk, das sich nicht sehen lassen kann?
Fluch, Fluch den Verderbern, die eine ursprünglich biedere, rechtlich gesinnte, nur allzu gelehrige, nur allzu gern aus der Theorie lebende Menschenart in die Schule des Bösen nahmen! Wie wohl tut die Verwünschung, wie wohl täte sie, wenn sie aus freiem unbedingtem Busen emporstiege! Eine Vaterlandsliebe aber, die kühnlich behaupten wollte, daß der Blutstaat,

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dessen schnaubende Agonie wir nun erleben; der unermeßliche Verbrechen, lutherisch zu reden, >auf seinen Hals nahm<; bei dessen brüllender Ausrufung, bei dessen das Menschenrecht durchstreichenden Verkündigungen ein Taumel von Überglück die Menge hinriß, und unter dessen grellen Bannern unsere Jugend mit blitzenden Augen, in hellem Stolz und im Glauben fest, marschierte, — daß er etwas unserer Volksnatur durchaus Fremdes, Aufgezwungenes und in ihr Wurzelloses gewesen wäre, — eine solche Vaterlandsliebe schiene mir hochherziger, als sie mich gewissenhaft dünkte. War diese Herrschaft nicht nach Worten und Taten nur die verzerrte, verpöbelte, verscheußlichte Wahrwerdung einer Gesinnung und Weltbeurteilung, der man charakterliche Echtheit zuerkennen muß, und die der christlich-humane Mensch nicht ohne Scheu in den Zügen unserer Großen, der an Figur gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums ausgeprägt findet? Ich frage — und frage ich zuviel? Ach, es ist wohl mehr als eine Frage, daß dieses geschlagene Volk jetzt eben darum irren Blicks vor dem Nichts steht, weil sein letzter und äußerster Versuch, die selbsteigene politische Form zu finden, in so gräßlichem Mißlingen untergeht.

*

Wie eigentümlich doch schließen sich nun die Zeiten — schließt sich diejenige, in der ich schreibe, mit der zusammen, die den Raum dieser Biographie bildet! Denn die letzten Jahre des geistigen Lebens meines Helden, diese beiden Jahre 1929 und 30, nach dem Scheitern seines Ehe-Planes, dem Verlust des Freundes, der Hinwegnahme des wunderbaren Kindes, das zu ihm gekommen war, sie gehörten ja schon dem Heraufsteigen und Umsichgreifen dessen an, was sich dann des Landes bemächtigte und nun in Blut und Flammen untergeht.
Es waren für Adrian Leverkühn Jahre einer ungeheueren und hocherregten, man ist versucht, zu sagen: monströsen, den teilnehmenden Anwohner selbst in einer Art von Taumel dahinreißenden schöpferischen Aktivität, und unmöglich konnte

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man sich des Eindruckes erwehren, als bedeute sie Sold und Ausgleich für den Entzug an Lebensglück und Liebeserlaubnis, dem er unterworfen gewesen war. Ich spreche von Jahren, aber mit Unrecht: nur ein Teil davon genügte, nur die zweite Hälfte des einen und einige Monate des anderen, um das Werk, sein letztes und etwas geschichtlich Letztes und Äußerstes in der Tat, zu zeitigen: die Symphonische Kantate >Dr. Fausti Weheklag<, deren Plan, wie ich schon verriet, vor den Aufenthalt Nepomuk Schneideweins in Pfeiffering zurückgeht, und der ich nun mein armes Wort zuwenden will.
Ich darf zuvor nicht unterlassen, auf die persönliche Kondition ihres Schöpfers, eines damals Vierundvierzigjährigen, auf seine Erscheinung und Lebensweise, wie sie sich meiner immer gespannten Beobachtung darstellten, ein Licht zu werfen. Was mir dabei zuerst in die Feder kommt, ist die Tatsache, auf die ich in diesen Blättern schon frühzeitig vorbereitete, daß sein Gesicht, welches, solange er es glatt rasierte, die Ähnlichkeit mit dem seiner Mutter so offen zur Schau getragen hatte, seit kurzem durch einen dunklen, mit Grau vermischten Bartwuchs verändert war, eine Art von Knebelbart, in den ein schmales Oberlippenbärtchen hinabhing, und der, wenn er auch die Wangen nicht frei ließ, doch weit dichter am Kinn, hier aber wieder stärker zu Seiten desselben als in der Mitte, also nicht etwa ein Spitzbart war. Die Verfremdung, die diese partielle Bedeckung der Züge bewirkte, nahm man in den Kauf, weil der Bart es war, der, wohl zusammen mit einer wachsenden Neigung, den Kopf zur Schulter geneigt zu tragen, dem Antlitz etwas Vergeistigt-Leidendes, ja Christushaftes verlieh. Diesen Ausdruck zu lieben, konnte ich nicht umhin und glaubte mir die Sympathie damit desto eher gewähren zu dürfen, da er ja offenbar nicht auf Schwäche deutete, sondern mit extremer Tatkraft und einem Wohlbefinden einherging, deren Unanfechtbarkeit der Freund mir nicht genug zu rühmen wußte. Er tat es in der etwas verlangsamten, zuweilen zögernden, zuweilen leicht monotonen Sprechweise, die ich neuerdings an ihm feststellte, und die ich gern als Zeichen produktiver

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Besonnenheit, der Selbstbeherrschung inmitten eines hinreißenden Trubels von Eingebungen auslegte. Die körperlichen Schikanen, deren Opfer er so lange gewesen, diese Magenkatarrhe, Affektionen des Halses und qualvollen Migräneattacken, waren von ihm abgefallen, der Tag, die Arbeitsfreiheit waren ihm gewiß, er selbst erklärte seine Gesundheit für vollkommen, für triumphal, und die visionäre Energie, mit der er sich täglich wieder zum Werke erhob, war ihm auf eine Weise, die mich mit Stolz erfüllte und mich auch wieder vor Rückschlägen bangen ließ, an den Augen abzulesen, — Augen, die früher meist vom oberen Lide halb verhängt gewesen waren, deren Lidspalte sich nun aber weiter, fast übertrieben weit geöffnet hatte, so daß man über der Regenbogenhaut einen Streifen der weißen Augenhaut sah. Dies konnte etwas Drohendes haben, um so eher, als in dem so erweiterten Blick eine Art von Starrheit, oder soll ich sagen: von Stillstand, zu bemerken war, an dessen Wesen ich lange herumriet, bis ich darauf kam, daß er auf dem Verharren der nicht völlig runden, etwas unregelmäßig in die Länge gezogenen Pupillen in immer derselben Größe beruhte, so, als seien sie unbeeinflußbar durch irgendwelchen Wechsel der Beleuchtung.
Ich spreche da von einer gewissermaßen geheimen und inneren Unbeweglichkeit, zu deren Wahrnehmung man ein sehr sorgsamer Beobachter sein mußte. Eine andere, viel auffallendere und äußerlichere Erscheinung stand zu ihr in Widerspruch, — auch der lieben Jeannette Scheurl war sie aufgefallen, und nach einem Besuch bei Adrian wies sie mich, unnötigerweise, darauf hin. Es war dies die kürzlich angenommene Gewohnheit, in gewissen Augenblicken, beim Nachdenken etwa, die Augäpfel rasch hin und her — und zwar ziemlich weit nach beiden Seiten — zu bewegen, also, wie man sagt, die Augen zu ,>rollen<, wovon man sich denken konnte, daß es manche Leute erschrecken würde. Darum, wenn auch ich es leicht hatte — und mir ist, als hätte ich es leicht gehabt, solche meinetwegen exzentrischen Merkmale auf das Werk zu schieben, unter dessen ungeheurer Spannung er stand —, so war es mir insgeheim

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doch eine Erleichterung, daß außer mir kaum jemand ihn sah, — eben weil ich fürchtete, er könnte die Leute erschrecken. Wirklich schied nun jeder gesellschaftliche Besuch in der Stadt für ihn aus. Einladungen wurden durch seine getreue Wirtin telephonisch abgelehnt, oder sie blieben auch unbeantwortet. Selbst flüchtige Zweckfahrten nach München, zu Einkäufen, fielen dahin, und man konnte diejenigen, die er zur Besorgung von Spielzeug für das verstorbene Kind unternommen, die letzten nennen. Garderobestücke, die ihm früher gedient hatten, wenn er unter Menschen ging, an Abendpartien und öffentlichen Veranstaltungen teilnahm, hingen jetzt unbenutzt im Schrank, und seine Kleidung war die häuslich einfachste, — keineswegs der Schlafrock, den er nie, auch am Morgen nicht, gemocht hatte, außer, wenn er bei Nacht das Bett verließ und eine Stunde oder zwei im Stuhl verbrachte. Aber eine lose, flausartige Joppe, hoch geschlossen, so daß es keiner Krawatte dazu bedurfte, getragen zu irgendwelcher ebenfalls weiten, ungebügelten, klein gewürfelten Hose, war um diese Zeit sein ständiger Anzug, in dem er auch die gewohnten und unentbehrlichen lungenweitenden Spaziergänge machte. Man hätte selbst von einer Vernachlässigung seines Äußeren reden können, wenn ein solcher Eindruck nicht durch die natürliche, aus dem Geistigen stammende Distinktion seiner Erscheinung hintangehalten worden wäre.
Für wen auch hätte er sich Zwang auferlegen sollen? Er sah Jeannette Scheurl, mit der er gewisse, von ihr beigebrachte Musiken des siebzehnten Jahrhunderts durchging (ich denke an eine Chaconne von Jacopo Melani, die eine Tristan-Stelle wörtlich vorwegnimmt), er sah von Zeit zu Zeit Rüdiger Schildknapp, den Gleichäugigen, mit dem er lachte, wobei ich mich nicht der wehmütig öden Betrachtung enthalten konnte, daß nun die gleichen Augen allein übriggeblieben, die schwarzen und blauen aber entschwunden waren . . . Er sah endlich mich, wenn ich zum Wochenende mich bei ihm einfand, — und das war alles. Zudem waren es nur kurze Stunden, in denen er Gesellschaft überhaupt brauchen konnte, denn ohne den Sonntag

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auszulassen (er hatte ihn nie >geheiligt<), arbeitete er acht Stunden am Tage, und da in diese noch eine nachmittägliche Ruhezeit im Dunkeln eingeschaltet war, so blieb ich bei meinen Besuchen in Pfeiffering viel mir selbst überlassen. Als ob ich's bereut hätte! Ich war ihm nahe und nahe der Entstehung des in Schmerzen und Schauern geliebten Werkes, das nun durch anderthalb Jahrzehnte als ein toter, verpönter und verheimlichter Hochwert dagelegen hat, und dessen Aufleben durch die vernichtende Befreiung, die wir erdulden, herbeigeführt werden mag. Es gab Jahre, in denen wir Kinder des Kerkers uns ein Jubellied, den >Fidelio<, die >Neunte Symphonien als Morgenfeier der Befreiung Deutschlands — seiner Selbstbefreiung—erträumten. Nun kann nur dieses uns frommen, und dieses nur wird uns aus der Seele gesungen sein: die Klage des Höllensohns, die furchtbarste Menschen- und Gottesklage, die, ausgehend vom Subjekt, aber stets weiter sich ausbreitend und gleichsam den Kosmos ergreifend, auf Erden je angestimmt worden ist.
Klage, Klage! Ein De profundis, das mein liebender Eifer ohne Beispiel nennt. Aber hat es nicht dennoch? unter dem schöpferischen Gesichtspunkt, unter dem musikgeschichtlichen wie unter dem persönlicher Vollendung gesehen, eine jubilante, eine höchst sieghafte Bewandtnis mit dieser schaudervollen Gabe des Entgelts und der Schadloshaltung? Bedeutet es nicht den >Durchbruch<, von dem zwischen uns, wenn wir das Schicksal der Kunst, Stand und Stunde derselben, besannen und erörterten, so oft als von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede gewesen war, — die Wiedergewinnung, ich möchte nicht sagen und sage es um der Genauigkeit willen doch: die Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls auf einer Stufe der Gei•.stigkeit und der Formenstrenge, die erreicht werden mußte, damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könne?
Ich kleide in Fragen, was nichts weiter ist als die Beschreibung eines

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Tatbestandes, der seine Erklärung im Gegenständlichen sowohl wie im Künstlerisch-Formalen findet. Die Klage nämlich — und um eine immerwährende, unerschöpflich akzentuierte Klage von schmerzhaftester Ecce-homo-Gebärde handelt es sich ja —, die Klage ist der Ausdruck selbst, man kann kühnlich sagen, daß aller Ausdruck eigentlich Klage ist, wie denn die Musik, sobald sie sich als Ausdruck begreift, am Beginn ihrer modernen Geschichte, zur Klage wird und zum >Lasciatemi morire<, zur Klage der Ariadne, zum leis widerhallenden Klagesang von Nymphen. Nicht umsonst knüpft die Faustus-Kantate stilistisch so stark und unverkennbar an Monteverdi und das siebzehnte Jahrhundert an, dessen Musik — wiederum nicht umsonst — die Echo-Wirkung, zuweilen bis zur Manier, bevorzugte: Das Echo, das Zurückgeben des Menschenlautes als Naturlaut und seine Enthüllung als Naturlaut, ist wesentlich Klage, das wehmutsvolle »Ach, ja!« der Natur über den Menschen und die versuchende Kundgebung, seiner Einsamkeit, — wie umgekehrt die Nymphen-Klage ihrerseits dem Echo verwandt ist. In Leverkühns letzter und höchster Schöpfung aber ist dieses Lieblingsdessin des Barock, das Echo, oftmals mit unsäglich schwermütiger Wirkung verwendet.
Ein Monstre-Werk der Klage wie dieses ist, sage ich, mit Notwendigkeit ein expressives Werk, ein Werk des Ausdrucks, und es ist damit ein Werk der Befreiung so gut, wie die frühe Musik, an die es sich über Jahrhunderte hin anschließt, Befreiung zum Ausdruck sein wollte. Nur daß der dialektische Prozeß, durch welchen auf der Entwicklungsstufe, die dieses Werk einnimmt, der Umschlag von strengster Gebundenheit zur freien Sprache des Affekts, die Geburt der Freiheit aus der Gebundenheit, sich vollzieht, unendlich komplizierter, unendlich bestürzender und wunderbarer in seiner Logik erscheint als zur Zeit der Madrigalisten. Ich will hier den Leser zurückverweisen auf das Gespräch, das ich eines schon fernen Tages, am Hochzeitstage seiner Schwester zu Buchel, auf einem Spaziergang die Kuhmulde entlang, mit Adrian hatte, und wobei er mir, unter dem Druck von Kopfschmerzen, seine Idee

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eines >strengen Satzes< entwickelte, abgeleitet aus der Art, wie in dem Liede >O lieb Mädel, wie schlecht bist du< Melodie und Harmonie von der Abwandlung eines fünftönigen Grundmotivs, des Buchstabensymbols h e a e es, bestimmt sind. Er ließ mich das >magische Quadrat< eines Stils oder einer Technik erblicken, die noch die äußerste Mannigfaltigkeit aus identisch festgehaltenen Materialien entwickelt, und in der es nichts Unthematisches mehr gibt, nichts, was sich nicht als Variation eines immer Gleichen ausweisen könnte. Dieser Stil, diese Technik, so hieß es, ließen keinen Ton zu, nicht einen, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte, — es gäbe keine freie Note mehr.
Nun, habe ich nicht, als ich von Leverkühns apokalyptischem Oratorium ein Bild zu geben suchte, auf die substantielle Identität des Seligsten mit dem Gräßlichsten, die innere Einerleiheit des Engelskinder-Chors mit dem Höllengelächter hingewiesen? Da ist, zum mystischen Schrecken des Bemerkenden, eine formale Utopie von schauerlicher Sinnigkeit verwirklicht, die in der Faust-Kantate universell wird, das Gesamtwerk ergreift und es, wenn ich so sagen darf, vom Thematischen restlos verzehrt sein läßt. Dies riesenhafte >Lamento< (seine Dauer beträgt circa fünf Viertelstunden) ist recht eigentlich undynamisch, entwicklungslos, ohne Drama, so, wie konzentrische Kreise, die sich vermöge eines ins Wasser geworfenen Steins, einer um den anderen, ins Weite bilden, ohne Drama und immer das gleiche sind. Ein ungeheueres Variationenwerk der Klage — negativ verwandt als solches dem Finale der >Neunten Symphonie< mit seinen Variationen des Jubels — breitet es sich in Ringen aus, von denen jeder den anderen unaufhaltsam nach sich zieht: Sätzen, Großvariationen, die den Texteinheiten oder Kapiteln des Buches entsprechen und in sich selbst wieder nichts anderes als Variationenfolgen sind. Alle aber gehen, als auf das Thema, auf eine höchst bildsame Grundfigur von Tönen zurück, die durch eine bestimmte Stelle des Textes gegeben ist.

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Man erinnert sich ja, daß in dem alten Volksbuch, das Leben und Sterben des Erzmagiers erzählt, und dessen Abschnitte Leverkühn sich mit wenigen entschlossenen Griffen zur Unterlage seiner Sätze zurechtgefügt hat, der Dr. Faustus, als sein Stundenglas ausläuft, seine Freunde und vertrauten Gesellen, »Magistros, Baccalaureos und andere Studenten«, nach dem Dorfe Rimlich nahe Wittenberg lädt, sie dort den Tag über freigebig bewirtet, zur Nacht auch noch einen »Johannstrunk« mit ihnen einnimmt und ihnen dann in einer zerknirschten, aber würdigen Rede sein Schicksal, und daß dessen Erfüllung nun unmittelbar bevorsteht, kund und zu wissen tut. In dieser >Oratio Fausti ad Studiosos< bittet er sie, seinen Leib, wenn sie ihn tot und erwürgt finden, barmherzig zur Erde zu bestatten; denn er sterbe, sagt er, als ein böser und guter Christ: ein guter kraft seiner Reue, und weil er im Herzen immer auf Gnade für seine Seele hoffe, ein böser, sofern er wisse, daß es nun ein gräßlich End mit ihm nehme und der Teufel den Leib haben wolle und müsse. — Diese Worte: »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ«, bilden das Generalthema des Variationenwerks. Zählt man seine Silben nach, so sind es zwölf, und alle zwölf Töne der chromatischen Skala sind ihm gegeben, sämtliche denkbaren Intervalle darin verwandt. Längst ist es musikalisch vorhanden und wirksam, bevor es an seinem Orte von einer Chorgruppe, die das Solo vertritt — es gibt kein Solo im >Faustus< —, textlich vorgetragen wird, ansteigend bis zur Mitte, dann absinkend im Geist und Tonfall des Monteverdischen Lamento. Es liegt zum Grunde allem, was da klingt, — besser: es liegt, als Tonart fast, hinter allem und schafft die Identität des Vielförmigsten, — jene Identität, die zwischen dem kristallenen Engelschor und dem Höllengejohle der >Apokalypse< waltet, und die nun allumfassend geworden ist: zu einer Formveranstaltung von letzter Rigorosität, die nichts Unthematisches mehr kennt, in der die Ordnung des Materials total wird, und innerhalb derer die Idee einer Fuge etwa der Sinnlosigkeit verfällt, eben weil es keine freie Note mehr gibt. Sie dient jedoch nun einem höheren Zweck, denn, o Wunder und tiefer Dämonenwitz! — vermöge der Restlosigkeit der Form

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eben wird die Musik als Sprache befreit. In einem gewissen, gröberen und tonmateriellen Sinn ist die Arbeit ja abgetan, ehe die Komposition nur anhebt, und diese kann sich nun völlig ungebunden ergehen, das heißt: sich dem Ausdruck überlassen, als welcher jenseits des Konstruktiven, oder innerhalb ihrer vollkommensten Strenge, wiedergewonnen ist. Der Schöpfer von Fausti Wehklage kann sich, in dem vororganisierten Material, hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität überlassen, und so ist dieses sein strengstes Werk, ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv. Das Zurückgehen auf Monteverdi und den Stil seiner Zeit ist eben das, was ich die >Rekonstruktion des Ausdrucks< nannte, — des Ausdrucks in seiner Erst- und Urerscheinung, des Ausdrucks als Klage.
Aufgeboten werden nun alle Ausdrucksmittel jener emanzipatorischen Epoche, von denen ich die Echo-Wirkung schon nannte, — besonders gemäß einem durchaus variativen, gewissermaßen stehenden Werk, in welchem jede Umformung selbst schon das Echo der vorhergehenden ist. Es fehlt nicht an widerhallartigen Fortsetzungen, der weiterführenden Wiederholung der Schlußphrase eines hingestellten Themas in höherer Lage. Orpheische Klage-Akzente sind leise erinnert, die Faust und Orpheus zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs: in jener Episode, wo Faust Helena heraufruft, die ihm einen Sohn gebären wird. Hundert Anspielungen auf Ton und Geist des Madrigals geschehen, und ein ganzer Satz, der Zuspruch der Freunde beim Mahle der letzten Nacht, ist in korrekter Madrigalform geschrieben.
Aufgeboten aber, im Sinne des Resumes geradezu, werden die erdenklichsten ausdruckstragenden Momente der Musik überhaupt: nicht als mechanische Nachahmung und als ein Zurückgehen, versteht sich, sondern es ist wie ein allerdings bewußtes Verfügen über sämtliche Ausdruckscharaktere, die sich in der Geschichte der Musik je und je niedergeschlagen, und die hter in einer Art von alchimistischem Destillationsprozeß zu Grundtypen der Gefühlsbedeutung geläutert und auskristalli-

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siert werden. Man hat da den tief aufholenden Seufzer bei solchen Worten, wie: »Ach, Fauste, du verwegenes und nichtwerdes Herz, ach, ach, Vernunft, Mutwill, Vermessenheit und freier Will...«, die vielfache Bildung von Vorhalten, wenn auch nur als rhythmisches Mittel noch, die melodische Chromatik, das bange Gesamtschweigen vor einem Phrasenanfang, Wiederholungen wie in jenem >Lasciatemi<, die Dehnung von Silben, fallende Intervalle, absinkende Deklamation — unter ungeheueren Kontrastwirkungen wie dem tragischen Chor-Einsatz, a cappella und in höchster Kraft, nach der orchestral, als große Ballettmusik und Galopp von phantastischer rhythmischer Vielfalt gegebenen Höllenfahrt Fausti, — einem überwältigenden Klage-Ausbruch nach einer Orgie infernalischer Lustigkeit.
Diese wilde Idee des Niedergeholtwerdens als Tanz-Furioso erinnert noch am meisten an den Geist der >Apocalipsis cum figuris<, — daneben etwa noch das gräßliche, ich stehe nicht an zu sagen: zynische chorische Scherzo, worin »der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen, spöttischen Scherzreden und Sprichwörtern zusetzt«, — mit diesem fürchterlichen »Drumb schweig, leid, meyd und vertrag, dein Unglück keinem Menschen klag, es ist zu spat, an Gott verzag, dein Unglück läuft herein all Tag.« Im übrigen aber hat Leverkühns Spätwerk wenig gemein mit dem seiner dreißig Jahre. Es ist stilreiner als dieses, dunkler im Ton als Ganzes und ohne Parodie, nicht konservativer in seiner Rückwärtsgewandtheit, aber milder, melodischer, mehr Kontrapunkt als Polyphonie, — womit ich sagen will, daß die Nebenstimmen in ihrer Selbständigkeit mehr Rücksicht nehmen auf die Hauptstimme, die oft in langen melodischen Bögen verläuft, und deren Kern, aus dem alles entwickelt ist, eben das zwölftönige »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ« bildet. Längst vorhergesagt ist in diesen Blättern, daß im >Faustus< auch jenes Buchstabensymbol, die von mir zuerst wahrgenommene Hetaera-EsmeraldaFigur, das h e a e es, sehr oft Melodik und Harmonik beherrscht: überall da nämlich, wo von der Verschreibung und Versprechung, dem Blut-Rezeß, nur immer die Rede ist.

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Vor allem unterscheidet die Faust-Kantate sich von der>Apokalypse< durch ihre großen Orchester-Zwischenspiele, die zuweilen nur allgemein die Haltung des Werkes zu seinem Gegenstande, hindeutend, wie ein »So ist es« aussprechen, zuweilen aber, wie die schauerliche Ballettmusik der Höllenfahrt, auch für Teile der Handlung stehen. Die Instrumentation dieses Schreckenstanzes besteht nur aus Bläsern und einem beharrenden Begleitsystem, das, zusammengesetzt aus zwei Harfen, Cembalo, Klavier, Celesta, Glockenspiel und Schlagzeug, als eine Art von >Continuo< immer wieder auftretend das Werk durchzieht. Einzelne Chorstücke sind nur davon begleitet. Bei anderen sind ihm Bläser, bei wieder anderen Streicher hinzugefügt; abermals andere haben volle Orchester-Begleitung. Rein orchestral ist der Schluß: ein symphonischer Adagiosatz, in welchen der nach dem Höllengalopp mächtig einsetzende Klage-Chor allmählich übergeht, — es ist gleichsam der umgekehrte Weg des >Liedes an die Freude<, das kongeniale Negativ jenes Überganges der Symphonie in den Vokal-Jubel, es ist die Zurücknahme .. .
Mein armer, großer Freund! Wie oft habe ich, in dem Werk seines Nachlasses, seines Unterganges lesend, das soviel Untergang seherisch vorwegnimmt, der schmerzhaften Worte gedacht, die er beim Tode des Kindes zu mir sprach: des Wortes, es solle nicht sein, das Gute, die Freude, die Hoffnung, das solle nicht sein, es werde zurückgenommen, man müsse es zurücknehmen! Wie steht dieses »Ach, es soll nicht sein«, fast einer musikalischen Weisung und Vorschrift gleich, über den Chor- und Instrumentalsätzen von >Dr. Fausti Weheklag<, wie ist es in jedem Takt und Tonfall dieses >Liedes an die Trauer< beschlossen! Kein Zweifel, mit dem Blick auf Beethovens >Neunte<, als ihr Gegenstück in des Wortes schwermütigster Bedeutung, ist es geschrieben. Aber nicht nur, daß es diese mehr als einmal formal zum Negativen wendet, ins Negative zurücknimmt: es ist darin auch eine Negativität des Religiösen, — womit ich nicht meinen kann: dessen Verneinung. Ein Werk, welches vom Versucher, vom Abfall, von der Verdammnis

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handelt, was sollte es anderes sein als ein religiöses Werk! Was ich meine, ist eine Umkehrung, eine herbe und stolze Sinnverkehrung, wie wenigstens ich sie zum Beispiel in der »freundlichen Bitt« des Dr. Faustus an die Gesellen der letzten Stunde finde, sie möchten sich zu Bette begeben, mit Ruhe schlafen und sich nichts anfechten lassen. Schwerlich wird man umhinkönnen, im Rahmen der Kantate, diese Weisung als den bewußten und gewollten Revers zu dem »Wachet mit mir!« von Gethsemane zu erkennen. Und wiederum: Der »Johannstrunk« des Scheidenden mit den Freunden hat durchaus rituelles Gepräge, als ein anderes Abendmahl ist er gegeben. Damit aber verbindet sich eine Umkehrung der Versuchungsidee, dergestalt, daß Faust den Gedanken der Rettung als Versuchung zurückweist, — nicht nur aus formeller Treue zum Pakt und weil es »zu spät« ist, sondern weil er die Positivität der Welt, zu der man ihn retten möchte, die Lüge ihrer Gottseligkeit, von ganzer Seele verachtet. Dies wird noch viel deutlicher und ist viel stärker noch herausgearbeitet in der Szene mit dem guten alten Arzt und Nachbawr, der Fausten zu sich lädt, um einen fromm bemühten Bekehrungsversuch an ihm zu machen, und der in der Kantate mit klarer Absicht als eine Verführerfigur gezeichnet ist. Unverkennbar ist die Versuchung Jesu durch Satan erinnert, unverkennbar das Apage zum stolz verzweifelten Nein! gegen falsche und matte Gottesbürgerlichkeit gewendet.
Aber einer anderen und letzten, wahrhaft letzten Sinnesverkehrung will gedacht, und recht von Herzen gedacht sein, die am Schluß dieses Werkes unendlicher Klage leise, der Vernunft überlegen und mit der sprechenden Unausgesprochenheit, welche nur der Musik gegeben ist, das Gefühl berührt. Ich meine den orchestralen Schlußsatz der Kantate, in den der Chor sich verliert, und der wie die Klage Gottes über das Verlorengehen seiner Welt, wie ein kummervolles »Ich habe es nicht gewollt« des Schöpfers lautet. Hier, finde ich, gegen das Ende, sind die äußersten Akzente der Trauer erreicht, ist die letzte Verzweiflung Ausdruck geworden, und — ich will's nicht sagen, es

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hieße die Zugeständnislosigkeit des Werkes, seinen unheilbaren Schmerz verletzen, wenn man sagen wollte, es biete bis zu seiner letzten Note irgendeinen anderen Trost als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, — also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. Nein, dies dunkle Tongedicht läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck — der Ausdruck als Klage — gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, — nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, — Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.


XLVII

»Wachet mit mir!« Adrian mochte im Werke wohl das Wort gottmenschlicher Not ins Einsam-Männlichere und Stolze, in das »Schlafet ruhig und laßt euch nichts anfechten!« seines Fausrus wenden, — es bleibt das Menschliche doch, das triebhafte Verlangen, wenn nicht nach Beistand, so doch nach mitmenschlichem Beisein, die Bitte: »Verlaßt mich nicht! Seid um mich zu meiner Stunde!«
Darum, als das Jahr 1930 fast auf seine Hälfte gekommen war, im Monat Mai, lädt Leverkühn auf verschiedenen Wegen

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eine Gesellschaft zu sich nach Pfeiffering, all seine Freunde und Bekannten, auch sogar solche, mit denen er wenig oder gar nicht bekannt, eine Menge Leute, an die dreißig: teils durch geschriebene Karten, teils durch mich, wobei wieder einzelne Geladene ersucht wurden, die Aufforderung an andere weiterzugeben, wieder andere aber aus sachlicher Neugier sich selbst einluden, das heißt durch mich oder sonst ein Mitglied des engeren Kreises um Zulassung baten. Denn es hatte ja Adrian auf seinen Karten wissen lassen, er wünsche, einer günstigen Freundesversammlung von seinem neuen, eben vollendeten chorisch-symphonischen Werk ein Bild zu geben durch den Klaviervortrag einiger charakteristischer Partien daraus; und dafür interessierten sich auch manche Personen, die er nicht zu laden beabsichtigt hatte, wie zum Beispiel die Heroine Tanja Orlanda und der Tenor Herr Kjoejelund, die sich durch Schlaginhaufens einführen ließen, und etwa der Verleger Radbruch nebst seiner Frau, die sich hinter Schildknapp gesteckt hatten. Handschriftlich eingeladen hatte er übrigens auch Baptist Spengler, obgleich dieser, wie Adrian eigentlich hätte wissen müssen, schon seit anderthalb Monaten nicht mehr unter den Lebenden weilte. Der geistreiche Mann war, erst Mitte der Vierziger, bedauerlicherweise seinem Herzleiden erlegen.
Mir, ich bekenne es, war bei der ganzen Veranstaltung nicht wohl zumute. Warum, ist schwer zu sagen. Dieses Heranziehen einer großen Anzahl ihm größtenteils innerlich wie äußerlich sehr fernstehender Menschen an den Ort seiner Zurückgezogenheit, zu dem Behuf, sie in sein einsamstes Werk einzuweihen, paßte im Grunde zu Adrian nicht; es mißbehagte mir nicht sowohl an und für sich, als weil es mir als eine ihm fremde Handlungsweise erschien, — und an und für sich widerstand es mir auch. Aus welchem Grunde nun immer — und ich meine wohl, ich habe ihn angedeutet, den Grund —, es war mir im Herzen lieber, ihn allein zu wissen in seinem Refugium — gesehen nur von seinen menschlich gesinnten, ihm respektvoll anhänglichen Wirtsleuten und von uns wenigen, Schildknapp, der lieben Jeannette, den verehrenden Frauen Rosenstiel und

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Nackedey und mir selbst —, als daß nun die Augen einer gemischten, an ihn nicht gewöhnten Menge auf den seinerseits Weltentwöhnten gerichtet sein sollten. Aber was blieb mir denn übrig, als mit Hand anzulegen an das Unternehmen, das er selbst schon weitgehend eingeleitet hatte, seiner Weisung zu folgen und meine Telephonate zu tätigen? Es gab keine Absagen, im Gegenteil, wie ich sagte: nur zusätzliche Gesuche um Beteiligungserlaubnis kamen vor.
Nicht nur, daß ich die Veranstaltung nicht gerne sah: ich will in meinem Geständnis weitergehen und niederlegen, daß ich sogar versucht war, mich persönlich davon fernzuhalten. Dem stand jedoch ein sorgenvolles Pflichtgefühl entgegen, des Sinnes, ich müsse, gern oder nicht, unbedingt dabeisein und alles überwachen. Und so begab ich mich denn an jenem Samstagnachmittag mit Helenen nach München, wo wir den Waldshut-Garmischer Personenzug nahmen. Wir teilten das Coupe mit Schildknapp, Jeannette Scheurl und Kunigunde Rosenstiel. Über andere Wagen hin war die übrige Gesellschaft verteilt, ausgenommen nur das Ehepaar Schlaginhaufen, der schwäbelnde alte Rentner und die geborene von Plausig, die zusammen mit ihren Sänger freunden die Fahrt in ihrem Auto machten. Dieses, schon vor uns eingetroffen, leistete bei der Ankunft in Pfeiffering gute Dienste, indem es zwischen der kleinen Station und Hof Schweigestill mehrmals hin- und herfuhr und die Gäste, die es nicht etwa vorzogen, zu Fuße zu gehen (das Wetter hielt sich, obgleich ein Gewitter leise grollend am Horizonte stand), gruppenweise dorthin brachte. Denn für Beförderung vom Bahnhof zum Hause war nicht gesorgt, — Frau Schweigestill, die Helene und ich in der Küche aufsuchten, wo sie mit Hilfe Clementine's in aller Eile einen Imbiß für so viele, Kaffee, in Streifen geschnittene Butterbrote und kühlen Apfelsaft, vorbereitete, erklärte uns in nicht geringer Bestürzung, daß Adrian sie auf die Invasion mit keinem Wort vorbereitet habe.
Unterdessen wollte das wütende Gebell des alten Suso oder Kaschperl draußen, der kettenklirrend vor seiner Hütte her-

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umsprang, kein Ende nehmen und beruhigte sich erst, als keine neuen Gäste mehr anlangten und alles sich im Nike-Saal versammelt hatte, dessen Sitzgelegenheiten Magd und Knecht durch Stühle vermehrten, die sie aus dem Familienwohnzimmer und sogar aus oberen Schlafzimmern hereinschleppten. Außer den schon genannten Personen erwähne ich von den Anwesenden aufs Geratewohl und nach dem Gedächtnis: den vermögenden Bullinger, den Maler Leo Zink, den weder Adrian noch ich eigentlich mochten, und den jener wohl mit dem verstorbenen Spengler zusammen eingeladen hatte, Helmut Institoris, nun eine Art von Witwer, den klar artikulierenden Dr. Kranich, Frau Binder-Majoresku, die Knöterichs, den hohlwangig scherzenden Portraitisten Nottebohm nebst Frau, die Institoris mitgebracht hatte. Hinzu kamen Sixtus Kridwiß und der Kreis seines Diskussionstisches, nämlich der Erdschichtenforscher Dr. Unruhe, die Professoren Vogler und Holzschuher, der Dichter Daniel Zur Höhe in schwarz geschlossenem Rock und zu meinem Ärger sogar der rabulistische Chaim Breisacher. Das fachlich musikalische Element war neben den Opernsängern durch Ferdinand Edschmidt, den Dirigenten des Zapfenstößer-Orchesters, vertreten. Wer sich, zu meiner völligen Überraschung, und wohl nicht nur zu meiner, ebenfalls eingefunden hatte, war Baron Gleichen-Rußwurm, der sich, soviel mir bekannt, seit der Geschichte mit der Maus zum allerersten Mal wieder mit seiner fülligen, aber eleganten Gemahlin, einer Österreicherin, gesellschaftlich blicken ließ. Es stellte sich heraus, daß Adrian ihm schon acht Tage im voraus eine Einladung auf sein Schloß gesandt hatte, und wahrscheinlich war der so sonderbar kompromittierte Schiller-Enkel der eigenartigen Gelegenheit zu sozialer Wiederanknüpfung recht froh gewesen.
Alle diese Leute nun, rund dreißig, wie ich sagte, stehen vorderhand in dem Bauernsaal erwartungsvoll umher, machen sich untereinander bekannt, tauschen Äußerungen der Neugier. Ich sehe Rüdiger Schildknapp in seinem ewigen mitgenommenen Sportkostüm, von Frauen umgeben, deren ja eine ganze Anzahl vorhanden war. Ich höre die wohllautend überherr-

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sehenden Stimmen der dramatischen Sänger, das asthmatischverstandesklare Sprechen Dr. Kranichs, das Schwadronieren Bullingers, die Versicherung Kridwißens, daß diese Zusammenkunft, und was sie verspreche, »scho' enorm wischtisch« sei und die Zustimmung Zur Höhe's, der, mit dem Fußballen aufschlagend, sein fanatisches »Jawohl, jawohl, man kann es sagen!« daranfügt. Die Baronin Gleichen ging umher, Sympathie nachsuchend für das abstruse Mißgeschick, von dem ihr Gatte und sie betroffen worden. »Sie wissen doch, wir haben ja dieses ennui gehabt«, sagte sie da und dort. — Von Anfang an machte ich die Beobachtung, daß viele gar nicht bemerkten, daß Adrian längst im Zimmer war, und so sprachen, als ob sie ihn noch erwarteten, einfach weil sie ihn nicht erkannten. Er saß, mit dem Rücken gegen die Fenster, gekleidet wie immer jetzt, mitten im Saal an dem schweren ovalen Tisch, an dem wir einst mit jenem Saul Fiteiberg gesessen. Aber mehrere der Gäste fragten mich, wer der Herr dort sei, und ließen auf mein anfangs verwundertes Bedeuten ein »Ja, so!« plötzlicher Erhellung vernehmen, worauf sie sich sputeten, den Gastgeber zu begrüßen. Wie sehr mußte er sich unter meinen Augen verändert haben, daß dies geschehen konnte! Viel machte gewiß der Knebelbart aus, und das sagte ich denen auch, denen es nicht hatte beikommen wollen, daß er es sei. Neben seinem Stuhl stand längere Zeit aufrecht, wie eine Schildwache, die wollige Rosenstiel, und das war der Grund, weshalb Meta Nackedey sich so fern wie möglich in einem Winkel des Zimmers verborgen hielt. Kunigunde hatte jedoch die Loyalität, nach einer Weile ihren Standort zu räumen, worauf sofort die andere verehrende Seele ihn einnahm. Auf dem Pult des geöffneten Tafelklaviers an der Wand lag aufgeschlagen die Partitur von >Dr. Fausti Weheklag<.
Da ich den Freund im Auge behielt auch während der Konversation mit einem und dem anderen der Gäste, verfehlte ich nicht, den Wink aufzufassen, den er mir mit Kopf und Brauen erteilte, und der besagte, ich solle die Versammelten zum Einnehmen ihrer Plätze anhalten. Ich tat es unverzüglich, indem

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ich die Nächsten in diesem Sinne ersuchte, Fernerstehenden Zeichen machte und mich sogar überwand, in die Hände zu klatschen, um Stillschweigen für die Mitteilung zu gewinnen, Dr. Leverkühn wünschte seinen Vortrag zu beginnen. Der Mensch fühlt es, wenn Blässe sein Gesicht bedeckt; eine gewisse entgeisterte Kälte seiner Züge läßt es ihn wahrnehmen, und auch die Schweißtropfen, die dann an seiner Stirn hervortreten mögen, haben ja diese Kälte. Meine Hände, die ich nur schwach, mit Zurückhaltung, zusammenschlug, zitterten, wie sie eben jetzt zittern, wo ich mich anschicke, die entsetzliche Erinnerung niederzuschreiben.
Das Publikum folgte mit ziemlicher Promptheit. Ruhe und Ordnung waren rasch hergestellt. Es war so, daß mit Adrian am Tische die alten Schlaginhaufens saßen, dazu Jeannette Scheurl, Schildknapp, meine Frau und ich. Die übrigen waren zu beiden Seiten des Zimmers in unregelmäßiger Anordnung auf verschiedenartigen Möbeln, bemalten Holzstühlen, Roßhaarfauteuils, dem Sofa verteilt, und einige Herren lehnten auch an den Wänden. Adrian machte noch keine Miene, die allgemeine Erwartung, auch meine eigene, zu erfüllen und sich zum Klavier zu begeben, um zu spielen. Er saß mit gefalteten Händen, das Haupt zur Seite geneigt, die Augen vor sich hin, nur wenig aufwärts, gerichtet, und begann bei nun vollkommener Stille, in der leicht eintönigen, auch etwas stockenden Sprechweise, die ich jetzt an ihm kannte, das Wort an die Versammelten zu richten — im Sinn einer Begrüßungsansprache, wie mir anfangs schien; und es war zu Beginn auch dergleichen. Ich überwinde mich, hinzuzufügen, daß er sich bei seiner Rede öfters versprach und —zu meiner Qual, ich grub die Nägel darob in meine Handflächen — bei dem Versuch, den lapsus zu verbessern, in einen neuen verfiel, weshalb er später dieser Fehlleistungen einfach nicht mehr achthatte und darüber hinwegging. Übrigens hätte ich mich von allerlei Regellosigkeiten in seiner Ausdrucksweise nicht so sehr sollen vergrämen lassen, denn er bediente sich beim Reden, wie er es ja auch schriftlich immer gern getan, zum Teil einer Art von älterem Deutsch,

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und dabei hatte es mit Mängeln und ungeschlossenem Satzbau immer eine fragliche und läßliche Bewandtnis, denn wie lange ist es her, daß unsere Sprache dem Barbarischen entwachsen und grammatisch wie nach der Rechtschreibung leidlich geordnet ist!
Er begann sehr leise und murmelnd, so daß die wenigsten seine Anrede verstanden, noch sich etwas daraus machten, oder sonst sie als launige Scherzfloskel nahmen, da sie ungefähr lautete wie:
»Achtbar, insonders liebe Brüder und Schwestern.«
Danach schwieg er eine Weile, wie nachdenkend, die Wange bei aufgestütztem Ellbogen gegen die Hand gelehnt. Was folgte, wurde ebenfalls als launig einleitend und zur Heiterkeit einladend aufgefaßt, und obgleich die Unbeweglichkeit seiner Züge, die Müdigkeit seines Blicks und seine Blässe dem widersprachen, ging hier noch ein entgegenkommendes Lachen, leichthin durch die Nase oder auch als Gekicher der Damen, im Saale um.
»Erstlich«, sagte er, »will ich mich gegen euch bedanken, beide der Gunst und Freundschaft, von mir unverdient, so ihr mir erweisen wollen durch euer Hereinkommen zu Fuß und Wagen, da ich euch aus der Einöde dieses Schlupfwinkels geschrieben und gerufen, auch rufen und laden lassen durch meinen herzlich getreuen Famulus und Special Freund, welches mich noch zu erinnern weiß unsers Schulgangs von Jugend auf, da wir zu Hallen miteinander studierten, doch davon, und wie Hochmut und Greuel schon anhüben bei diesem Studieren, weiter herab in meinem Sermoni.«
Hierbei blickten viele schmunzelnd nach mir, der ich doch vor Rührung nicht lächeln konnte, da es dem Teueren gar nicht gleich sah, daß er meiner mit so weicher Erinnerung gedachte. Aber gerade dies, daß sie Tränen in meinen Augen sahen, belustigte die meisten; und ich erinnere mich mit Widerwillen, daß Leo Zink seine große, von ihm viel verspottete Nase laut in sein Schnupftuch schneuzte, um meine sichtliche Bewegung zu karikieren, womit er auch wieder einiges Kichern für sich gewann. Adrian schien es nicht wahrzunehmen.

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»Muß mich«, fuhr er fort, »zuvörderst auch für euch entschuldigen« (er verbesserte sich und sagte: »entschuldigen«, wiederholte dann aber: »entschuldigen«) »und euch bitten, deß nicht Beschwerung zu tragen, daß unser Hund Prästigiar, er wird wohl Suso genannt, heißt aber in Wahrheit Prästigiar, sich so übel gehube und euch ein so hellisch Gekleff und Geplerr vor den Ohren gemacht, da ihr euch doch um meinetwillen habt solcher Mühe und Beschwer unterwunden. Wir hätten jedem von euch ein überhohes Pfeifchen, hörbar nur dem Hunde, sollen einhändigen, daß er schon von weitem verstanden hätte, es kommen nur gute gebetene Freunde, mit Begehren von mir zu hören, was ich unter seiner Wache getan, und wie ich's all die Jahre her getrieben.«
Über das Pfeifchen wurde wieder von einigen Seiten höflich etwas gelacht, wenn auch mit Befremden. Er aber ging weiter und sprach:
»Nun habe ich zu euch eine freundliche christliche Bitt, ihr wollet mein Fürtragen nicht in argem auf- und annehmen, sondern es zum besten verstehen, denn ich ein wahrhaft Verlangen habe, euch Guten und Harmlosen, wenn nicht Unsündigen, so doch nur gewöhnlich und erträglich Sündigen, die ich darum herzlich veracht, aber inbrünstig beneide, ein voll mitmenschlich Geständnis zu tun, da mir das Stundglas vor den Augen steht, daß ich gewärtig sein muß, wenn es ausläuft die letzten Körnchen durch die Enge und Er mich holen wird, gegen den ich mich mit meinem eigenen Blut so teuer verschrieben, daß ich mit Leib und Seele ewig sein gehören wollen und in sein Hände und Gewaltsam fallen, wann das Glas ausgeronnen und die Zeit, so seine Ware ist, zum Ende gelaufen.«
Hier wurde noch einmal da und dort durch die Nase gelacht, aber es gab auch einiges Zungenschnalzen am Gaumen nebst Kopfschütteln, wie über eine Taktlosigkeit, und einige begannen, finster forschend zu blicken.
»Wißt es also«, sagte der am Tische, »ihr Guten und Frommen, die ihr mit euerer mäßigen Sund in Gotes« (wieder verbesserte er sich und sagte: »Gottes«, kam aber dann auf die

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andere Form zurück) »die ihr in Gotes Gnade und Nachsicht ruhet, denn ich habe es so lange bei mir verdruckt, will's euch aber nicht länger verhalten, daß ich allbereit seit meinem einundzwanzigsten Jahr mit dem Satan verheirat bin und habe mit Wissen der Fahr, aus wohlbedachtem Mut, Stolz und Verwegenheit, weil ich in dieser Welt einen Ruhm erlangen wollen, eine Versprechung und Bündnis mit Ihm aufgerichtet, also daß alles, was ich während der Frist von vierundzwanzig Jahren vor mich gebracht, und was die Menschen mit Recht mißtrauisch betrachtet, nur mit Seiner Hilf zustandkommen, und ist Teufelswerk, eingegossen vom Engel des Giftes. Denn ich dachte wohl: Wer da kegeln will, muß aufsetzen, und muß heute einer den Teufel zu Huld nehmen, weil man zu großem Fürnehmen und Werk niemands sonsten kann brauchen und haben denn Ihn.«
Jetzt herrschte peinlich gespannte Stille im Saal. Wenige waren, die noch gemächlich zuhörten, dagegen sah man viele hochgezogene Brauen und Gesichter, in denen zu lesen war: Wo will das hinaus, und wie steht es hier? Hätte er einmal gelächelt oder geblinzelt, um seine Worte als Künstlermystifikation zu kennzeichnen, so wäre noch halbwegs alles gut gewesen. Aber er tat's nicht, sondern saß da in bleichem Ernst. Einige blickten fragend nach mir, wie denn das nun gemeint sei, und wie ich's verantworten wollte; und vielleicht hätte ich einschreiten und die Versammlung auflösen sollen — aber mit welcher Begründung? Es gab.nur entwürdigende und preisgebende, und ich fühlte, daß ich den Dingen ihren Lauf lassen müsse, in der Hoffnung, er möchte bald aus seinem Werk zu spielen beginnen und Töne geben statt Worte. Nie hatte ich stärker den Vorteil der Musik, die nichts und alles sagt, vor der Eindeutigkeit des Wortes empfunden, ja, die schützende Unverbindlichkeit der Kunst überhaupt, im Vergleich mit der bloßstellenden Krudheit des unübertragenen Geständnisses. Dieses aber zu unterbrechen, ging mir nicht nur gegen die Ehrfurcht, sondern es verlangte mich auch aus ganzer Seele, zu hören, mochten auch unter denen, die mit mir hörten, nur ganz

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wenige sein, die es wert waren. Haltet nur aus und hört, sprach ich im Geist zu den anderen, da er euch nun einmal alle als seine Mitmenschen geladen hat!
Nach einer Pause des Nachdenkens fing der Freund wieder an:
»Glaubt nicht, liebe Brüder und Schwestern, daß ich zur Promission und Errichtung des Pakts eines Wegscheids im Walde und viel Cirkel und grobe Beschwörung bedurft hätte, da ja schon Sankt Thomas lehrt, daß es zum Abfall nicht Worte braucht, mit denen Anrufung stattfindet, sondern irgendeine Tat ist genug, auch ohne ausdrückliche Huldigung. Denn es war nur ein Schmetterling und eine bunte Butterfliege, Hetaera Esmeralda, die hatt es mir angetan durch Berührung, die Milchhexe, und folgt ihr nach in den dämmernden Laubschatten, den ihre durchsichtige Nacktheit liebt, und wo ich sie haschte, die im Flug einem windgeführten Blütenblatt gleicht, haschte sie und koste mit ihr, ihrer Warnung zum Trotz, so war es geschehen. Denn wie sie mir's angetan, so tat sie mir's an und vergab mir in der Liebe, — da war ich eingeweiht und die Versprechung geschlossen.«
Ich zuckte zusammen, denn hier gab es eine Zwischenstimme aus dem Auditorium, — die des Dichters Daniel Zur Höhe in seinem Priesterkleide, der mit dem Fuße aufschlug und hämmernd urteilte:
»Es ist schön. Es hat Schönheit. Recht wohl, recht wohl, man kann es sagen!«
Einige zischten, und auch ich wandte mich mißbilligend gegen den Sprecher, da ich ihm doch heimlich dankbar war für seine Worte. Denn obgleich albern genug, rückten sie, was wir hörten, unter einen beruhigenden und anerkannten Gesichtswinkel, den ästhetischen nämlich, der, so unangebracht er war, und so sehr er mich ärgerte, doch auch mir selbst eine gewisse Erleichterung schuf. Denn mir war, als ginge ein getröstetes >Ach so!< durch die Gesellschaft, und eine Dame, Frau Verleger Radbruch, fand sich durch Zur Höhe's Worte zu dem Ausspruch ermutigt:
»Man glaubt, Poesie zu hören.«
Ach, man glaubte das nicht lange, die schönselige Auffas-

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sung, so bequem sie sich anbot, war nicht haltbar, dies hatte nichts zu tun mit Dichter Zur Höhe's steilem Jux von Gehorsam, Gewalt, Blut und Plünderung der Welt, es war stiller und bleicher Ernst, war Bekenntnis und Wahrheit, die zu vernehmen ein Mensch in letzter Seelennot seine Mitmenschen zusammengerufen hatte, — eine Handlung unsinnigen Vertrauens allerdings; denn Mitmenschen sind nicht gemeint und gemacht, solcher Wahrheit anders zu begegnen als mit kaltem Grauen und mit der Entscheidung, die sie sehr bald, als es nicht mehr anging, sie als Poesie zu betrachten, einhellig darüber aussprachen.
Es hatte nicht den Anschein, als ob jene Einwürfe überhaupt zu unserem Gastgeber gedrungen wären. Sein Sinnen, wenn er pausierte, machte ihn offenbar unzugänglich für sie.
»Merkt es nur«, nahm er seine Rede wieder auf, »sonders achtbare liebe Freunde, daß ihr's mit einem Gottverlassenen und Verzweifelten zu tun habt, dessen Leichnam nicht an geweihten Ort gehört, zu frommen abgestorbenen Christen, sondern auf den Schindwasen zu den Kadavern verreckten Viehes. Auf der Bahre, ich sag es euch zuvor, werdet ihr ihn immer finden auf dem Gesichte liegen, und ob ihr ihn fünfmal umdrehet, er wird doch wieder verkehrt liegen. Denn lange schon bevor ich mit dem giftigen Falter koste, war meine Seel in Hochmut und Stolz zu dem Satan unterwegs gewesen, und stund mein Datum dahin, daß ich nach Ihm trachtete von Jugend auf, wie ihr ja wissen müßt, daß der Mensch zur Seligkeit oder zur Höllen geschaffen und vorbestimmt ist, und ich war zur Höllen geboren. Drum gab ich meiner Hoffart Zucker, daß ich theologiam studierte zu Hallen auf der Hohen Schul, doch nicht von Gottes wegen, sondern von wegen des Anderen, und war mein Gottesstudium heimlich schon des Bündnisses Anfang und der verkappte Zug zu Gott nicht, sondern zu Ihm, dem großen religiosus. Was aber zum Teuf el will, das läßt sich nicht aufhalten noch Ihm wehren, und war nur ein kleiner Schritt von der Gottesfakultät hinüber gen Leipzig und zu der Musik, daß ich mich nur und allein noch abgab mit figuris, characteri-

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bus, formis coniurationum und wie solche Namen der Beschwörung und Zauberei genannt sein mögen.
Item, mein verzweifelt Herz hat mir's verscherzt. Hatte wohl einen guten geschwinden Kopf und Gaben, mir von oben her gnädig mitgeteilt, die ich in Ehrsamheit und bescheidentlich hätte nutzen können, fühlte aber nur allzu wohl: Es ist die Zeit, wo auf fromme, nüchterne Weis, mit rechten Dingen, kein Werk mehr zu tun und die Kunst unmöglich geworden ist ohne Teuf eishilf und höllisch Feuer unter dem Kessel... Ja und ja, liebe Gesellen, daß die Kunst stockt und zu schwer worden ist und sich selbsten verhöhnt, daß alles zu schwer worden ist und Gottes armer Mensch nicht mehr aus und ein weiß in seiner Not, das ist wohl Schuld der Zeit. Lädt aber einer den Teufel zu Gast, um darüber hinweg und zum Durchbruch zu kommen, der zeiht seine Seel und nimmt die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals, daß er verdammt ist. Denn es heißt: Seid nüchtern und wachet! Das aber ist manches Sache nicht, sondern, statt klug zu sorgen, was vonnöten auf Erden, damit es dort besser werde, und besonnen dazu zu tun, daß unter den Menschen solche Ordnung sich herstelle, die dem schönen Werk wieder Lebensgrund und ein redlich Hineinpassen bereiten, läuft wohl der Mensch hinter die Schul und bricht aus in höllische Trunkenheit: so gibt er sein Seel daran und kommt auf den Schindwasen.
Also, günstige hebe Brüder und Schwestern, hab ich's gehalten und ließ nigromantia, carmina, incantatio, veneficium und wie sonst Wörter und Namen genannt werden mögen, all mein Sach und Verlangen sein. Bin auch bald mit Jenem zusprach kommen, dem Wendenschimpf, dem Mannsluder, im welschen Saal, hab viel Gespräch mit Ihm gehalten, und hat mir von der Hellen Qualität, Fundament und Substanz gar manches verkünden müssen. Hat mir auch Zeit verkauft, vierundzwanzig unabsehbare Jahr, und sich gegen mir versprochen und verlobt für diese Frist, auch mir Großes verheißen und viel Feuer unter den Kessel, daß ich fähig sein sollte zum Werk, obgleich es zu schwer worden und mein Kopf zu klug und spöttisch

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dafür, deß ohngeachtet. Nur, allerdings, Messerschmerzen sollte ich leiden dafür schon in der Zeit, gleichwie die kleine Seejungfrau sie litt in ihren Beinen, die war meine Schwester und süße Braut, mit Namen Hyphialta. Denn Er führte sie mir zu Bette als mein Schlafweib, daß ich ihr anhub zu buhlen und sie immer lieber gewann, ob sie nun mit dem Fischschwanz kam, oder mit Beinen, öfters wohl kam sie im Schwanz, weil nämlich die Schmerzen, die sie wie von Messern litt in den Beinen, ihr die Lust überwogen, und ich hatte viel Sinn dafür, wie ihr zarter Leib in den schuppigen Schwanz so lieblich überging. Aber höher war mein Entzücken doch an der reinen Menschengestalt, und so hatte ich meines Teils größere Lust, wenn sie sich zu mir gesellte mit Beinen.«
Eine Unruhe geschah nach diesen Worten im Auditorium und ein Aufbruch. Die alten Herrschaften Schlaginhaufen nämlich erhoben sich von unserem Tisch, und, ohne nach rechts oder links zu blicken, auf leisen Sohlen, führte der Gatte die Gattin am Ellbogen zwischen den Sitzen hindurch und zur Tür hinaus. Es vergingen auch nicht zwei Minuten, bis man auf dem Hof mit viel Lärmen und Rattern den Motor ihres Autos anspringen hörte und verstand, sie fuhren davon.
Dies war für manchen bedenklich, denn so ging man des Wagens verlustig, mit dem viele gehofft hatten, wieder zum Bahnhof zurücktransportiert zu werden.
Es war aber keine Neigung bemerklich unter den Gästen, es ihnen nachzutun. Man saß wie gebannt, und als es draußen still geworden von der Wegfahrt, ließ wieder Zur Höhe sein peremptorisches »Schön! O freilich wohl, es ist schön!« vernehmen.
Auch ich wollte eben den Mund auftun und den Freund ersuchen, es mit der Einleitung genug sein zu lassen und uns nun aus seinem Werke zu spielen, als er, unberührt von dem Zwischenfall, in seiner Ansprache weiterging:
»Darauf ist Hyphialta schwangeren Leibs geworden und hat mir ein Söhnchen gezehlt, an dem meine ganze Seele hing, ein heilig Knäbchen, holdselig außer aller Gewohnheit und wie von weiter und alter Landsart hero. Da aber das Kind von Fleisch

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und Blut und es bedungen war, daß ich kein menschlich Wesen lieben durfte, so bracht Er es um ohn Erbarmen und bedient sich dazu meiner eigenen Augen. Denn ihr müßt wissen, daß, wenn eine Seele heftig zur Schlechtigkeit bewegt worden, so ist ihr Blick giftig und natterisch, am meisten für Kinder. So ging dieses Söhnchen voll süßer Sprüche mir im Augstmond dahin, ob ich gleich gedacht hatte, solche Zärtlichkeit sei mir erlaubt. Hatte wohl auch gedacht, schon zuvor, daß ich, als des Teufels Mönch, lieben dürfte in Fleisch und Blut, was nicht weiblich war, der aber um mein Du in grenzenloser Zutraulichkeit warb, bis ich's ihm gewährte. Darum mußt ich ihn töten und schickte ihn in den Tod nach Zwang und Weisung. Denn der magisterulus hatte gemerkt, daß ich mich ehelich zu verheiraten gedachte, und war voller Wut, weil Er im Ehestande den Abfall ersah von Ihm und einen Schlich zur Versöhnung. Also zwang Er mich, gerade dies Vorhaben zu brauchen, daß ich kalt den Zutraulichen mordete, und will's gebeichtet haben heut und hier vor euch allen, daß ich vor euch sitze auch noch als ein Mörder.«
Eine weitere Gruppe von Gästen verließ an dieser Stelle den Raum, nämlich: der kleine Helmut Institoris, der sich, in stillem Protest, bleich und die Unterlippe an die Zähne gezogen, erhob, und seine Freunde, der Glattmaler Nottebohm nebst seiner sehr bürgerlich geprägten, hochbusigen Frau, die wir >die mütterliche Brust< zu nennen pflegten. Diese also entfernten sich stillschweigend. Sie hatten aber wohl draußen nicht geschwiegen, denn wenige Augenblicke nach ihrem Abgang trat leise Frau Schweigestill ein, in der Schürze, im straffen grauen Scheitel, und blieb mit gefalteten Händen in der Nähe der Türe stehen. Sie hörte zu, wie Adrian sagte:
»Aber welch ein Sünder ich war, ihr Freunde, ein Mörder, den Menschen feind, der Teufelsbuhlschaft ergeben, so hab ich dem ungeachtet mich immerfort emsig befleißigt als ein Werker und nie geruget« (wieder einmal schien er sich zu besinnen und verbesserte das Wort in »geruht«, blieb aber dann bei »geruget«) »noch geschlafen, sondern mir's sauer werden lassen

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und Schweres vor mich gebracht, nach dem Wort des Apostels: »Wer schwere Dinge sucht, dem wird es schwere Denn wie Gott nicht Großes tut durch uns ohn unser Salben, so auch der Andre nicht. Nur die Scham und den Spott des Geistes, und was in der Zeit dem Werke zuwider, das hat Er von mir beiseite gehalten, das übrige mußte ich selber tun, wenn auch nach seltsamen Eingießungen. Denn oft erhob sich bei mir ein lieblich Instrument von einer Orgel oder Positiv, dann die Harfe, Lauten, Geigen, Posaunen, Schwegel, Krummhörner und Zwergpfeifen, ein jegliches mit vier Stimmen, daß ich hätte glauben mögen, im Himmel zu sein, wenn ich's nicht anders gewußt hätte. Davon schrieb ich viel auf. Oft waren auch gewisse Kin/ der bei mir im Zimmer, Buben und Mädchen, die mir von Notenblättern eine Motette sangen, lächelten sonderlich verschmitzt dabei und tauschten Blicke. Es waren gar hübsche Kinder. Zuweilen hob sich ihr Haar wie von heißer Luft, und sie glätteten es wieder mit ihren hübschen Händen, die hatten Grübchen und waren Rubinsteinchen daran. Aus ihren Nasenlöchern ringelten sich manchmal gelbe Würmchen, liefen zur Brust hinab und verschwanden —«
Diese Worte waren nun abermals das Zeichen für einige Zuhörer, den Saal zu räumen: es waren die Gelehrten Unruhe, Vogler und Holzschuher, von denen ich den einen beim Hinausgehen beide Handwurzeln an die Schläfen pressen sah. Sixtus Kridwiß jedoch, bei dem sie disputierten, blieb mit sehr angeregter Miene an seinem Platze, wie ja nach den Abgängen immer noch einige zwanzig blieben, wenn auch vielfach schon stehend und anscheinend zur Flucht bereit. Leo Zink hielt boshaft erwartungsvoll die Brauen emporgezogen und sagte »Jessas, na!«, wie er zu tun pflegte, wenn er eines anderen Bild beurteilen sollte. Um Leverkühn hatten sich, gleichsam schützend, einige Frauen geschart: Kunigunde Rosenstiel, Meta Nackedey und Jeannette Scheurl, diese drei. Else Schweigestill blieb in der Entfernung.
Und wir hörten:

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»So hat der Böse seinen Worten Kraft geben in Treuen durch vierundzwanzig Jahr, und ist alles fertig bis aufs Letzt, unter Mord und Unzucht hab ich's vollendet, und vielleicht kann gut sein aus Gnade, was in Schlechtigkeit geschaffen wurde, ich weiß es nicht. Vielleicht auch siehet Gott an, daß ich das Schwere gesucht und mir's habe sauer werden lassen, vielleicht, vielleicht wird mir's angerechnet und zugute gehalten sein, daß ich mich so befleißigt und alles zähe fertig gemacht, — ich kann's nicht sagen und habe nicht Mut, darauf zu hoffen. Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir könnte verziehen werden, und ich habe sie auf Höhest getrieben dadurch, daß mein Kopf spekulierte, der zerknirschte Unglaube an die Möglichkeit der Gnade und Verzeihung möchte das Allerreizendste sein für die ewige Güte, wo ich doch einsehe, daß solche freche Berechnung das Erbarmen vollends unmöglich macht. Darauf aber fußend, ging ich weiter im Spekulieren und rechnete aus, daß diese letzte Verworfenheit der äußerste Ansporn sein müsse für die Güte, ihre Unendlichkeit zu beweisen. Und so immer fort, also, daß ich einen verruchten Wettstreit trieb mit der Güte droben, was unausschöpflicher sei, sie oder mein Spekulieren, — da seht ihr, daß ich verdammt bin, und ist kein Erbarmen für mich, weil ich ein jedes im voraus zerstöre durch Spekulation.
Da aber nun die Zeit ausgelaufen ist, die ich mir einst mit meiner Seele erkauft, hab ich euch vor meinem-Ende zu mir berufen, günstig liebe Brüder und Schwestern, und euch mein geistlich Hinscheiden nicht wollen verbergen. Bitt euch hierauf, ihr wollet meiner im Guten gedenken, auch andere, die ich etwa zu laden vergessen, von meinetwegen brüderlich grüßen und darneben mir nichts für übel halten. Dies alles gesagt und bekannt, will ich euch zum Abschied ein weniges aus dem Gefüge spielen, das ich dem lieblich Instrument des Satans abgehört, und das zum Teil die verschmitzten Kinder mir vorgesungen.«
Er stand auf, bleich wie der Tod.
»Dieser Mann«, ließ sich da in der Stille die klar artikulierende, wenn auch asthmatische Stimme des Dr. Kranich vernehmen, »dieser Mann ist wahnsinnig. Daran kann längst kein

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Zweifel bestehen, und es ist sehr zu bedauern, daß in unserem Kreise die irrenärztliche Wissenschaft nicht vertreten ist. Ich, als Numismatiker, fühle mich hier gänzlich unzuständig.«
Damit ging auch er hinaus.
Leverkühn, umgeben von den genannten Frauen, auch von Schildknapp, Helene und mir, hatte sich an das braune Tafelklavier gesetzt und glättete mit der Rechten die Blätter der Partitur. Wir sahen Tränen seine Wangen hinunterrinnen und auf die Tasten fallen, die er, naß wie sie waren, in stark dissonantem Akkorde anschlug. Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein Klagelaut, der mir für immer im Ohre hängengeblieben ist, brach zwischen seinen Lippen hervor; er breitete, über das Instrument gebeugt, die Arme aus, als wollte er es damit umfangen, und fiel plötzlich, wie gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden.
Frau Schweigestill, die doch entfernter gestanden, war schneller bei ihm als wir Näheren, die wir, ich weiß nicht, warum, eine Sekunde zögerten, uns seiner anzunehmen. Sie hob den Kopf des Bewußtlosen, und seinen Oberleib in mütterlichen Armen haltend, rief sie zur Seite ins Zimmer hinein gegen die annoch Gaffenden:
»Macht's, daß weiter kommt's, alle miteinand! Ihr habt's ja ka Verständnis net, ihr Stadtleut, und da g'hert a Verständnis her! Viel hat er von der ewigen Gnaden g'redt, der arme Mann, und i weiß net, ob die langt. Aber a recht's a menschlich's Verständnis, glaubt's es mir, des langt für all's!«

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NACHSCHRIFT

Es ist getan. Ein alter Mann, gebeugt, fast gebrochen von den Schrecknissen der Zeit, in welcher er schrieb, und von denen, die den Gegenstand seines Schreibens bildeten, blickt mit schwankender Genugtuung auf den hohen Haufen belebten Papiers, der das Werk seines Fleißes, das Erzeugnis dieser von Erinnerung sowohl wie von Gegenwartsgeschehen überfüllten Jahre ist. Eine Aufgabe ist bewältigt, für die ich von Natur nicht der rechte Mann, zu der ich nicht geboren, aber durch Liebe, Treue und Zeugenschaft berufen war. Was diese zu leisten vermögen, was Hingebung vermag, das ist geleistet worden, — ich muß es gut damit sein lassen.
Als ich zur Niederschrift dieser Erinnerungen, der Biographie Adrian Leverkühns, ansetzte, bestand, von Autors wegen, wie von wegen des Künstlertums ihres Helden, nicht die geringste Aussicht auf ihre öffentliche Bekanntmachung. An diese wäre jetzt, wo das Staatsungeheuer, das damals den Erdteil, und mehr als ihn, in seinen Fangarmen hielt, seine Orgien ausgefeiert hat, wo seine Matadore sich von ihren Ärzten vergiften und dann mit Gasolin übergießen und anzünden lassen, damit rein nichts von ihnen übrigbleibe, — es wäre, sage ich, jetzt an die Publikation meines dienenden Werkes wohl zu denken. Aber Deutschland ist, nach dem Willen jener Bösewichte, so bis in den Grund zerstört, daß man nicht zu hoffen wagt, es möchte zu irgendwelcher kulturellen Aktivität, zur Herstellung eines Buches auch nur, so bald wieder fähig sein, und tatsächlich habe ich dann und wann schon auf Mittel und Wege gesonnen, diese Blätter nach Amerika gelangen zu lassen, damit sie vorerst einmal der dortigen Menschheit in englischer Übersetzung vorgelegt werden. Mir ist, als ob dies dem Sinn meines verewigten Freundes nicht geradezu entgegen wäre. Freilich gesellt sich zu dem Gedanken an das sachliche Befremden, das mein Buch in jener Gesittungssphäre erregen müßte, die sorgende Voraussicht, daß seine Übersetzung ins Englische

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sich, wenigstens in gewissen, allzu wurzelhaft deutschen Partien, als ein Ding der Unmöglichkeit erweisen würde.
Was ich ferner voraussehe, ist das Gefühl einer gewissen Leere, das mein Teil sein wird, wenn ich nun mit wenigen Worten von dem Lebensausgang des großen Komponisten werde Rechenschaft abgelegt und den Schlußstrich unter mein Manuskript gezogen haben werde. Die Arbeit daran, aufwühlend und zehrend, wie sie war, wird mir fehlen, als laufende Pflichterfüllung hat sie mir beschäftigend über Jahre hinweggeholfen, die in barer Muße weit schwerer noch zu ertragen gewesen wären, und, vergebens vorderhand, sehe ich mich nach einer Tätigkeit um, die sie in Zukunft ersetzen könnte. Es ist wahr: die Gründe, aus denen ich vor elf Jahren aus meinem Lehramt schied, fallen unter den Donnern der Geschichte dahin. Deutschland ist frei, sofern man ein vernichtetes und entmündigtes Land frei nennen kann, und es mag sein, daß meiner Rückkehr in den Schuldienst bald nichts mehr im Wege stehen wird. Monsignore Hinterpförtner hat mich schon gelegentlich darauf hingewiesen. Werde ich wieder einer humanistischen Prima den Kulturgedanken ans Herz legen, in welchem Ehrfurcht vor den Gottheiten der Tiefe mit dem sittlichen Kult olympischer Vernunft und Klarheit zu einer Frömmigkeit verschmilzt? Aber ach, ich fürchte, in dieser wilden Dekade ist ein Geschlecht herangewachsen, das meine Sprache sowenig versteht wie ich die seine, ich fürchte, die Jugend meines Landes ist mir zu fremd geworden, als daß ich ihr Lehrer noch sein könnte, — und mehr: Deutschland selbst, das unselige, ist mir fremd, wildfremd geworden, eben dadurch, daß ich mich, eines grausigen Endes gewiß, von seinen Sünden zurückhielt, mich davor in Einsamkeit barg. Muß ich mich nicht fragen, ob ich recht daran getan habe? Und wiederum: habe ich's eigentlich getan? Ich habe einem schmerzlich bedeutenden Menschen angehangen bis in den Tod und sein Leben geschildert, das nie aufhörte, mir liebende Angst zu machen. Mir ist, als käme diese Treue wohl auf dafür, daß ich mit Entsetzen die Schuld meines Landes floh.

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Pietät verbietet mir, auf den Zustand einzugehen, in welchem Adrian damals aus der zwölf stündigen Bewußtlosigkeit zu sich kam, worein der paralytische Choc am Klavier ihn versenkt hatte. Nicht zu sich kam er, sondern fand sich wieder als ein fremdes Selbst, das nur noch die ausgebrannte Hülle seiner Persönlichkeit war und mit dem, der Adrian Leverkühn geheißen, im Grunde nichts mehr zu tun hatte. Meint doch das Wort >Demenz< ursprünglich nichts anderes, als diese Abweichung vom eigenen Ich, die Selbstentfremdung.
Ich sage so viel, daß seines Bleibens in Pfeiffering nicht war. Rüdiger Schildknapp und ich übernahmen die schwere Pflicht, den Kranken, von Dr. Kürbis mit kalmierenden Drogen für die Reise Zubereiteten, nach München in die geschlossene Nervenheilanstalt des Dr. von Hösslin in Nymphenburg zu bringen, wo Adrian drei Monate verbrachte. Die Prognose des erfahrenen Fachmannes hatte sogleich ohne Rückhalt dahin gelautet, daß es sich um eine geistige Erkrankung handle, die nur progredieren könne. Sie werde aber gerade im Fortschreiten die lautesten Symptome wohl bald ablegen und durch sachgemäße Behandlung in stillere, wenn auch nicht hoffnungsvollere Phasen zu überführen sein. Eben diese Auskunft war es, die Schildknapp und mich nach einigem Ratschlagen bestimmte, von der Benachrichtigung der Mutter, Elsbeth Leverkühns auf Hof Buchel, noch etwas abzusehen. Es war ja gewiß, daß sie auf die Kunde von einer Katastrophe im Leben ihres Sohnes zu ihm herbeieilen werde, und wenn Beruhigung zu erwarten war, so schien es nicht mehr als menschlich, ihr den erschütternden, ja unerträglichen Anblick des von Anstaltspflege noch ungemilderten Zustandes ihres Kindes zu ersparen.
Ihres Kindes! Denn das, und nichts anderes mehr, war Adrian Leverkühn wieder, als die alte Frau eines Tages — das Jahr ging gegen den Herbst — in Pfeiffering eintraf, um ihn mit sich in die thüringische Heimat, an die Stätten seiner Kindheit zurückzunehmen, zu denen sein äußerer Lebensrahmen längst schon in so seltsamer Entsprechung gestanden hatte: — ein hilfloses, unmündiges Kind, das dem stolzen Flug seiner Männ-

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lichkeit keine Erinnerung mehr, oder eine sehr dunkle, in seiner Tiefe verborgene und vergrabene, bewahrte, das wie einst an ihrer Schürze hing, und das sie, wie in frühen Tagen, warten, gängeln, berufen, ihm >Unartigkeiten< verweisen mußte oder — durfte. Schauerlich Rührenderes und Kläglicheres ist nicht zu erdenken, als wenn ein von seinen Ursprüngen kühn und trotzig emanzipierter Geist, nachdem er einen schwindelnden Bogen über die Welt hin beschrieben, gebrochen ins Mütterliche zurückkehrt. Meine Überzeugung aber, die auf unmißverständlichen Eindrücken beruht, ist, daß dieses, das Mütterliche, solche tragische Heimkehr bei allem Jammer nicht ohne Genugtuung, nicht ohne Zufriedenheit erfährt. Einer Mutter ist der Ikarusflug des Helden-Sohnes, das steile Mannesabenteuer des ihrer Hut Entwachsenen, im Grunde eine so sündliche wie unverständliche Verirrung, aus der sie auch immer das entfremdet-geistesstrenge »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!« mit heimlicher Kränkung vernimmt, und den Gestürzten, Vernichteten, das »arme, liebe Kind«, nimmt sie, alles verzeihend, in ihren Schoß zurück, nicht anders meinend, als daß er besser getan hätte, sich nie daraus zu lösen.
Ich habe Gründe zu glauben, daß in der Tiefe von Adrians geistiger Nacht ein Grauen vor dieser sanften Erniedrigung, ein instinktiver Unwille dagegen, als Rest seines Stolzes, lebendig war, bevor er sich, im trüben Genuß der Bequemlichkeit, die eine erschöpfte Seele doch auch wohl durch die geistige Abdankung gewinnt, dareingab. Für diese triebhafte Empörung und den Drang zur Flucht vor der Mutter spricht, wenigstens zum Teil, der Selbstmordversuch, den er beging, als wir ihm zu verstehen gegeben hatten, Elsbeth Leverkühn sei von seiner Unpäßlichkeit benachrichtigt und befinde sich auf dem Wege zu ihm. Der Hergang war dieser:
Nach dreimonatiger Behandlung in der von Hösslin'schen Anstalt, wo ich den Freund nur selten und immer nur wenige Minuten sehen durfte, war ein Grad der Beruhigung — ich sage nicht: der Besserung, aber der Beruhigung erreicht, der dem Arzt die Zustimmung zu einer privaten Pflege in dem stillen

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Pfeiffering erlaubte. Auch finanzielle Gründe sprachen dafür. So nahm die gewohnte Umgebung den Kranken wieder auf. Er hatte dort anfangs die Überwachung durch den Wärter zu dulden, der ihn zurückgebracht. Sein Verhalten aber schien die Zurückziehung auch dieser Aufsicht zu rechtfertigen, und seine Betreuung lag vorerst nun wieder ganz in den Händen der Hofleute, vornehmlich in denen Frau Schweigestills, die, seit Gereon ihr eine rüstige Schwiegertochter ins Haus geführt (während Clementine die Frau des Stationsvorstehers von Waldshut geworden war), nur noch auf dem Altenteil saß und Muße hatte, dem Mietwohner vieler Jahre, der ihr längst etwas wie ein höherer Sohn geworden war, ihre Menschlichkeit zu widmen. Er vertraute ihr wie sonst niemandem. Mit ihr Hand in Hand zu sitzen, in der Abtsstube oder im Garten hinter dem Haus, war ihm offenbar der befriedigendste Zustand. Ich fand ihn so, als ich ihn zum erstenmal in Pfeiffering wieder aufsuchte. Der Blick, den er bei meinem Hinzutreten auf mich richtete, hatte etwas Heißes und Irrendes und verhängte sich zu meinem Schmerze schnell in düsterem Unwillen. Er mochte den Begleiter seines wachen Daseins in mir erkennen, an das gemahnt zu werden er sich weigerte. Da auf ein behutsames Zureden der alten Frau, mir doch ein gutes Wort zur Antwort zu geben, sich seine Miene nur noch mehr, und zwar bedrohlich, verfinsterte, blieb mir nichts übrig, als mich trauernd zurückzuziehen.
Für die Abfassung des Briefes, der seine Mutter über die Vorgänge schonend ins Bild setzte, war nun jedoch der Augenblick gekommen. Ihn länger zu verschieben, hätte geheißen, ihre Rechte zu schmälern, und das Telegramm, das ihr Heranreisen meldete, ließ denn auch keinen Tag auf sich warten. Man verständigte, wie ich sagte, Adrian von ihrer bevorstehenden Ankunft, übrigens ohne Gewißheit zu erlangen, daß er die Nachricht aufgefaßt habe. Eine Stunde später aber, als man ihn schlummernd wähnte, entwich er unversehens aus dem Hause'und wurde von Gereon und einem Knecht erst eingeholt, als er am Klammerweiher sich seiner Oberkleider

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entledigt hatte und schon bis zum Hals in das so rasch sich vertiefende Gewässer hineingegangen war. Er war im Begriffe, darin zu verschwinden, als der Knecht sich ihm nachwarf und ihn ans Ufer brachte. Während man ihn nach dem Hof zurückführte, erging er sich wiederholt über die Kälte des Weihers und fügte hinzu, es sei sehr schwer, sich in einem Wasser zu ertränken, in dem man oft gebadet und geschwommen habe. Er hatte das aber im Klammerweiher niemals, sondern nur in seinem heimischen Gegenstück, der Kuhmulde, als Knabe getan.
Nach meiner Ahnung, die fast der Gewißheit gleichkommt, stand hinter seinem vereitelten Fluchtversuch auch eine mystische Rettungsidee, die der älteren Theologie, namentlich dem frühen Protestantismus wohlvertraut war: die Annahme nämlich, daß Teufelsbeschwörer allenfalls ihre Seele zu retten vermöchten, indem sie »den Leib darangäben«. Wahrscheinlich handelte Adrian unter anderem nach diesem Gedanken, und ob man recht tat, ihn nicht zu Ende handeln zu lassen, weiß Gott allein. Nicht alles, was im Wahnsinn geschieht, ist darum durchaus zu verhindern, und die Pflicht zur Lebenserhaltung wurde hier kaum in irgendeines Menschen Interesse erfüllt als in dem der Mutter, — da eine solche es zweifellos vorzieht, einen unmündigen Sohn wiederzufinden als einen toten.
Sie kam, Jonathan Leverkühns braunäugige Witwe im weißen und straffen Scheitel, entschlossen, ihr verirrtes Kind in die Kindheit zurückzuholen. Beim Wiedersehen lag Adrian lange bebend an der Brust der Frau, die er Mutter und Du nannte, da er die andere hier, die sich fernhielt, Mutter und Sie genannt, und sie sprach ihm zu mit ihrer immer noch melodischen Stimme, der sie ihr Leben lang das Singen verwehrt hatte. Während der Reise aber, nach Norden ins Mitteldeutsche, auf welcher glücklicherweise der Adrian bekannte Wärter aus München die beiden begleitete, kam es ohne erkennbaren Anlaß zu einem Zornesausbruch des Sohnes gegen die Mutter, einem von niemandem erwarteten Wutanfall, der Frau Leverkühn zwang, den Rest der Fahrt, fast die Hälfte, in einem

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anderen Abteil zurückzulegen und den Kranken mit dem Wärter allein zu lassen.
Es war ein einmaliges Vorkommnis. Niemals hat Ähnliches sich wiederholt. Schon als sie sich ihm bei der Ankunft in Weißenfels wieder näherte, schloß er sich ihr unter Kundgebungen der Liebe und Freude an, folgte ihr dann daheim auf Schritt und Tritt und war ihr, die sich völlig und mit einer Hingabe, deren nur eine Mutter fähig ist, seiner Pflege widmete, das lenksamste Kind. In Haus Buchel, wo ebenfalls seit Jahren eine Schwiegertochter waltete und schon zwei Enkel aufwuchsen, bewohnte er dasselbe Zimmer im Oberstock, das er als Knabe mit seinem älteren Bruder geteilt hatte, und wieder war es nun, statt der Ulme, die alte .Linde, deren Zweige unter seinem Fenster sich regten, und für deren wundervollen Blütenduft, in der Jahreszeit seiner Geburt, er Zeichen von Empfänglichkeit gab. Viel saß er auch, seinem Hindämmern von den Hofleuten bereits mit Seelenruhe überlassen, im Schatten des Baumes auf der Rundbank, dort, wo einst die plärrende StallHanne Kanons mit uns Kindern geübt hatte. Für seine körperliche Bewegung sorgte die Mutter, indem sie, ihren Arm in seinem, Spaziergänge durch die stille Landschaft mit ihm machte. Begegnenden pflegte er, ungehindert von ihr, die Hand zu reichen, wobei der so Begrüßte und Frau Leverkühn einander nachsichtig zunickten.
Für meine Person sah ich den teueren Mann wieder im Jahre 1935, als ich, schon emeritiert, zu seinem fünfzigsten Geburtstag als trauernder Gratulant mich auf dem Buchelhof einfand. Die Linde blühte, er saß darunter. Ich gestehe, mir zitterten die Knie, als ich, einen Blumenstrauß in der Hand, an der Seite seiner Mutter zu ihm trat. Er schien mir kleiner geworden, was an der schief gebückten Haltung liegen mochte, aus der ein verschmälertes Gesicht, ein Ecce homo-Antlitz, trotz der ländlich gesunden Hautfarbe, mit weh geöffnetem Munde und blicklosen Augen zu mir emporhob. Hatte er mich zuletzt in Pfeiffering nicht erkennen wollen, so war jetzt unzweifelhaft, daß er mit meiner Erscheinung, ungeachtet einiger

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Mahnung durch die alte Frau, keinerlei Erinnerungen mehi verband. Von dem, was ich ihm über die Bedeutung des Tages, den Sinn meines Kommens sagte, verstand er augenscheinlich nichts. Nur die Blumen schienen einen Augenblick seine Teilnahme zu erregen; dann lagen auch sie unbeachtet da.
Noch einmal sah ich ihn 1939, nach der Besiegung Polens, ein Jahr vor seinem Tode, den seine Mutter als Achtzigjährige noch erlebte. Sie führte mich damals die Treppe hinauf nach seinem Zimmer, in das sie mit den ermunternden Worten: »Kommen Sie nur, er bemerkt Sie nicht!« hineinging, während ich voll tiefer Scheu im Türrahmen stehenblieb. Im Hintergrunde des Zimmers, auf einer Chaiselongue, deren Fußende mir zugekehrt war, so daß ich ihm ins Gesicht sehen konnte, lag unter einer leichten Wolldecke der, der einst Adrian Leverkühn gewesen war, und dessen Unsterbliches nun so heißt. Die bleichen Hände, deren sensitive Bildung ich immer geliebt hatte, lagen, wie bei einer Grabfigur des Mittelalters, auf der Brust gekreuzt. Der stärker ergraute Bart zog das verschmälerte Gesicht noch mehr in die Länge, so daß es nun auffallend dem eines Greco'schen Edlen glich. Welch ein höhnisches Spiel der Natur, so möchte man sagen, daß sie das Bild höchster Vergeistigung erzeugen mag dort, wo der Geist entwichen ist! Tief lagen die Augen in den Höhlen, die Brauen waren buschiger geworden, und darunter hervor richtete das Phantom einen unsäglich ernsten, bis zur Drohung forschenden Blick auf mich, der mich erbeben ließ, aber schon nach einer Sekunde gleichsam in sich zusammenbrach, so, daß die Augäpfel sich nach oben kehrten, halb unter den Lidern verschwanden und haltlos dort hin und her irrten. Der wiederholten Einladung der Mutter, doch nur näher zu treten, versagte ich die Folge und wandte mich in Tränen.
— Am 25. August 1940 traf mich hier in Freising die Nachricht von dem Erlöschen der Reste eines Lebens, das meinem eigenen Leben, in Liebe, Spannung, Schrecken und Stolz, seinen wesentlichen Inhalt gegeben hat. Am offenen Grabe auf dem kleinen Friedhof von Oberweiler standen mit mir, außer

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den Angehörigen, Jeannette Scheurl, Rüdiger Schildknapp, Kunigunde Rosenstiel und Meta Nackedey, dazu eine unkenntlich verschleierte Fremde, die, während die Erdschollen auf den eingebetteten Sarg fielen, wieder verschwunden war.
Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte. Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.

Ende -----

Es scheint nicht überflüssig, den Leser zu verständigen, daß die im XXII. Kapitel dargestellte Kompositionsart, Zwölftonoder Reihentechnik genannt, in Wahrheit das geistige Eigentum eines zeitgenössischen Komponisten und Theoretikers, Arnold Schoenbergs, ist und von mir in bestimmtem ideellem Zusammenhang auf eine frei erfundene Musikerpersönlichkeit, den tragischen Helden meines Romans, übertragen wurde. Überhaupt sind die musiktheoretischen Teile des Buches in manchen Einzelheiten der Schoenberg'sehen Harmonielehre verpflichtet. Thomas Mann