THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
Alle Rechte vorbehalten durch S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


< | >

VII

Es war eine stille Lage, abseits der Geschäftsgegend von Kaisersaschern, der Marktstraße, der Grieskrämerzeile: eine winklige Gasse ohne Trottoir, nahe dem Dom, in der Nikolaus Leverkühns Haus sich als das stattlichste hervortat. Dreistöckig, die Räume des abgesetzten und erkerförmig ausgebauten Daches nicht mitgezählt, war es ein Bürgerhaus aus dem sechzehnten Jahrhundert, das schon dem Großvater des Besitzers gehört hatte, mit fünf Fenstern Front im ersten Stock über dem Eingangstor, und nur vieren, mit Läden versehenen, im zweiten, wo erst die Wohnräume lagen und außen, über dem schmucklosen, ungetünchten Unterbau, die Holzwerkdekoration begann. Selbst die Stiege verbreiterte sich erst nach dem Podest des ziemlich hoch über der steinernen Diele gelegenen Halbgeschosses, so daß Besucher und Käufer — und es kamen solche auch vielfach von auswärts, von Halle und selbst von Leipzig — einen nicht unbeschwerlichen Aufgang zu dem Ziel ihrer Wünsche, dem Instrumenten-Magazin hatten, welches, wie ich gleich zu zeigen gedenke, allerdings eine steile Treppe wert war.
Nikolaus, ein Witwer — seine Frau war in jungen Jahren gestorben —, hatte bis zu Adrians Eintritt das Haus allein mit e war.iner alteingesessenen Wirtschafterin, Frau Butze, einer Magd und einem jungen Italiener aus Brescia, namens Luca Cimabue (er führte wirklich den Familiennamen des Trecento-Madonnenmalers), bewohnt, der sein Geschäftsgehilfe und Schüler im

55

Geigenbau war; denn Oheim Leverkühn war auch ein Geigenmacher. Er war ein Mann mit ungeordnet herumhängendem aschfarbenen Haar und einem bartlosen, sympathisch ausgearbeiteten Gesicht, dessen Backenknochen sehr stark hervortraten, mit gebogener, etwas hängender Nase, einem großen, ausdrucksvollen Mund und in bemühter Herzensgüte, auch Klugheit dreinblickenden braunen Augen. Zu Hause sah man ihn stets in einer hochgeschlossenen, faltigen Handwerkerbluse aus Barchent. Ich glaube wohl, daß es den Kinderlosen gefreut hatte, ein junges verwandtes Blut in sein viel zu geräumiges Haus aufzunehmen. Auch habe ich gehört, daß er den Bruder auf Buchel wohl für das Schulgeld aufkommen ließ, für Losament und Verpflegung aber nichts nahm. Durchaus hielt er Adrian, auf den er ein unbestimmt erwartungsvolles Auge hatte, wie seinen eigenen Sohn und genoß es sehr, daß dieser seine Tischgesellschaft familiär vervollständigte, die so lange nur aus der genannten Frau Butze und, patriarchalischerweise, Luca, seinem Gesellen, bestanden hatte.
Daß dieser junge Welsche, ein freundlicher, angenehm gebrochen redender Jüngling, der doch wohl daheim die beste Gelegenheit gehabt hätte, sich in seinem Fache weiter auszubilden, den Weg nach Kaisersaschern zu Adrians Onkel gefunden hatte, hätte wundernehmen können; aber es deutete auf die geschäftlichen Verbindungen hin, die Nikolaus Leverkühn nach allen Seiten, nicht nur nach deutschen Zentren des Instrumentenbaues, wie Mainz, Braunschweig, Leipzig, Barmen, sondern auch zu Firmen des Auslandes, nach London, Lyon, Bologna, sogar nach New York unterhielt. Von überall dorther bezog er seine sinfonische Ware, von der ein nicht nur der Qualität nach erstklassiges, sondern auch zuverlässig vollständiges, das nicht allerwärts gleich Greifbare mitumfassendes Repertorium zu unterhalten er in dem Rufe stand. So brauchte etwa nur irgendwo im Reiche ein Bach-Fest bevorzustehen, zu dessen stilgerechten Aufführungen man einer Oboe d'amore, der lange aus den Orchestern verschwundenen tieferen Oboe, bedurfte, damit das alte Haus an der Parochialstraße den

56

Kundenbesuch eines herangereisten Musikus empfing, der sichergehen wollte und denn auch das elegische Instrument an Ort und Stelle ausprobieren konnte.
Das Magazin in den Räumen des Halbgeschosses, aus denen oft, in den verschiedensten Klangfarben, ein solches durch die Oktaven laufendes Probieren erscholl, bot einen herrlichen, lockenden, ich möchte sagen: kulturell bezaubernden Anblick, der die akustische Phantasie zu einem gewissen inneren Brausen aufregte. Mit Ausnahme des Klaviers, das Adrians Pflegevater der Spezial-Industrie überließ, war dort alles ausgebreitet, was da klingt und singt, was näselt, schmettert, brummt, rasselt und dröhnt, — und übrigens war auch das Tasteninstrument, in Gestalt des lieblichen Gd brauner gelackt, die schlanken, am Griffe silberumsponnenen Bögen in den Haltern der Deckel verwahrt, — italienische, deren reine Wohlgestalt dem Kenner ihre cremonesische Herkunft verraten mochte, aber auch Tiroler, niederländische, sächsische, Mittenwalder und solche aus Leverkühns eigener Werlockenklaviers, der Celesta, immer vertreten. Es hingen da hinter Glas, oder lagen in Kästen gebettet, die wie Mumiensärge nach der Gestalt des Bewohners geformt waren, die reizenden Geigen, bald gelber, balkstatt. Das gesangreiche Cello, das seine vollendete Form dem Antonio Stradivari verdankt, war reihenweise vorhanden, aber auch seine Vorgängerin, die sechssaitige Viola da gamba, die in älteren Werken noch neben ihm zu Ehren kommt, war hier, wie die Bratsche und das andere Geschwister der Geige, die Viola alta, immer zu finden, wie denn auch meine eigene Viola d'amore, auf deren sieben Saiten ich mich mein Leben lang ergangenhabe, aus der Parochialstraße stammt. Sie war ein Geschenk meiner Eltern zu meiner Konfirmation.
Da lehnte, in mehreren Exemplaren, das Violone, die Riesengeige, der schwer bewegliche Kontrabaß, majestätischer Rezitative fähig, dessen Pizzicato klangvoller ist als der gestimmte Paukenschlag, und dem man den verschleierten Zauber seiner Flageolett-Töne nicht zutrauen sollte. Und ebenfalls wiederholt war sein Gegenstück unter den Holz-Blasinstrumenten

57

vorhanden, das Kontrafagott, sechzehnfüßig wie jenes, das heißt: um acht Töne tiefer klingend, als seine Noten angeben, mächtig die Bässe verstärkend, gebaut in den doppelten Dimensionen seines kleineren Bruders, des scherzosen Fagotts, das ich so nenne, weil es ein Baß-Instrument ist ohne rechte Baßgewalt, eigentümlich schwächlich von Klang, meckernd, karikaturistisch. Wie hübsch war es jedoch mit seinem gewundenen Anblaserohr, blitzend im Schmuck seiner Klappen- und Hebelmechanik! Welcher reizende Anblick überhaupt, dies Heer der Schalmeien im weither entwickelten Hochstande ihrer technischen Ausbildung, den Trieb des Virtuosen auffordernd in jeder ihrer Formen: als bukolische Oboe, als Englisches Hörn, das sich auf traurige Weisen versteht, als klappenreiche Klarinette, welche im tiefen Chalumeau-Register so geisterhaft düster lauten, höher hinauf aber im Silberglanz blühenden Wohlklangs erstrahlen kann, als Bassetthorn und Baßklarinette.
Sie alle, in Sammet ruhend, boten sich an in Oheim Leverkühns Fundus, dazu die Querflöte in verschiedenen Systemen und verschiedener Ausführung, aus Buchsbaum-, Grenadilloder Ebenholz, mit elfenbeinernen Kopfstücken oder ganz aus Silber gebaut, nebst ihrer schrillen Verwandten, der PiccoloFlöte, die im Orchester-Tutti durchdringend die Höhe zu halten und im Irrlichter-Reigen, im Feuerzauber zu tanzen weiß. Und nun erst der schimmernde Chor der Blechinstrumente/vpn der schmucken Trompete, der man das helle Signal, das kecke Lied, die schmelzende Kantilene mit Augen ansieht, über den Liebling der Romantik, das verwickelte Ventilhorn, die schlanke und mächtige Zugposaune und das Cornet ä pistons bis zu der gründenden Schwere der großen Baßtuba. Selbst museale Raritäten dieses Gebietes, etwa ein Paar schön gewundener, gleich Stierhörnern nach rechts und links gedrehter bronzener Luren, waren meistens in Leverkühns Magazin zu finden. Aber mit Knabenaugen gesehen, wie ich es heute in der Erinnerung wieder sehe, war das Lustigste, Herrlichste darin die umfassende Ausstellung von Schlagwerkzeugen, — eben weil Dinge, deren Bekanntschaft man früh unterm Weihnachtsbaum als

58

Spielzeug und leichtes Traumgut der Kindheit gemacht hatte, sich hier in würdig-gediegenster Ausführung, erwachsenen Zwecken dienend, dem Auge darboten. Die Wirbeltrommel, wie anders sah sie hier aus als das schnell vernützte Ding aus buntem Holz, Pergament und Bindfaden, das wir als Sechsjährige gerührt! Sie war nicht zum Umhängen gemacht. Das untere Fell mit Darmsaiten bespannt, war sie zum Orchestergebrauch in handlich schräger Stellung auf dreibeinigem Metallstativ festgeschraubt, und einladend staken die hölzernen Stöcke, auch vornehmer als die unseren, in seitlichen Ringen. Da war das Glockenspiel, auf dessen kindlicher Form wir wohl >Kommt ein Vogel geflogen< uns zu schlagen geübt hatten: hier reihten sich in elegantem Verschluß-Kasten, in doppelter Folge und frei zum Schwingen auf Querleisten liegend, die peinlich abgestimmten Metallplatten, zu deren melodischem Anschlag zierlichste Stahlhämmerchen, verwahrt im gefütterten Deckel-Innern, bestimmt waren. Das Xylophon, das gemacht scheint, dem Ohre den Friedhofstanz von Gerippen in mitternächtlicher Freistunde einzubilden, hier war es in vielstäbiger Chromatik. Der beschlagene Riesenzylinder der großen Trommel war da, deren Fell ein filzgepolsterter Klöppel erdröhnen läßt, und die kupferne Kesselpauke, von der noch Berlioz sechzehn Stück in seinem Orchester aufbaute, — er kannte sie nicht, wie Nikolaus Leverkühn sie führte, als Maschinenpauke, die der Ausübende leicht mit einem Griffe der Hand dem Tonartenwechsel sich anpassen läßt. Wie weiß ich noch den Bubenunfug, den wir versuchend damit anstellten, indem wir, Adrian oder ich — nein, nur ich war es wohl — die Klöppel auf dem Fell wirbeln ließen, während der gute Luca die Stimmung auf- oder abwärts verstellte, so daß das sonderbarste Glissando, ein Gleitgepolter sich ergab! — Auch die so merkwürdigen Becken nehme man noch hinzu, die nur Chinesen und Türken zu verfertigen verstehen, weil sie das Geheimnis hüten, wie man glühende Bronze hämmert, und deren Innenflächen der Handhabende nach dem Schlage hoch im Triumphe gegen das Auditorium hält; das dröhnende Tamtam,

59

das zigeunerische Tamburin, den unterm Stahlstab hell aufklingenden Triangel mit seinem offenen Winkel; die Zymbeln von heute, die gehöhlten, in der Hand knackenden Kastagnetten. Man sehe all diese ernsthafte Lustbarkeit überragt von der goldenen Pracht-Architektur der Erard'schen Pedalharfe, und man wird die magische Anziehungskraft begreifen, die des Oheims Handelsräume, dies Paradies schweigenden, aber in hundert Formen sich ankündigenden Wohllauts auf uns Knaben ausübte.
Auf uns? Nein, ich tue besser, nur von mir zu sprechen, meiner Verzauberung, meinem Genuß, — ich wage kaum, meinen Freund miteinzubeziehen, wenn ich von solchen Empfindungen rede, denn, mochte er nun den Haussohn herauskehren, dem das alles gewohnte Alltäglichkeit war, oder mochte die allgemeine Kühle seines Charakters sich darin ausdrücken: er bewahrte einen fast achselzuckenden Gleichmut vor all der Herrlichkeit und beantwortete meine bewundernden Exklamationen meist nur mit einem kurzen Lachen und einem »Ja, hübsch« oder »Drolliges Zeug« oder »Was die Menschen sich ausdenken« oder »Netter, das zu verkaufen, als Zuckerhüte«. Zuweilen, wenn wir von seiner Mansarde, die eine anziehende Aussicht über das Dachgeschiebe der Stadt, den Schloßteich, den alten Wasserturm bot, auf meinen Wunsch — ich betone: immer auf meinen — zu einigem, nicht gerade unerlaubten Aufenthalt ins Magazin hinabstiegen, gesellte der junge Cimabue sich uns zu, teils, wie ich vermute, um uns zu beaufsichtigen, teils um in seiner angenehmen Art den Cicerone, den Führer und Erklärer zu machen. Von ihm vernahmen wir die Geschichte der Trompete: wie man sie einst aus mehreren geraden Metallröhren mit Kugelverbindung habe zusammensetzen müssen, ehe man die Kunst erlernt habe, Messingrohre zu biegen, ohne daß sie zerrissen, nämlich indem man sie anfangs mit Pech und Kolophonium, später aber mit Blei ausgoß, das dann im Feuer wieder herausgeschmolzen wurde. Auch mochte er etwa die Behauptung der Wohlweisen erörtern, es sei ganz gleichgültig, aus welchem Material, ob Metall oder

60

Holz, ein Instrument hergestellt sei, es klinge, wie es seiner Formgattung, seiner Mensur nach klinge, und ob eine Flöte aus Holz oder Elfenbein, eine Trompete aus Messing oder Silber gebaut sei, mache nichts aus. Sein Meister, sagte er, Adrians zio, der sich als Geigenmacher auf die Bedeutung des Stoffes, der Holzart, des Lackes verstehe, bestreite das und mache sich anheischig, es einer Flöte sehr wohl abzuhören, woraus sie gemacht sei — er, Luca, erbiete sich übrigens auch dazu. Dann zeigte er uns wohl mit seinen kleinen, wohlgeformten Italienerhänden den Mechanismus der Flöte, der in den letzten hundertfünfzig Jahren, seit dem berühmten virtuoso Quantz, so große Veränderungen und Verbesserungen erfahren: denjenigen der Böhm'schen Zylinderflöte sowohl, die mächtiger, wie denjenigen der alten konischen, die süßer lautet. Er wies uns die Applikatur der Klarinette, des siebengelöcherten Fagotts mit seinen zwölf geschlossenen und vier offenen Klappen, dessen Klang so leicht mit dem der Hörner verschmilzt, belehrte uns über den Tonumfang der Instrumente, ihre Handhabung und dergleichen mehr.
Nun kann nachträglich kein Zweifel sein, daß Adrian den Demonstrationen von damals, ob er sich dessen nun bewußt war oder nicht, mit mindestens so viel Aufmerksamkeit folgte wie ich, — und mit mehr Nutzen, als mir je daraus zu ziehen gegeben war. Aber er ließ sich nichts merken, und keine Regung deutete auf ein Gefühl dafür, daß ihn dies alles etwas angehe oder je etwas angehen werde. Fragen an Luca zu richten, überließ er mir, ja, er ging wohl beiseite, sah etwas anderes an, als wovon gesprochen wurde, und ließ mich mit dem Gehilfen allein. Ich will nicht sagen, daß er sich verstellte, und vergesse nicht, daß die Musik zu jener Zeit noch kaum eine andere Wirklichkeit für uns hatte als eben die rein körperliche von Nikolaus Leverkühns Rüstkammern. Zwar waren wir flüchtig schon mit Kammermusik in Berührung gekommen: achtbis vierzehntäglich wurde sie bei Adrians Onkel, nur gelegentlich in meiner Gegenwart und keineswegs immer in seiner, geübt. Es fanden sich dazu unser Dom-Organist, Herr Wendell

61

Kretzschmar, ein Stotterer, der nur wenig später Adrians Lehrer werden sollte, ferner der Singemeister des Bonifatius-Gymnasiums ein, und mit ihnen exekutierte der Oheim ausgewählte Quartette von Haydn und Mozart, wobei er selber die Primgeige, Luca Cimabue die zweite, Herr Kretzschmar das Cello und der Gesangslehrer die Bratsche spielte. Es waren das Herrenunterhaltungen, bei denen man sein Bierglas neben sich am Boden stehen, wohl auch die Zigarre im Munde hatte, und die durch öfteres Zwischenreden, wie es sich in die Sprache der Töne hinein so sonderbar trocken und fremd ausnimmt, Aufklopfen des Bogens und Rückwärtszählen der Takte unterbrochen wurden, wenn man, fast immer durch die Schuld des Singemeisters, auseinandergekommen war. Ein wirkliches Konzert, ein Symphonie-Orchester hatten wir nie gehört, und das mag, wer da will, ausreichend finden als Erklärung von Adrians klarer Gleichgültigkeit gegen die Welt der Instrumente. Jedenfalls war er der Meinung, daß man es als ausreichend betrachten müsse, und sah es selbst als ausreichend an. Was ich sagen will, ist: er verbarg sich dahinter, verbarg sich vor der Musik. Lange, mit ahnungsvoller Beharrlichkeit, hat dieser Mensch sich vor seinem Schicksal verborgen.
Übrigens dachte noch lange niemand daran, Adrians junge Person mit der Musik in irgendwelche Gedankenverbindung zu bringen. Die Idee, er sei zum Gelehrten bestimmt, saß fest in allen Köpfen und erfuhr fortwährende Bekräftigung durch seine glänzenden Leistungen als Gymnasiast, seinen Primusstand, der erst in den höheren Klassen, etwa von Obersekunda an, als er fünfzehn war, in leises Schwanken geriet, und zwar der Migräne wegen, die sich zu entwickeln begann und ihn an der wenigen Vorbereitung hinderte, deren er bedurfte. Dennoch bewältigte er die Anforderungen der Schule mit Leichtigkeit — schon das Wort »bewältigen« ist nicht wohl gewählt, denn es kostete ihn nichts, ihnen Genüge zu tun, und wenn seine Vorzüglichkeit als Schüler ihm nicht die zärtliche Liebe der Lehrer eintrug — was sie nicht tat, ich habe es oft beobachtet, man merkte eher eine gewisse Gereiztheit, ja den Wunsch,

62

ihm Niederlagen zu bereiten —, so lag das nicht sowohl daran, daß man ihn für dünkelhaft gehalten hätte — oder doch, man hielt ihn dafür, aber nicht, weil man den Eindruck gehabt hätte, er bilde sich auf seine Leistungen allzuviel ein —, im Gegenteil, er bildete sich nicht genug darauf ein, und eben darin bestand sein Hochmut, denn spürbar richtete dieser sich gegen das, womit er so unschwer fertig wurde, gegen den Lehrstoff also, die unterschiedliche Fachkunde, deren Überlieferung die Würde und den Unterhalt der Lehrbeamten ausmachte, und die sie darum begreiflicherweise nicht mit überbegabter Lässigkeit abgetan zu sehen wünschten.
Für meine eigene Person stand ich viel herzlicher mit ihnen — kein Wunder, da ich mich ihnen ja bald beruflich anschließen sollte und diese Absicht auch schon mit Ernst zu erkennen gegeben hatte. Auch ich durfte mich einen guten Schüler nennen, aber ich war es nur und konnte es nur sein, weil ehrerbietige Liebe zur Sache, besonders zu den alten Sprachen und ihren klassischen Dichtern und Schriftstellern, meine Kräfte aufrief und spannte, während er bei jeder Gelegenheit merken ließ — will sagen: er machte vor mir kein Hehl daraus, und ich fürchtete mit Recht, daß es auch den Lehrern nicht verborgen blieb —, wie gleichgültig und sozusagen nebensächlich ihm das ganze Schulwesen war. Dies ängstigte mich oft — nicht um seiner Karriere willen, die dank seiner Facilität ungefährdet war, sondern weil ich mich fragte, was ihm denn also nicht gleichgültig und nicht nebensächlich sei. Ich sah die »Hauptsache« nicht, und wirklich war sie unerkennbar. In diesen Jahren ist das Schulleben das Leben selbst; es steht für dieses; seine Interessen schließen den Horizont, den jedes Leben braucht, um Werte zu entwickeln, an welchen, so relativ sie seien, der Charakter, die Fähigkeiten sich bewähren. Sie können das menschlicherweise aber nur, wenn die Relativität unerkannt bleibt. Der Glaube an absolute Werte, illusionär wie er immer sei, scheint mir eine Lebensbedingung. Meines Freundes Gaben dagegen maßen sich an Werten, deren Relativität ihm offen zu liegen schien, ohne daß eine Bezugsmöglichkeit sichtbar

63

gewesen wäre, die sie als Werte herabgesetzt hätte. Schlechte Schüler gibt es genug. Adrian aber bot das singuläre Phänomen des schlechten Schülers in Primusgestalt. Ich sage, daß mich das ängstigte; aber wie imponierend, wie anziehend erschien es mir doch auch wieder, wie verstärkte es meine Hingabe an ihn, der es freilich — wird man verstehen, warum? — auch etwas w;e Schmerz, wie Hoffnungslosigkeit beimischte.
Ich will eine Ausnahme zulassen an der Regel ironischer Geringschätzung, die er den Gaben und Ansprüchen der Schule entgegenbrachte. Es war sein augenscheinliches Interesse an einer Disziplin, in der ich mich wenig hervortat, der Mathematik. Meine eigene Schwäche auf diesem Felde, die nur durch freudige Tüchtigkeit im Philologischen leidlich kompensiert wurde, ließ mich so recht erkennen, daß vortreffliche Leistungen auf einem Gebiet natürlicherweise durch die Sympathie mit dem Gegenstande bedingt sind, und darum war es mir eine wahre Wohltat, diese Bedingung wenigstens hier auch bei meinem Freunde erfüllt zu sehen. Es nimmt ja die Mathese, als angewandte Logik, die sich dennoch im rein und hoch Abstrakten hält, eine eigentümliche Mittelstellung zwischen den humanistischen und den realistischen Wissenschaften ein, und aus den Erläuterungen, die Adrian mir gesprächsweise von dem Vergnügen gab, das sie ihm bereitete, ging hervor, daß er diese Zwischenstellung zugleich als erhöht, dominierend, universell empfand, oder, wie er sich ausdrückte, als »das Wahre«. Es war eine Herzensfreude, ihn etwas als »das Wahre« bezeichnen zu hören, es war ein Anker, ein Halt, nicht ganz vergebens mehr fragte man sich nach der »Hauptsache«. »Du bist ein Bärenhäuter«, sagte er damals zu mir, »das nicht zu mögen. Ordnungsbeziehungen anzuschauen ist doch schließlich das Beste. Die Ordnung ist alles. Römer dreizehn: >Was von Gott ist, das ist geordnete« Er errötete, und ich sah ihn groß an. Es stellte sich heraus, daß er religiös war.
Bei ihm mußte alles sich erst »herausstellen«, bei allem mußte man ihn betreffen, überraschen, ertappen, ihm hinter die Briefe kommen, — und dann errötete er, während man

64

selbst sich hätte vor den Kopf schlagen mögen, weil man das nicht längst gesehen. Auch dabei, daß er über Pflicht und Nötigung hinaus Algebra trieb, zum Vergnügen die Logarithmentafel handhabte, über Gleichungen zweiten Grades saß, bevor man noch von ihm verlangt hatte, potenzierte Unbekannte zu identifizieren, auch dabei betraf ich ihn nur durch Zufall, und er wollte erst schnöde davon reden, bevor er sich zu den obigen Äußerungen verstand. Eine andere Entdeckung, um nicht zu sagen: Entlarvung, war dieser bereits vorausgegangen; ich erwähnte sie schon im voraus: es war die seiner autodidaktischen und heimlichen Auskundschaftung der Klaviatur, der Akkordik, der Windrose der Tonarten, des Quintenzirkels, und daß er, ohne Notenkenntnis, ohne Fingersatz, diese harmonischen Funde zu allerlei Modulationsübungen und zum Aufbau rhythmisch recht unbestimmter melodischer Gebilde benutzte. Als ich's entdeckte, war er im Fünfzehnten. Nachdem ich ihn eines Nachmittags in seinem Zimmer vergebens gesucht, fand ich ihn vor einem kleinen Harmonium, das in einem Durchgangszimmer des Wohngeschosses seinen ziemlich unbeachteten Platz hatte. Eine Minute vielleicht hatte ich an der Tür stehend ihm zugehört, mißbilligte aber diesen Zustand und trat heran, indem ich ihn fragte, was er da treibe. Er ließ die Bälge ruhen, nahm die Hände vom Manuale und errötete lachend.
»Müßiggang«, sagte er, »ist aller Laster Anfang. Ich langweilte mich. Wenn ich mich langweile, bastle und stümpere ich hier zuweilen herum. Der alte Tretkasten steht so verlassen, hat aber bei aller Demut das Ganze in sich. Schau, es ist kurios, — das heißt, natürlich ist nichts Kurioses daran, aber wenn man es selber zum ersten Male so ausmacht, ist es kurios, wie das alles zusammenhängt und im Kreise herumführt.« Und er ließ einen Akkord ertönen, lauter schwarze Tasten, fis, ais, cis, fügte ein e hinzu und demaskierte dadurch den Akkord, der wie Fis-Dur ausgesehen hatte, als zu H-Dur gehörig, nämlich als dessen fünfte oder Dominant-Stufe. »So ein Zusammenklang«, meinte er, »hat an sich keine Tonart. Alles ist Beziehung, und die Beziehung bildet den Kreis.« Das a, welches, indem

65

es die Auflösung in gis erzwingt, von H- nach E-Dur überleitet, führte ihn weiter, und so kam er über A-, Dund G- nach C-Dur und in die mit Verminderungszeichen versehenen Tonarten, indem er mir demonstrierte, daß man auf einem jeden der zwölf Töne der chromatischen Leiter eine eigene Dur- oder Moll-Skala errichten könne.
»Übrigens sind das alte Geschichten«, sagte er. »Es ist länger her, daß mir das auffiel. Paß auf, wie man es feiner macht!« Und er fing an, mir Modulationen zwischen entlegeneren Tonarten zu zeigen, unter Ausnutzung der sogenannten Terzverwandtschaft, der Neapolitanischen Sext.
Nicht, daß er diese Dinge zu nennen gewußt hätte; aber er wiederholte:
»Beziehung ist alles. Und willst du sie näher bei Namen nennen, so ist ihr Name »Zweideutigkeit«.« Um dies Wort zu belegen, ließ er mich Akkord-Folgen von schwebender Tonart hören, demonstrierte mir, wie eine solche Folge in tonaler Schwebe zwischen C- und G-Dur bleibt, wenn man das f daraus wegläßt, das in G-Dur zum fis würde; wie sie das Ohr im Ungewissen hält, ob sie als C- oder F-Dur verstanden sein will, wenn man das h vermeidet, das sich in F-Dur zum b vermindert.
»Weißt du, was ich finde?« fragte er. »Daß Musik die Zweideutigkeit ist als System. — Nimm den Ton oder den. Du kannst ihn so verstehen oder beziehungsweise auch so, kannst ihn als erhöht auffassen von unten oder als vermindert von oben und kannst dir, wenn du schlau bist, den Doppelsinn beliebig zunutze machen.« Kurz, im Prinzip erwies er sich kundig der enharmonischen Verwechslung und nicht unkundig gewisser Tricks, wie man damit ausweicht und die Umdeutung zur Modulation benutzt.
Warum war ich mehr als überrascht, nämlich bewegt und auch ein wenig erschrocken? Er hatte erhitzte Wangen, wie er sie bei Schulaufgaben niemals, auch bei der Algebra nicht bekam.
Zwar bat ich ihn, mir doch noch etwas vorzuphantasieren, spürte aber etwas wie Erleichterung, als er es mir mit einem »Unsinn, Urisinn!« abschlug. Was für eine Erleichterung war

66

das? Sie hätte mich lehren können, wie stolz ich auf seine allgemeine Gleichgültigkeit gewesen war, und wie deutlich ich spürte, daß in seinem »Es ist kurios« diese Gleichgültigkeit zur Maske wurde. Ich ahnte eine keimende Leidenschaft, — eine Leidenschaft Adrians! Hätte ich mich freuen sollen? Statt dessen war es mir auf eine Weise beschämend und ängstlich.
Daß er, wenn er sich ohne Zeugen glaubte, musikalisch laborierte, wußte ich nun, und bei dem exponierten Standort des Instruments konnte das auch nicht lange Geheimnis bleiben. Eines Abends sagte sein Pflegevater zu ihm:
»Nun, Neffe, was man da heut von dir hörte, darin hast du dich nicht zum ersten Male geübt.«
»Wie meinst du, Onkel Niko?«
»Wende nicht Unschuld vor! Du musizierst ja.«
»Was für ein Ausdruck!«
»Der hat schon für Dümmeres herhalten müssen. Wie du da so von F- nach A-Dur kamst, das war ganz durchtrieben. Macht es dir Spaß?«
»Ach, Onkel.«
»Nun, offenbar. Ich will dir was sagen. Wir wollen doch die alte Kommode, die ohnedies niemand ansieht, zu dir hinauf ins Zimmer stellen. Da ist sie dir dann zur Hand, wann immer du Lust hast.«
»Du bist furchtbar freundlich, Onkel, aber es ist gewiß der Mühe nicht wert.«
»Die Mühe ist so gering, daß vielleicht das Vergnügen immer noch größer ist. Noch eins, Neffe. Du solltest Klavierstunden nehmen.«
»Meinst du, Onkel Niko? Klavierstunden? Ich weiß nicht, es klingt so nach >höherer Tochter<.«
»Könnte ja >höher< sein und dabei nicht gerade >Tochter<. Wenn du zu Kretzschmar gehst, wird es so was sein. Er wird uns die Hosen nicht ausziehen dafür, aus alter Freundschaft, und du kriegst ein Fundament für deine Luftschlösser. Ich will mit ihm reden.«
Wörtlich gab Adrian mir dies Gespräch auf dem Schulhofe wieder. Von nun an hatte er zweimal die Woche Unterricht bei Wendell Kretzschmar.

67

VIII

Wendell Kretzschmar, damals noch jung, höchstens zweite Hälfte Zwanzig, war von deutsch-amerikanischen Eltern im Staate Pennsylvania gebürtig und hatte seine musikalische Ausbildung im Lande seiner Herkunft empfangen. Aber zeitig schon hatte es ihn in die Alte Welt, von wo seine Großeltern einst ausgewandert, und wo, wie seine eigenen, so auch die Wurzeln seiner Kunst lagen, zurückgezogen, und er war im Zuge eines Wanderlebens, dessen Stationen und Aufenthalte selten länger als ein bis zwei Jahre dauerten, als Organist zu uns nach Kaisersaschern gekommen, — es war nur eine Episode, denen andere vorangegangen waren (denn er hatte vorher an kleinen Stadttheatern des Reiches und der Schweiz als Kapellmeister gewirkt) und denen weitere nachfolgen sollten. Auch trat er als Komponist von Orchesterstücken hervor und brachte eine Oper, >Das Marmorbild<, zur Aufführung, die über mehrere Bühnen ging und freundliche Aufnahme fand.
Von unscheinbarem Äußeren, ein untersetzter Mann mit Rundschädel, einem gestutzten Schnurrbärtchen und gern lachenden braunen Augen von bald sinnendem, bald springendem Blick, hätte er für das geistige, kulturelle Leben von Kaisersaschern einen wahren Gewinn bedeuten können, wenn eben ein solches Leben überhaupt vorhanden gewesen wäre. Sein Orgelspiel war gelehrt und prächtig, aber an den Fingern einer Hand waren diejenigen herzuzählen, die es in der Gemeinde zu würdigen wußten. Immerhin zogen die frei zugänglichen nachmittäglichen Kirchenkonzerte, bei denen er Orgelmusik von Michael Prätorius, Froberger, Buxtehude und natürlich Sebastian Bach, auch allerlei kuriose und genrehafte Kompositionen aus der Epoche zwischen Händeis und Haydns Blütezeiten zum besten gab, eine ziemliche Menge an, und Adrian

68

und ich wohnten ihnen regelmäßig bei. Ein völliger Fehlschlag dagegen, wenigstens äußerlich gesehen, waren die Vorträge, die er im Saal der Gesellschaft für gemeinnützige Thätigkeit< eine Saison hindurch unverdrossen abhielt, und die er mit Erläuterungen am Klavier, dazu mit Kreide-Demonstrationen auf der Staffelei-Tafel begleitete. Ein Mißerfolg waren sie erstens, weil unsere Bevölkerung für Vorträge grundsätzlich nichts übrig hatte, zweitens weil seine Themen auch noch wenig populär, vielmehr kapriziös und ausgefallen waren, und drittens, weil sein Stotterleiden das Zuhören zu einer aufregenden und klippenvollen Fahrt machte, beängstigend teils, teils zum Lachen reizend und geeignet, die Aufmerksamkeit von dem geistig Gebotenen völlig abzulenken und sie in ein ängstlich gespanntes Warten auf das nächste konvulsivische Festsitzen zu verwandeln.
Es war ein besonders schwer und exemplarisch ausgebildetes Stottern, dem er unterlag, — tragisch, weil er ein Mann von großem, drängendem Gedankenreichtum war, der mitteilenden Rede leidenschaftlich zugetan. Auch glitt sein Schiff lein streckenweise geschwind und tänzelnd, mit der unheimlichen Leichtigkeit, die das Leiden verleugnen und in Vergessenheit bringen möchte, auf den Wassern dahin; aber unfehlbar von Zeit zu Zeit, mit Recht von jedermann fortwährend gewärtigt, kam der Augenblick des Auffahrens, und auf die Folter gespannt, mit rot anschwellendem Gesicht, stand er da: sei es, daß ein Zischlaut ihn hemmte, den er mit in die Breite gezerrtem Munde, das Geräusch einer dampflassenden Lokomotive nachahmend, aushielt, oder daß im Ringen mit einem Labiallaut seine Wangen sich aufblähten, seir\e Lippen sich im platzenden Schnellfeuer kurzer, lautloser Explosionen ergingen; oder endlich auch einfach, daß plötzlich seine Atmung in heillos hapernde Unordnung geriet und er trichterförmigen Mundes nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen — mit den gefeuchteten Augen dazu lachend, das ist wahr, er selbst schien die Sache heiter zu nehmen, aber nicht für jedermann war das ein Trost, und im Grunde war es dem Publikum nicht zu

69

verargen, daß es diese Vorlesungen mied: mit dem Grade von Einmütigkeit, daß tatsächlich mehrmals nur etwa ein halbes Dutzend Zuhörer das Parterre belebte, nämlich außer meinen Eltern, Adrians Onkel, dem jungen Cimabue und uns beiden nur noch ein paar Elevinnen der höheren Töchterschule, die es an Gekicher während der Hemmungszustände des Sprechers nicht fehlen ließen.
Dieser wäre bereit gewesen, die Unkosten für Saal und Beleuchtung, die durch die Eintrittsgelder keineswegs gedeckt wurden, aus eigener Tasche zu bestreiten, aber mein Vater und Nikolaus Leverkühn hatten es im Vorstande durchgesetzt, daß die Gesellschaft für das Defizit aufkam, oder vielmehr auf die Miete verzichtete, mit der Begründung, daß die Vorträge bildungswichtig und dem Gemeinnutzen dienlich seien. Das war eine freundschaftliche Begünstigung, denn über den Gemeinnutz ließ sich streiten, schon weil die Gemeinde ausblieb, was aber, wie gesagt, zum Teil auch auf das allzu Spezielle der behandelten Gegenstände zurückzuführen war. Wendell Kretzschmar huldigte dem Grundsatz, den wir wiederholt aus seinem zuerst von der englischen Sprache geformten Munde vernahmen, daß es nicht auf das Interesse der anderen, sondern auf das eigene ankomme, also darauf, Interesse zu erregen, was nur geschehen könne, dann aber auch mit Sicherheit geschehe, wenn man sich selbst für eine Sache von Grund aus interessiere und also, indem man davon spreche, schwerlich umhinkönne, andere in dies Interesse hineinzuziehen, sie damit anzustecken und so ein gar nicht vorhanden gewesenes, ein ungeahntes Interesse zu creieren, was viel besser lohne, als einem schon bestehenden gefällig zu sein.
Es war sehr zu bedauern, daß unser Publikum ihm fast keine Gelegenheit gewährte, seine Theorie zu erproben. Bei uns wenigen, die wir in der gähnenden Leere des alten Saales mit den numerierten Stühlen zu seinen Füßen saßen, bewährte sie sich vollkommen, denn er fesselte uns mit Dingen, von denen wir nie gedacht hätten, daß sie so unsere Aufmerksamkeit hinnehmen könnten, und selbst sein furchtbares Stottern wirkte am

70

Ende dabei nur als erregend bannender Ausdruck seines Eifers. Öfters nickten wir alle zusammen ihm tröstlich zu, wenn die Kalamität sich ereignete, und einer oder der andere der Herren ließ wohl auch ein beruhigend zusprechendes »So, so«, »Schon gut«, oder »Macht nichts!« vernehmen. Dann löste sich unter einem heiter entschuldigenden Lächeln die Lähmung, und in auch wieder nicht geheurer Flottheit ging es eine Weile dahin.
Worüber er sprach? Nun, der Mann war imstande, eine ganze Stunde der Frage zu widmen, »warum Beethoven zu der Klaviersonate Opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe«,— ein besprechenswerter Gegenstand ohne Zweifel. Aber man denke sich die Anzeige angeschlagen am Hause der Gemeinnützigen Thätigkeit<, eingerückt in die Kaisersaschener >Eisenbahnzeitung<, und frage sich dann nach dem Maß von öffentlicher Neugier, die sie erregen konnte. Man wollte schlechterdings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe. Wir, die wir uns zu der Erörterung einfanden, hatten freilich einen ungemein bereichernden Abend, und dies, obgleich uns die in Rede stehende Sonate bis dato ganz unbekannt gewesen war. Jedoch lernten wir sie durch diese Veranstaltung eben kennen, und zwar sehr genau, da Kretzschmar sie auf dem recht minderen Pianino, das ihm zur Verfügung stand (ein Flügel war nicht bewilligt worden), vortrefflich, wenn auch mit schollerndem Klange, zu Gehör brachte, zwischendurch aber ihren seelischen Inhalt, mit Beschreibung der Lebensumstände, unter denen sie — nebst zwei anderen — verfaßt worden, mit großer Eindringlichkeit analysierte und sich mit kaustischem Witz über des Meisters eigene Erklärung erging, warum er auf einen dritten, mit dem ersten korrespondierenden Satz hier verzichtet habe. Er hatte nämlich dem Famulus auf seine Frage geantwortet, daß er keine Zeit gehabt und darum lieber den zweiten etwas länger ausgedehnt habe. Keine Zeit! Und mit »Gelassenheit« hatte er es auch noch geäußert. Die in solcher Antwort liegende Geringschätzung des Fragers war offenbar nicht bemerkt worden, aber sie war gerechtfertigt durch die Frage. Und nun schilderte der Redner Beethovens Zustand um das Jahr

71

1820, als sein Gehör, von einer unhemmbaren Auszehrung befallen, schon in fortschreitender Verödung begriffen gewesen war und bereits sich herausgestellt hatte, daß er Aufführungen der eigenen Werke zu leiten fortan nicht mehr imstande sei. Er erzählte uns, wie damals das Gerücht, der berühmte Autor sei völlig ausgeschrieben, seine Produktionskraft erschöpft, er beschäftige sich, zu größeren Arbeiten unfähig, wie der alte Haydn nur noch damit, schottische Lieder aufzuschreiben, immer mehr an Boden gewonnen habe, weil nämlich seit einigen Jahren schon kein Werk von Bedeutung, das seinen Namen trug, mehr auf den Markt gekommen war. Allein im Spätherbst von Mödling, wo er den Sommer verbracht, nach Wien zurückgekehrt, habe der Meister sich niedergesetzt und jene drei Kompositionen für das Pianoforte, sozusagen ohne nur einmal vom Notenpapier aufzusehen, in einem Zuge niedergeschrieben, auch seinem Gönner, dem Grafen Brunswick, davon Meldung gemacht, um ihn über seinen Geisteszustand zu beruhigen. Und dann sprach Kretzschmar über die Sonate in c-Moll, die als in sich gerundetes und seelisch geordnetes Werk zu verstehen freilich nicht leicht sei und der zeitgenössischen Kritik wie auch den Freunden eine harte ästhetische Nuß zu knacken gegeben habe: wie denn, so sagte er, diese Freunde und Bewunderer dem Verehrten über den Gipfel hinaus, auf den er zur Zeit seiner Reife die Symphonie, die Klaviersonate, das Streichquartett der Klassik geführt, schlechthin nicht hätten folgen können und bei den Werken der letzten Periode schweren Herzens vor einem Prozeß der Auflösung, der Entfremdung, des Entsteigens ins nicht mehr Heimatliche und Geheure, vor einem plus ultra eben, gestanden hätten, worin sie nichts anderes mehr als eine Ausartung immer vorhanden gewesener Neigungen, einen Exzeß an Grübelei und Spekulation, ein Übermaß an Minutiosität und musikalischer Wissenschaftlichkeit zu erblicken vermocht hätten, — angewandt bisweilen auf einen so einfachen Stoff wie das Arietta-Thema des ungeheuren Variationensatzes, der den zweiten Teil dieser Sonate bilde. Ja, ebenso wie das durch hundert Schicksale, hundert Welten

72

rhythmischer Kontraste gehende Thema dieses Satzes sich selbst überwachse und endlich in schwindelnden Höhen, die man jenseitig nennen mochte oder abstrakt, sich verliere, — ebenso habe Beethovens Künstlertum sich selbst überwachsen: aus wohnlichen Regionen der Überlieferung sei es vor erschrocken nachblickenden Menschenaugen in Sphären des ganz und gar nur noch Persönlichen aufgestiegen, — ein in Absolutheit schmerzlich isoliertes, durch die Ausgestorbenheit seines Gehörs auch noch vom Sinnlichen isoliertes Ich, der einsame Fürst eines Geisterreichs, von dem nur noch fremde Schauer selbst auf die willigsten Zeitgenossen ausgegangen seien, und in dessen erschreckende Botschaften sie nur noch augenblicks-, nur ausnahmsweise sich zu finden gewußt hätten.
So weit, so richtig, sagte Kretzschmar. Und richtig doch auch wieder nur bedingungsweis und auf ungenügende Art. Denn mit der Idee des nur Persönlichen verbinde man diejenige der schrankenlosen Subjektivität und des radikalen harmonischen Ausdruckswillens im Gegensatz zur polyphonischen Objektivität (er wünschte, wir möchten uns den Unterschied einprägen: harmonische Subjektivität, polyphonische Sachlichkeit), — und diese Gleichung, dieser Gegensatz wollten hier, wie beim meisterlichen Spätwerk überhaupt, nicht stimmen. Tatsächlich sei Beethoven in seiner Mittelzeit weit subjektivistischer, um nicht zu sagen: weit »persönlicher« gewesen als zuletzt; weit mehr sei er damals bedacht gewesen, alles Konventionelle, Formel- und Floskelhafte, wovon die Musik ja voll sei, vom persönlichen Ausdruck verzehren zu lassen, es in die subjektive Dynamik einzuschmelzen. Das Verhältnis des späten Beethoven, etwa in den fünf letzten Klaviersonaten, zum Konventionellen sei bei aller Einmaligkeit und selbst Ungeheuerlichkeit der Formensprache ein ganz anderes, viel läßlicheres und geneigteres. Unberührt, unverwandelt vom Subjektiven trete die Konvention im Spätwerk öfters hervor, in einer Kahlheit oder, man möge sagen, Ausgeblasenheit, IchVerlassenheit, welche nun wieder schaurig-majestätischer wirke als jedes persönliche Wagnis. In diesen Gebilden, sagte der

73

Redner, gingen das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis, bestimmt vom Tode.
Bei diesem Wort stotterte Kretzschmar heftig; festhängend am Anfangslaut, vollführte seine Zunge am Gaumen eine Art von Maschinengewehrfeuer, wobei Kiefer und Kinn mitwirbelten, ehe sie Ruhestand fanden in dem Vokal, der das Gemeinte erraten ließ. Als aber das Wort erkannt war, schien es nicht recht danach angetan, daß man es ihm abnähme, es ihm, wie man sonst zuweilen tat, jovial und hilfreich zuriefe. Er mußte es selbst zustande bringen, und er tat es. Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche, das doch schon die Überhöhung einer zum Gipfel geführten Tradition gewesen sei, sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.
Er fragte nicht, ob wir das verstünden, und auch wir fragten uns nicht danach. Wenn er meinte, die Hauptsache sei, daß wir es hörten, so teilten wir vollkommen diese Ansicht. Im Lichte des Gesagten, fuhr er fort, habe man das Werk, von dem er im besonderen spreche, die Sonate opus 111, zu betrachten. Und dann setzte er sich an das Pianino und spielte uns aus dem Kopf die ganze Komposition, den ersten und den ungeheueren zweiten Satz in der Weise vor, daß er seine Kommentare beständig in das eigene Spiel hineinrief und, um uns auf die Führung recht aufmerksam zu machen, zwischendurch begeisterungsvoll-demonstrativ mitsang, was alles zusammen einen teilweise hinreißenden, teilweise komischen und von dem kleinen Auditorium wiederholt auch mit Heiterkeit aufgenommenen Spektakel ergab. Denn da er einen sehr starken Anschlag hatte und im Forte gewaltig auftrug, mußte er überlaut schreien, um seine Zwischenreden halbwegs verständlich zu machen, und mit höchstem Stimmaufwand singen, um das Vorgeführte noch vokal zu unterstreichen. Mit dem Munde ahmte er nach, was die Hände spielten. Bum, bum — Wum, wum — Schrum, schrum, machte er bei den grimmig auffahrenden Anfangs

74

akzenten des ersten Satzes und sang in der hohen Fistel die Passagen melodischer Lieblichkeit mit, von denen der zerwühlte Sturmhimmel des Stückes zuweilen wie von zarten Lichtblicken erhellt ist. Schließlich legte er die Hände in den Schoß, ruhte einen Augenblick aus und sagte: »Jetzt kommt's.« Er begann den Variationensatz, das >Adagio molto semplice e cantabile<.
Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und spricht sich in sechzehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt, — drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: »Himmelsblau« oder: »Lie-besleid« oder: »Leb'-mir wohl« oder: »Der-maleinst« oder: »Wie-sengrund«, — und das ist alles. Was sich mit dieser sanften Aussage, dieser schwermütig stillen Formung nun in der Folge rhythmisch-harmonisch-kontrapunktisch begibt, womit ihr Meister sie segnet und wozu er sie verdammt, in welche Nächte und Überhelligkeiten, Kristallsphären, worin Kälte und Hitze, Ruhe und Ekstase ein und dasselbe sind, er sie stürzt und erhebt, das mag man wohl weitläufig, wohl wundersam, fremd und exzessiv großartig nennen, ohne es doch damit namhaft zu machen, weil es recht eigentlich namenlos ist; und Kretzschmar spielte uns mit arbeitenden Händen all diese ungeheueren Wandlungen, indem er aufs heftigste mitsang: »Dim-dada«, und laut hineinredete: »Die Trillerketten!« schrie er. »Die Fiorituren und Kadenzen! Hören Sie die stehengelassene Konvention? Da — wird — die Sprache — nicht mehr von der Floskel — gereinigt, sondern die Floskel — vom Schein — ihrer subjektiven — Beherrschtheit — der Schein — der Kunst wird abgeworfen — zuletzt — wirft immer die Kunst —den Schein der Kunst ab. Dim —dada! Bitte zu hören, wie hier — die Melodie vom Eigengewicht — der Akkorde überwogen wird! Sie wird statisch, sie wird monoton — zweimal d, dreimal d hintereinander — die Akkorde machen es — Dim — dada! Bitte nun achtzugeben, was hier passiert —«

75

Es war außerordentlich schwer, zugleich auf sein Geschrei und auf die hoch verwickelte Musik zu hören, in die er es mischte. Wir versuchten es alle angestrengt, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien, indem wir abwechselnd auf seine Hände und seinen Mund blickten. Das Charakteristikum des Satzes ist ja das weite Auseinander von Baß und Diskant, von rechter und linker Hand, und ein Augenblick kommt, eine extremste Situation, wo das arme Motiv einsam und verlassen über einem schwindelnd klaffenden Abgrund zu schweben scheint, — ein Vorgang bleicher Erhabenheit, dem alsbald ein ängstlich Sichklein-Machen, ein banges Erschrecken auf dem Fuße folgt, darüber gleichsam, daß so etwas geschehen konnte. Aber noch viel geschieht, bevor es zu Ende geht. Wenn es aber zu Ende geht und indem es zu Ende geht, begibt sich etwas nach so viel Ingrimm, Persistenz, Versessenheit und Verstiegenheit in seiner Milde und Güte völlig Unerwartetes und Ergreifendes. Mit dem vielerfahrenen Motiv, das Abschied nimmt und dabei selbst ganz und gar Abschied, zu einem Ruf und Winken des Abschieds wird, mit diesem d-g-g geht eine leichte Veränderung vor, es erfährt eine kleine melodische Erweiterung. Nach einem anlautenden c nimmt es vor dem d ein eis auf, so daß es nun nicht mehr »Him-melsblau« oder »Wie-sengrund«, sondern »O — du Himmelsblau«, »Grü-ner Wiesengrund«, »Leb' —mir ewig wohl« skandiert; und dieses hinzukommende eis ist die rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt. Es ist wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar, über die Wange, ein stiller, tiefer Blick ins Auge zum letzten Mal. Es segnet das Objekt, die furchtbar umgetriebene Formung mit überwältigender Vermenschlichung, legt sie dem Hörer zum Abschied, zum ewigen Abschied so sanft ans Herz, daß ihm die Augen übergehen. »Nun ver-giß der Qual!« heißt es. »Groß war — Gott in uns.« »Alles — war nur Traum.« »Bleib mir — hold gesinnt.« Dann bricht es ab. Schnelle, harte Triolen eilen zu einer beliebigen Schlußwendung, mit der auch manch anderes Stück sich endigen könnte.

76

Kretzschmar kehrte danach gar nicht mehr vom Pianino zum Rednerpult zurück. Er blieb, uns zugewandt, auf seinem Drehsessel sitzen, in der gleichen Haltung wie wir, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien, und führte so mit wenigen Worten seinen Vortrag über die Frage zu Ende, warum Beethoven zu Opus 111 keinen dritten Satz geschrieben. Wir hätten, sagte er, das Stück nur zu hören brauchen, um uns die Frage selbst beantworten zu können. Ein dritter Satz? Ein neues Anheben — nach diesem Abschied? Ein Wiederkommen — nach dieser Trennung? Unmöglich! Es sei geschehen, daß die Sonate im zweiten Satz, diesem enormen, sich zu Ende geführt habe, zu Ende auf Nimmerwiederkehr. Und wenn er sage: »Die Sonate«, so meine er nicht diese nur, in c-Moll, sondern er meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt, ihr Ziel erreicht, über das hinaus es nicht gehe, sie hebe und löse sich auf, sie nehme Abschied, — das Abschiedswinken des vom eis melodisch getrösteten d-g-g-Motivs, es sei ein Abschied auch dieses Sinnes, ein Abschied, groß wie das Stück, der Abschied von der Sonate.
Damit ging Kretzschmar, von dünnem, aber anhaltendem Beifall begleitet, und wir gingen auch, nicht wenig nachdenklich, von Neuigkeiten beschwert. Die meisten, wie das zu sein pflegt, sangen beim Aufnehmen der Mäntel und Hüte und beim Verlassen des Hauses die Einprägung des Abends, das themabildende Motiv des zweiten Satzes, in seiner ursprünglichen und in seiner Abschied nehmenden Gestalt, benommen vor sich hin, und noch längere Zeit hörte man aus entfernteren Gassen, in die die Zuhörer sich zerstreut, nächtlich stillen und widerhallenden Gassen der Kleinstadt, das »Leb'—mir wohl«, »Leb' mir — ewig wohl«, »Groß war — Gott in uns« echohaft herüberschallen. —
Es war nicht das letzte Mal, daß wir den Stotterer über Beethoven gehört hatten. Bald schon sprach er wieder über ihn, diesmal unter dem Titel >Beethoven und die Fuge<. Auch dieses Themas erinnere ich mich genau und sehe es noch als

77

Annonce vor mir, wohl begreifend, daß es sowenig wie das andere danach angetan war, im Saal der >Gemeinnützigen< ein lebensgefährliches Gedränge zu erzeugen. Unser Grüppchen aber hatte auch von diesem Abend den entschiedensten Genuß und Gewinn. Immer nämlich, so hörten wir, hatten die Neider und Gegner des verwegenen Neuerers behauptet, Beethoven könne keine Fuge schreiben. »Das kann er nun einmal nicht«, hatten sie gesagt und wohl gewußt, was sie damit aussprachen, da diese ehrwürdige Kunstform damals noch in hohen Ehren gestanden und kein Komponist vor dem musikalischen Gerichtshof Gnade gefunden noch den auftraggebenden Potentaten und großen Herren der Zeit genuggetan habe, wenn er nicht auch in der Fuge perfekt seinen Mann gestanden. So sei der Fürst Esterhazy ein ausnehmender Freund dieser Meisterkunst gewesen, aber in der Messe in C, die Beethoven für ihn geschrieben, sei der Compositeur über erfolglose Anläufe zu einer Fuge nicht hinausgekommen, was schon rein gesellschaftlich eine Unhöflichkeit, künstlerisch aber ein unverzeihliches Manko gewesen sei; und das Oratorium >Christus am Ölberg< habe überhaupt jeder fugierten Arbeit ermangelt, obgleich sie auch darin aufs höchste am Platze gewesen wäre. Ein so schwacher Versuch wie die Fuge im dritten Quartett aus Opus 59 war nicht danach beschaffen, die Behauptung zu widerlegen, daß der große Mann ein schlechter Kontrapunktiker sei, — in welcher die maßgebend musikalische Welt durch die fugierten Stellen im Trauermarsch der Eroica und im Allegretto der A-Dur-Symphonie nur hatte bestärkt werden können. Und nun der Schlußsatz der Cello-Sonate in D, opus 102, »Allegro fugato« genannt! Das Geschrei und Fäusteschütteln, erzählte Kretzschmar, sei groß gewesen. Unklar bis zur Ungenießbarkeit habe man das Ganze gescholten, aber mindestens zwanzig Takte lang, habe es geheißen, herrsche eine so skandalöse Verwirrung — hauptsächlich infolge überstark gefärbter Modulationen —, daß man danach die Akten über die Unfähigkeit des Mannes zum strengen Stil beruhigt schließen könne.

78

Ich unterbreche mich in meiner Wiedergabe, nur, um aufmerksam zu machen, daß der Vortragende da von Dingen, Angelegenheiten, Kunstverhältnissen sprach, die noch gar nicht in unseren Gesichtskreis fielen und nur am Rande desselben erst durch sein immerfort gefährdetes Sprechen schattenhaft für uns auftauchten; daß wir ihn nicht zu kontrollieren vermochten außer durch seine eigenen erläuterten Vorführungen am Pianoforte, und dem allen mit der dunkel erregten Phantasie von Kindern zuhörten, die Märchen lauschen, welche sie nicht verstehen, während ihr zarter Geist sich doch auf eine eigentümlich traumhaft ahnungsvolle Weise dadurch bereichert und gefördert sieht. »Fuge«, »Kontrapunkt«, »Eroica«, »Verwirrung durch überfärbte Modulationen«, »strenger Stil«,— das war im Grunde alles noch Märchengeraun für uns, aber wir hörten es so gern und mit so großen Augen, wie Kinder das Unverständliche, eigentlich noch ganz Unzukömmliche hören — und zwar mit viel mehr Vergnügen, als das Nächste, Wohlentsprechende, Angemessene ihnen gewährt. Will man glauben, daß dies die intensivste und stolzeste, vielleicht förderlichste Art des Lernens ist — das antizipierende Lernen, das Lernen über weite Strecken von Unwissenheit hinweg? Als Pädagoge sollte ich ihm wohl nicht das Wort reden, aber ich weiß nun einmal, daß die Jugend es außerordentlich bevorzugt, und ich meine, der übersprungene Raum füllt sich auch mit der Zeit wohl von selber aus.
Beethoven also, so hörten wir, hatte in dem Ruf gestanden, keine Fuge schreiben zu können, und nun fragte es sich, wieweit diese boshafte Nachrede die Wahrheit traf. Offenbar war er bemüht gewesen, sie zu entkräften. Mehrmals hatte er in seine nachfolgende Klaviermusik Fugen eingelegt, und zwar dreistimmige: in die Hammerklaviersonate sowohl wie in die, die aus As-Dur geht. Das eine Mal hatte er hinzugefügt: »Mit einigen Freiheiten«, zum Zeichen, daß ihm die Regeln, gegen die er verstoßen hatte, sehr wohl bekannt waren. Warum er sie vernachlässigt hatte, ob aus Absolutismus oder weil er mit ihnen nicht fertiggeworden war, blieb eine Streitfrage. Doch

79

freilich, dann sei die große Fugen-Ouvertüre opus 124, es seien die majestätischen Fugen im Gloria und Credo der Missa solemnis gekommen: zum Beweise endlich denn doch, daß auch im Kampfe mit diesem Engel der große Ringer Sieger geblieben, mochte er gleich aus der Hüfte lahmend daraus hervorgegangen sein.
Kretzschmar erzählte uns eine schauerliche Geschichte, die uns von der heiligen Schwere dieses Kampfes und von der Person des heimgesuchten Schöpfers ein ungeheuerlich-unauslöschliches Bild einprägte. Es war im Hochsommer 1819 gewesen, zu der Zeit, als Beethoven im Hafnerhause zu Mödling an der Missa arbeitete, verzweifelt darüber, daß jeder Satz viel länger ausfiel, als vorauszusehen gewesen, so daß der Termin der Fertigstellung, das heißt der Märztag nächsten Jahres, auf den die Installation des Erzherzogs Rudolf als Erzbischof von Olmütz angesetzt war, unmöglich würde eingehalten werden können, — es war damals, daß zwei Freunde und Adepten ihn eines Nachmittags dort aufgesucht und schon beim Eintritt ins Haus Erschreckendes erfahren hatten. Am selben Morgen nämlich waren die beiden Mägde des Meisters auf und davon gegangen, da es die Nacht zuvor, gegen ein Uhr, einen wilden, das ganze Haus aus dem Schlummer reißenden Auftritt gegeben hatte. Der Herr hatte gewerkt, den Abend bis tief in die Nacht, am Credo, am Credo mit der Fuge, und nicht des Abendessens gedenken wollen, das auf dem Herde stand, bei welchem die immer vergebens wartenden Dienerinnen, von der Natur überwältigt, endlich eingeschlafen waren. Als nun der Meister zwischen der zwölften und ersten Stunde zu essen verlangt, hatte er die Mägde denn also schlafend, die Speisen aber verdorrt und verkohlt gefunden und war darüber in den allerheftigsten, das nächtliche Haus um so weniger schonenden Zorn ausgebrochen, als er selbst seine Lautheit nicht hörte. »Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?« hatte er immer wieder gedonnert. Es waren aber der Stunden fünf, sechs gewesen, und die gekränkten Mädchen hatten bei Tagesgrauen das Weite gesucht, einen so ungebärdigen Herren sich selbst

80

überlassend, der denn also heute kein Mittagessen gehabt, seit vorigen Mittag überhaupt nichts genossen hatte. Statt dessen arbeitete er drinnen in seinem Zimmer, am Credo, am Credo mit der Fuge, — die Jünger hörten es durch die verschlossene Tür, wie er arbeitete. Der Taube sang, heulte und stampfte über dem Credo, — es war so schaurig ergreifend zu hören, daß den an der Tür Lauschenden das Blut in den Adern gefror. Da sie sich aber eben in tiefer Scheu hatten entfernen wollen, war jäh die Tür aufgegangen, und Beethoven hatte in ihrem Rahmen gestanden, — welchen Ansehens? Des schrecklichsten! In verwahrloster Kleidung, die Gesichtszüge so verstört, daß es Angst einflößte, die lauschenden Augen voll wirrer Abwesenheit, hatte er sie angestarrt und den Eindruck gemacht, als komme er aus einem Kampf auf Leben und Tod mit allen feindlichen Geistern des Kontrapunkts. Er hatte Ungereimtes gestammelt zunächst und war dann in klagendes Schelten ausgebrochen über die saubere Wirtschaft bei ihm, daß alles davongelaufen, daß man ihn hungern lasse. Sie hatten ihn zu besänftigen gesucht, der eine war ihm bei der Toilette behilflich gewesen, der andere gelaufen, im Wirtshaus eine restaurierende Mahlzeit bereitzustellen . . . Erst drei Jahre später war die Messe fertig geworden.
Wir kannten sie nicht, wir hörten eben nur von ihr. Aber wer wollte leugnen, daß es bildend sein kann, von unbekannter Größe auch nur zu hören? Allerdings hängt vieles ab von der Art, wie davon gesprochen wird. Aus Wendell Kretzschmars Vorlesung nach Hause gehend, hatten wir das Gefühl, die Missa gehört zu haben, zu welcher Illusion nicht wenig das Bild des übernächtigen und ausgehungerten Meisters im Türrahmen beitrug, das er uns eingeprägt hatte.
Auch das »Monstrum aller Quartett-Musik«, auf das er danach zu sprechen kam, von den fünf letzten eines, in sechs Sätzen, das vier Jahre nach Vollendung der Missa zuerst aufgeführt worden war, kannten wir nicht, da es viel zu schwer war, als daß man sich bei Nikolaus Leverkühn hatte daran wagen können; und doch hörten wir Kretzschmar unter Herzklopfen darüber sprechen, - mit vager Ergriffenheit nämlich von dem Gegensatz zwischen den hohen Ehren, in denen, wie wir wußten, heutzutage auch dieses Werk stand, und der Pein, der trauernden oder erbitterten Ratlosigkeit, in die es die Zeitgenossen, auch die Getreuesten, Liebend-Gläubigsten, gestürzt hatte. Daß die Verzweiflung in erster Linie, wenn auch keineswegs ausschließlich, der Final-Fuge gegolten hatte, war der Grund, weshalb Krelzschmar im Zusammenhing dieses Vortrags darauf zu sprechen kam. Es war ein furchtbares Stück gewesen für das gesunde Gehörorgan der Zeit, das sich sträubte, zu hören, was der Autor nicht hören mußte, sondern nur im Lautlosen auszusinnen sich erkühnt hatte: nämlich ein wildes Handgemenge ins Höchste und Tiefste verirrter, völlig verschieden figurierter, einander durch irregulären Obergang unter teuflischen Dissonanzen durchkreuzender Instrumentalstimmen, bei dem die Ausübenden, ihrer selbst und der ganzen Sache nicht sicher, auch wohl auch nicht ganz rein gegriffen und so die babylonische Verwirrung vollendet hatten. Erschütternd nannte es der Redner, wie hier das sinnliche Gebrechen die geistige Kühnheit gesteigert und der Zukunft den Schönheitssinn vorgeschrieben habe. Aber nicht ohne Byzantinismus, meinte er, gehe es denn doch wohl ab, wenn wir Heutigen in diesem Stück, das dann übrigens auf Dringen des Verlegers vom Werk separiert und durch einen Finalsatz im freien Stil ersetzt worden sei, — wenn wir nichts als klarste, wohlgefälligste Form darin zu erblicken vorgäben. Er wollte auch kühn sein, erklärte er, und sich den Mund verbrennen, indem er behaupte, daß etwas wie Haß und Vergewaltigung in dieser Art, die Fuge zu traktieren, erkennbar sei, ein durch und durch schwieriges und problematisches Verhältnis zu dieser Kunstform, das sich denn auch in dem Verhältnis oder Unverhältnis des großen Mannes zu einem nach der Meinung mancher noch viel größeren, zu Johann Sebastian Bach, widergespiegelt habe. Bach sei dem Gedächtnis der Zeit überhaupt fast abhanden gekommen gewesen, und in Wien habe man von der protestantischen Musik noch besonders nichts wissen wollen. Für Beethoven sei Händel der König der Könige gewesen, und außerdem habe er eine große Vorliebe für Cherubim gehabt, dessen Medea-Ouvertüre er, als er noch hörte, nicht oft genug habe hören können. Was er von Bach besessen, sei sehr wenig gewesen: ein paar Motetten, das Wohltemperierte Klavier, eine Toccata und noch dies und das, in einem Bande zusammengefaßt. In diesem Bande nun habe ein von fremder Hand geschriebener Zettel gelegen mit dem Diktum: »Man kann die Stärke eines Musikkenners nicht besser prüfen, als wenn man zu erfahren sucht, wie weit er in der Schätzung der Bach'schen Werke gekommen.« Zu beiden Seiten dieses Textes aber habe der Besitzer mit der dicksten Notenfeder je ein emphatisches, ein grimmiges Fragezeichen hingemalt.
Dies alles sei sehr interessant und auch paradox, da man wohl sagen könne, daß, wenn Bach jener Zeit vertrauter gewesen wäre, die Beethoven'sche Muse einen leichteren Weg zum Verständnis der Mitwelt gehabt hätte. Es verhalte aber die Sache sich folgendermaßen. Die Fuge gehöre ihrem Geiste nach einem liturgischen Zeitalter der Musik an, dem Beethoven schon fern gestanden habe; er sei der Großmeister einer Profan-Epoche der Musik gewesen, in der diese Kunst sich vom Kultischen ins Kulturelle emanzipiert habe. Das sei aber eine wahrscheinlich immer nur zeitweilige und niemals restlose Emanzipation. Die für den Konzertsaal geschriebenen Messen des 19. Jahrhunderts, die Symphonien Bruckners, die geistliche Musik von Brahms und von Wagner zum mindesten der >Parsifal< ließen die alte, niemals völlig gelöste Bindung an das Kultische klar erkennen, und was Beethoven betreffe, so habe er in dem Wunsch, die Missa solemnis möchte von einem Berliner Chorverein aufgeführt werden, an dessen Leiter geschrieben, das Werk könne sehr wohl durchweg a capella gegeben werden; ohnedies komme ein Stück ganz ohne Instrumentalbegleitung, das Kyrie nämlich, darin vor, und er für sein Teil (so hatte er hinzugefügt) sei der Meinung, daß gerade dieser Stil als der einzig wahre Kirchenstil zu betrachten sei. Ob er dabei an Palestrina oder an den kontrapunktisch-polyphonen Vokalstil der Niederländer gedacht habe, in dem noch Luther das musikalische Ideal gesehen, etwa an Josquin des Près oder an Adrian Willaert, den Begründer der venezianischen Schule, das stehe dahin. Auf jeden Fall habe aus seinen Worten das nie erlöschende Heimverlangen der befreiten Musik nach ihren kultisch gebundenen Ursprüngen gesprochen, und seine gewaltige Bemühung um die Fuge sei das Ringen eines großen Dynamikers und Emotionalisten um die kunstreich-kühle Satzform gewesen, welche in einem strengen und hochabstrakten, von der Zahl, dem klingenden Zeitverhältnis beherrschten Jenseits der Leidenschaften auf den Knien Gott, den Ordner des bahnenreichen Kosmos, gepriesen habe. -
Das war Kretzschmar über >Beethoven und die Fuge<, und wahrlich, es gab uns Stoff für einiges Gespräch auf dem Heimweg — Stoff auch zum Miteinander-Schweigen und stillen, vagen Nachsinnen über das Neue, Ferne, Große, das als manchmal flink dahinlaufende, manchmal schrecklich hängenbleibende Rede in unsere Seelen gedrungen war. Ich sage: in

81

unsere; aber natürlich ist es nur diejenige Adrians, die ich dabei im Sinne habe. Wovon ich hörte, was ich aufnahm, ist gänzlich irrelevant. Daß aber meinen Freund diese Dinge und Verhältnisse damab berührten, beeindruckten, dieses zu wissen und zu merken ist von Wichtigkeit für den Leser, und es ist darum, daß ich von Wendell Kretzschmars Kursus so eingehend berichte.
Unbedingt, bei aller Eigenwilligkeit, vielleicht Gewaltsamkeit seiner Darstellungsweise, war er ein geistreicher Mann, das zeigte sich in der erregenden, gedankenzeugenden Wirkung seiner Worte auf ein hochbegabtes Jünglingsgemüt, wie das Adri Leverkühns. Was ihn, wie sich beim Nachhausegehen und am nächsten Tag auf dem Schulhof zeigte, hauptsächlich impressioniert hatte, war Kretzschmars Unterscheidung zwischen kultischen und kulturellen Epochen und seine Äußerung gewesen, daß die Säkularisierung der Kunst, ihre Trennung vom Gottesdienst, einen nur oberflächlichen und episodischen Charakter trage. Der Obersekundaner zeigte sich ergriffen von dem Gedanken, den der Vortragende gar nicht ausgesprochen, aber in ihm entzündet hatte, daß die Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen, ihre Befreiung und Erhöhung ins Einsam-Persönliche und Kulturell-Selbstzweckhafte sie mit einer bezuglosen Feierlichkeit, einem absoluten Ernst, einem Leidenspathos belastet habe, das in Beethovens schreckhafter Erscheinung im Türrahmen zum Bilde werde, und das nicht ihr bleibendes Schicksal, ihre immerwährende Seelenverfassung zu sein brauche. Man höre den jungen Menschen! Noch fast ohne praktisch-reale Erfahrung auf dem Gebiete der Kunst, phantasierte er im Leeren und mit altklugen Worten von der wahrscheinlich bevorstehenden Wiederzurückführung ihrer heutigen Rolle auf eine bescheidenere, glücklichere im Dienst eines höheren Verbandes, der nicht gerade, wie einst, die Kirche zu sein brauche. Was er denn sein sollte, wußte er nicht zu sagen. Aber daß die Kultur-Idee eine geschichtlich transitorische Erscheinung sei; daß sie sich auch wieder in anderem verlieren könne; daß ihr nicht notwendig die Zukunft gehöre, diesen Gedanken hatte er entschieden aus Kretzschmars Vortrag ausgesondert.
»Aber die Alternative«, warf ich ihm ein, »zur Kultur ist die Barbarei.«
»Erlaube mir«, sagte er. »Die Barbarei ist das Gegenteil der Kultur doch nur innerhalb der Gedankenordnung, die diese uns an die Hand gibt. Außer dieser Gedankenordnung mag das Gegenteil ganz etwas anderes oder überhaupt kein Gegenteil sein.«

82

Ich ahmte Luca Cimabue nach, indem ich »Santa Maria!« sagte und mir die Brust bekreuzte. Er lachte kurz auf.
Ein andermal äußerte er:
»Für ein Kultur-Zeitalter scheint mir eine Spur zuviel die Rede zu sein von Kultur in dem unsrigen, meinst du nicht? Ich möchte wissen, ob Epochen, die Kultur besaßen, das Wort überhaupt gekannt, gebraucht, im Munde geführt haben. Naivität, Unbewußtheit, Selbstverständlichkeit scheint mir das erste Kriterium der Verfassung, der wir diesen Namen geben. Was uns abgeht, ist eben dies, Naivität, und dieser Mangel, wenn man von einem solchen sprechen darf, schützt uns vor mancher farbigen Barbarei, die sich mit Kultur, mit sehr hoher Kultur sogar, durchaus vertrug. Will sagen: unsere Stufe ist die der Gesittung, — ein sehr lobenswerter Zustand ohne Zweifel, aber keinem Zweifel unterliegt es auch wohl, daß wir sehr viel barbarischer werden müßten, um der Kultur wieder fähig zu sein. Technik und Komfort — damit redet man von Kultur, aber man hat sie nicht. Willst du mich hindern, in der homophon-melodischen Verfassung unserer Musik einen Zustand musikalischer Gesittung zu sehen — im Gegensatz zur alten kontrapunktisch-polyphonen Kultur?«
In solchen Reden, mit denen er mich neckte und irritierte, war vieles bloß nachgesprochen. Aber er hatte eine Art der Aneignung und persönlichen Reproduktion des Aufgegriffenen, die seinem Nachsprechen, wenn nicht alles knabenhaft Unselbständige, so doch alles Ridiküle nahm. Viel kommentierte er auch — oder kommentierten wir in bewegtem Wechselgespräch — einen Vortrag Kretzschmars, der >Die Musik und das Auge< hieß, — ebenfalls eine Darbietung, die größeren Zulauf verdient hätte. Wie der Titel sagt, sprach unser Redner darin von seiner Kunst, insofern sie sich an den Gesichtssinn, oder doch auch an diesen wendet, was sie, so führte er aus, schon damit tue, daß man sie aufschreibe: durch die Notierung also, die Tonschrift, die seit den Tagen der alten Neumen, diesen Fixierungen aus Strichen und Punkten, welche die Klangbewegung ungefähr angedeutet hätten, immer und mit

83

wachsender Sorgfalt geübt worden sei. Und nun waren seine Nadiweise höchst unterhaltend — und auch schmeichelhaft, da es uns eine gewisse Lehrbuben- und Pinselwäscher-Intimität mit der Musik vorspiegelte—, wie manche Redensart des Musikanten-Jargons gar nicht aus dem Akustischen, sondern aus dem Visuellen, dem Notenbild abgeleitet sei; wie man von occhiali, Brillenbässen spreche, weil die gebrochenen Trommelbässe, halbe Noten, deren Hälse paarweise durch Balken verbunden sind, ein brillenähnliches Bild ergeben; oder wie man gewisse wohlfeile, sich stufenweis und in gleichen Intervallen aneinanderreihende Sequenzen (er schrieb uns Beispiele auf die Tafel) >Schusterflecke< nenne. Er sprach von dem bloßen Augenschein notierter Musik und versicherte, daß dem Kenner ein Blick auf das Schriftbild genüge, um von dem Geist und Wert einer Komposition einen entscheidenden Eindruck zu empfangen. So sei es ihm vorgekommen, daß ein besuchender Kollege, sein Zimmer betretend, wo gerade ein ihm vorgelegtes dilettantisches Machwerk auf dem Pulte aufgeschlagen gewesen sei, noch an der Tür ausgerufen habe: »Ja, um Gottes willen, was für einen Mist hast du denn da?!« — Andererseits schilderte er uns den entzückenden Genuß, den schon das optische Bild einer Partitur von Mozart dem geübten Auge gewähre, die Klarheit der Disposition, die schöne Verteilung der Instrumentengruppen, die geistreich wandlungsvolle Führung der melodischen Linie. Ein Tauber, rief er aus, ganz unerfahren im Klange, müßte seine Freude an diesen holden Gesichten haben. »To hear with eyes belongs to love's fine wit«, zitierte er aus einem Shakespeare-Sonett und behauptete, zu allen Zeiten hätten die Komponisten in ihre Satzschriften manches hineingeheimnißt, was mehr für das lesende Auge als für das Ohr bestimmt gewesen. Wenn etwa die niederländischen Meister des polyphonen Stils bei ihren unendlichen Kunststücken der Stimmverschränkung die kontrapunktische Beziehung so gestaltet hätten, daß eine Stimme der anderen gleich gewesen sei, wenn man sie von rückwärts gelesen habe, so habe das mit dem sinnlichen Klange nicht viel zu tun gehabt, er wolle sich

84

verwetten, daß die wenigsten den Spaß gehörweise vermerkt hätten, viel eher dem Auge des Zünftlers sei er zugedacht gewesen. So habe Orlandus Lassus in der >Hochzeit von Kana< für die* sechs Wasserkrüge sechs Stimmen gebraucht, was man ihm auch beim Sehen besser habe nachrechnen können als beim Hören; und in der Johannispassion des Joachim von Burck habe »der Diener einer«, der Jesu einen Backenstreich gab, nur eine Note, auf das »zween« aber in der nachfolgenden Phrase »mit ihm zween andere« fielen deren zwei.
Er führte noch mehrere solche pythagoräischen, dem Auge mehr als dem Ohre zugedachten, das Ohr gewissermaßen hintergehenden Scherze an, in denen die Musik sich je und je gefallen habe, und rückte damit heraus, daß er sie, in letzter Analyse, einer gewissen eingeborenen Unsinnlichkeit, ja Anti-Sinnlichkeit dieser Kunst zuschreibe, einer heimlichen Neigung zur Askese. In der Tat sei sie die geistigste aller Künste, was sich schon daran erweise, daß Form und Inhalt in ihr, wie in keiner anderen, ineinander verschlungen und schlechthin ein und dasselbe seien. Man sage wohl, die Musik »wende sich an das Ohr«, aber das tue sie nur bedingtermaßen, nur insofern nämlich, als das Gehör, wie die übrigen Sinne, stellvertretendes Mittel- und Aufnahmeorgan für das Geistige sei. Vielleicht, sagte Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, eine Kundry, die nicht wolle, was sie tue, und weiche Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge. Ihre mächtigste sinnliche Verwirklichung finde sie als orchestrale Instrumentalmusik, wo sie denn, durch das Ohr, alle Sinne zu affizieren scheine und das Genußreich der Klänge mit denen der Farben und Düfte opiatisch verschmelzen lasse. Hier so recht sei sie die Büßerin in der Hülle des Zauberweibes. Es gebe aber ein Instrument, das heißt: ein musikalisches Verwirklichungsmittel,

85

durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei das Klavier, ein Instrument, das ein solches im Sinne der anderen gar nicht sei, da ihm alles Spezialistische abgehe. Es könne zwar, wie jene, solistisch behandelt und zum Mittel des Virtuosentums werden, aber das sei ein Sonderfall und, wenn man es überaus genau nehme, ein Mißbrauch. Das Klavier sei, recht gesehen, der direkte und souveräne Repräsentant der Musik selbst in ihrer Geistigkeit, und darum müsse man es erlernen. Aber Klavierunterricht sollte nicht, oder nicht wesentlich und nicht zuerst und zuletzt, Unterricht in.einer speziellen Fertigkeit sein, sondern Unterricht in der —
»Musik!« rief eine Stimme aus dem winzigen Publikum, denn der Redner konnte mit diesem letzten und vorher so oft gebrauchten Wort durchaus nicht fertig werden, sondern blieb mummelnd an seinem Eröffnungslaute hängen.
»Allerdings!« sagte er befreit, trank einen Schluck Wasser und ging. —
Nun aber möge man es mir verzeihen, wenn ich ihn noch einmal auftreten lasse. Denn noch um eine vierte Lesung ist es mir zu tun, die Wendell Kretzschmar uns bot, und eher, in der Tat, hätte ich eine oder die andere der vorigen beiseite lassen können als diese, da, um auch hier von mir nicht zu reden, keine einen so tiefen Eindruck auf Adrian machte wie eben sie.
Ich kann mich ihres Titels nicht mehr mit voller Genauigkeit entsinnen. Sie hieß >Das Elementare in der Musik< oder >Die Musik und das Elementare< oder >Die musikalischen Elemente< oder noch etwas anders. Auf jeden Fall spielte die Idee des Elementaren, des Primitiven, des Uranfänglichen die entscheidende Rolle darin, sowie der Gedanke, daß unter allen Künsten gerade die Musik, zu einem wie hochkomplizierten, reich und fein entwickelten Wunderbau von historischer Creation sie im Lauf der Jahrhunderte emporgewachsen sei, niemals sich einer frommen Neigung entschlagen habe, ihrer anfänglichsten Zustände pietätvoll zu gedenken und sie feierlich beschwörend

86

heraufzurufen, kurz, ihre Elemente zu zelebrieren. Sie feiere damit, sagte er, ihre kosmische Gleichnishaftigkeit; denn jene Elemente seien gleichsam die ersten und einfachsten Bausteine der Welt, ein Parallelismus, den ein philosophierender Künstler jüngstvergangener Tage — es war wieder Wagner, von dem er sprach — sich klug zunutze gemacht habe, indem er die Grundelemente der Musik in seinem kosmogonischen Mythos vom >Ring des Nibelungen< sich mit denjenigen der Welt habe decken lassen. Bei ihm habe der Anfang aller Dinge seine Musik: die Musik des Anfangs sei das und auch der Anfang der Musik, der Es-Dur-Dreiklang der strömenden Rheinestief e, die sieben Primitiv-Akkorde, aus denen, wie aus cyklopischen Quadern von Urgestein, die Burg der Götter sich aufbaue. Geistreich in großem Stil, habe er den Mythos der Musik zugleich mit demjenigen der Welt gegeben, habe, indem er die Musik an die Dinge band und diese in Musik sich aussprechen ließ, einen Apparat sinniger Simultaneität geschaffen, — höchst großartig und bedeutungsschwer, wenn auch am Ende wohl ein wenig zu gescheit im Vergleich mit gewissen Offenbarungen des Elementaren in der Kunst reiner Musiker, Beethovens und Bachs, zum Exempel in dem Präludium der Cello-Suite dieses letzteren, — auch einem Es-Dur-Stück und aufgebaut auf primitive Dreiklänge. — Und er gedachte Anton Bruckners, der es geliebt habe, sich an der Orgel oder am Klavier durch das einfache Aneinanderreihen von Dreiklängen zu erquicken. »Gibt es denn etwas Innigeres, Herrlicheres«, habe er gerufen, »als eine solche Folge bloßer Dreiklänge? Ist es nicht wie ein reinigendes Seelenbad?« — Auch dieses Wort, meinte Kretzschmar, sei ein denkwürdiger Beleg für die Neigung der Musik, ins Elementare zurückzutauchen und sich selbst in ihren Grundanfängen zu bewundern.
Er ging weiter. Er sprach von den vor-kulturellen Zuständen der Musik, als noch der Gesang ein Heulen über mehrere Tonstufen weg gewesen sei; von der Geburt des Tonsystems aus dem Chaos unnormierter Laute und von der monodischen Abgeschlossenheit des Tones, wie sie in der abendländischen Musik während des ersten christlichen Jahrtausends durchaus noch geherrscht habe; einer Einsinnigkeit, Einstimmigkeit, von der unser harmonisch erzogenes Ohr sich gar keine Vorstellung mehr mache, da wir unwillkürlich mit jedem vernommenen Ton eine Harmonie verbänden, da doch damals ein solcher der Harmonie weder bedurft habe, noch ihrer fähig gewesen sei. Zudem habe in jener Frühzeit der musikalische Vortrag sich eines taktmäßig und periodisch gegliederten Rhythmus so gut wie gänzlich entschlagen; die alte Tonschrift zeige entschiedene Gleichgültigkeit gegen diese Bindungen und lasse erkennen, daß der Musikübung vielmehr etwas frei Rezitierendes, Improvisatorisches eigen gewesen sein müsse. Beobachte man aber die Musik, und gerade auf ihrer letzterreichten Entwicklungsstufe, genau, so merke man ihr die heimliche Lust an, in diese Zustände zurückzukehren.
Ja, rief der Vortragende, es liege im Wesen dieser seltsamen Kunst, daß sie jeden Augenblick imstande sei, von vorn zu beginnen, aus dem Nichts, bar jeder Kenntnis ihrer schon durchlaufenen Kulturgeschichte, des durch die Jahrhunderte Errungenen, sich neu zu entdecken und wieder zu erzeugen. Dabei

87

durchlaufe sie dann dieselben Primitiv-Stadien wie in ihren historischen Anfängen, und könne auf kurzer Bahn, abseits von dem Hauptgebirgsstock ihrer Entwicklung, einsam und unbelauscht von der Welt, wunderliche Höhen absonderlichster Schönheit erreichen. Und nun erzählte er uns eine Geschichte, die sich auf die skurrilste und nachdenklichste Weise in den Rahmen seiner diesmaligen Betrachtungen fügte.
Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte in seiner Heimat Pennsylvania eine deutsche Gemeinde frommer Sektierer, Wiedertäufer nach ihrem Ritus, geblüht. Ihre führenden, geistlich angesehensten Mitglieder hatten als Cölibatäre gelebt und waren dafür mit dem Namen der >Einsamen Brüder und Schwestern< geehrt worden. Die Mehrzahl hatte mit dem Stande der Ehe eine exemplarisch reine und gottselige, arbeitsam streng geregelte und diätetisch gesunde Lebensweise voller Verzicht und Züchtigkeit zu verbinden gewußt. Ihrer Siedlungen waren zwei gewesen: die eine mit Namen Ephrata in Lancaster County, die andere in Franklin County, Snowhill genannt; und alle hatten in Ehrfurcht aufgeblickt zu ihrem Oberhaupt, Hirten und geistlichen Vater, dem Begründer der Sekte, einem Mann namens Beißel, in dessen Charakter sich innige Gottergebenheit mit den Eigenschaften eines Seelenführers und Menschenbeherrschers, schwärmerische Religiosität mit einer kurz angebundenen Energie vereinigt hatten.
Johann Conrad Beißel war von sehr armen Eltern aus Eberbach in der Pfalz gebürtig und früh verwaist. Er hatte das Bäckergewerbe erlernt und als wandernder Handwerksbursche mit Pietisten und Anhängern der baptistischen Brüderschaft Beziehungen angeknüpft, die schlummernde Neigungen, den Hang zu sonderlichem Wahrheitsdienst und freier Gottesüberzeugung in ihm geweckt hatten. Hierdurch einer Sphäre gefährlich nahe gebracht, die bei ihm zulande als ketzerisch galt, hatte der Dreißigjährige beschlossen, die Unduldsamkeit der alten Erde zu fliehen, und war nach Amerika ausgewandert, wo er an verschiedenen Orten, in Germantown und Conestoga, eine Weile das Handwerk eines Webers geübt hatte. Dann

88

aber war ein neuer Schub religiöser Ergriffenheit über ihn gekommen, und er war dem inneren Rufe gefolgt, in der Wildnis als Klausner ein völlig einsames, karges und nur auf Gott bedachtes Leben zu führen. Wie es nun aber geht, daß gerade Menschenflucht wohl den Flüchtling ins Menschliche verflicht, so hatte er sich bald von einer Schar bewundernder Gefolgsleute und Nachahmer seiner Absonderung umgeben gesehen, und statt der Welt ledig zu werden, war er unversehens und im Handumdrehen zum Haupt einer Gemeinde geworden, die sich rasch zu einer selbständigen Sekte, der >Wiedertäufer des Siebenten Tages<, entwickelt hatte, und der er um so bedingungsloser gebot, als er seines Wissens Führerschaft niemals angestrebt hatte, sondern wider Wunsch und Absicht dazu berufen worden war.
Nie hatte Beißel eine nennenswerte Bildung genossen, aber des Lesens und Schreibens hatte der Erweckte sich im Selbstunterricht mächtig gemacht, und da sein Gemüt von mystischen Gefühlen und Ideen wogte, so geschah es, daß er hauptsächlich als Schriftsteller und Dichter sein Führeramt ausübte und die Seelen der Seinen speiste: ein Strom didaktischer Prosa und geistlicher Lieder ergoß sich aus seiner Feder zur Erbauung der Brüder und Schwestern in stillen Stunden und zur Bereicherung ihres Gottesdienstes. Sein Stil war verstiegen und kryptisch, beladen mit Metaphern, dunklen Anspielungen auf Stellen der Schrift und einer Art von erotischem Symbolismus. Ein Traktat über den Sabbath, >Mystyrion Anomalias< und eine Sammlung von >99 Mystischen und sehr geheymen Sprüchen< machten den Anfang. Auf dem Fuße folgten ihnen eine Reihe von Hymnen, die nach bekannten europäischen Choralmelodien zu singen waren und unter solchen Titeln wie >Göttliche Liebesund Lobesgethöne<, >Jacobs Kampf- und Ritterplatz< und Zionistischer Weyhrauchhügel< im Druck erschienen. Es waren dies kleinere Sammlungen, die einige Jahre später, vermehrt und verbessert, zu dem offiziellen Gesangbuch der Täufer des Siebenten Tages von Ephrata unter dem süß-traurigen Titel >Das Gesang der einsamen und verlassenen Turtel-Taube,

89

nemlich der Christlichen Kirche< zusammengefaßt wurden. Gedruckt und wiedergedruckt, bereichert durch mitentzündete Glieder der Sekte, einsame sowohl wie vermählte, Männer und noch mehr Frauen, wechselte das Standard-Werk den Titel und hieß auch wohl einmal >Paradisisches Wunderspiel<. Es umfaßte schließlich nicht weniger als siebenhundertsiebzig Hymnen, darunter solche von gewaltiger Strophenzahl.
Die Lieder waren bestimmt, gesungen zu werden, ermangelten aber der Noten. Es waren neue Texte zu alten Melodien, und so wurden sie jahrelang von der Gemeinde benutzt. Da kam eine neue Eingebung und Heimsuchung über Johann Conrad Beißel. Der Geist nötigte ihn, zu der Rolle des Dichters und Propheten diejenige des Komponisten an sich zu reißen.
Seit kurzem gab es einen jungen Adepten der Tonkunst zu Ephrata, Herr Ludwig geheißen, der Singschule hielt, und Beißel liebte es, seinem musikalischen Unterricht als Zuhörer beizuwohnen. Er mußte dabei die Entdeckung gemacht haben, daß die Musik zur Ausdehnung und Erfüllung des geistlichen Reiches Möglichkeiten bot, von denen der junge Herr Ludwig sich wenig träumen ließ. Der Beschluß des sonderbaren Mannes war rasch gefaßt. Nicht mehr der Jüngste, schon hoch in den Fünfzigern, machte er sich daran, eine eigene, für seine besonderen Zwecke brauchbare Musik-Theorie auszuarbeiten, stellte den Singlehrer kalt und nahm selbst die Sache in feste Hand — mit solchem Erfolg, daß er binnen kurzem die Musik zum wichtigsten Element im religiösen Leben der Siedelung machte.
Die Mehrzahl der aus Europa überkommenen Choral-Melodien war ihm recht sehr gezwungen, allzu verwickelt und künstlich erschienen, um recht für seine Schäfchen zu taugen. Er wollte es neu und besser machen und eine Musik ins Werk setzen, die der Einfachheit ihrer Seelen besser entsprach und sie instand setzen würde, es bei ihrer ausübenden Leistung zu einer eigenen, schlichten Vollendung zu bringen. Eine sinnvolle und nutzbare Melodie-Lehre war mit kühner Raschheit beschlossen. Er dekretierte, daß »Herren« und »Diener« sein sollten in jeder Tonleiter. Indem er den Dreiklang als das melodische Zentrum

90

jeder gegebenen Tonart anzusehen beschloß, ernannte er die zu diesem Akkord gehörigen Töne zu Meistern, die übrigen Töne der Leiter aber zu Dienern. Die Silben eines Textes nun, auf denen der Akzent lag, hatten jeweils durch einen Meister, die unbetonten durch einen Diener dargestellt zu werden.
Die Harmonie angehend, so griff er zu einem summarischen Verfahren. Er stellte Akkord-Tabellen für alle möglichen Tonarten her, an deren Hand jedermann seine Weisen bequem genug vier- oder fünfstimmig ausschreiben konnte, und rief damit eine wahre Woge von Komponierwut in der Gemeinde hervor. Es gab bald keinen Baptisten des Siebenten Tages, ob männlich oder weiblich, mehr, der es bei solcher Erleichterung nicht dem Meister nachgetan und Töne gesetzt hätte.
Der Rhythmus war der Teil der Theorie, dessen Bereinigung dem rüstigen Manne noch übrigblieb. Er tat es mit dem entschiedensten Erfolge. Sorgfältig folgte er mit der Komposition dem Fall der Worte, einfach indem er betonte Silben mit längeren Noten, unbetonte mit kürzeren versah. Eine feste Beziehung zwischen den Notenwerten herzustellen, kam ihm nicht in den Sinn, und gerade dadurch wahrte er seinem Metrum eine beträchtliche Biegsamkeit. Daß so gut wie alle Musik seiner Zeit in wiederkehrenden Zeitmaßen von gleicher Länge, in Takten also, geschrieben war, wußte er entweder nicht oder er kümmerte sich nicht darum. Diese Unwissenheit oder Rücksichtslosigkeit aber kam ihm, wie nichts andres, zustatten, denn der schwebende Rhythmus machte einige seiner Kompositionen, besonders die von Prosa, außerordentlich effektvoll.
Dieser Mann bestellte das Feld der Musik, da er es einmal betreten, mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er jedes seiner Ziele verfolgte. Seine Gedanken zur Theorie sammelte er und gab sie dem Buche von der >Turtel-Taube< als Vorwort mit. Er versah in ununterbrochener Arbeit sämtliche Poesien des >Weyhrauchhügels< mit Tönen, manche von ihnen zwei- und dreimal, und komponierte alle Hymnen, die er selbst jemals geschrieben, dazu eine Menge derer, die von seinen Schülern und Schülerinnen stammten. Nicht genug damit, schrieb er eine

91

Reihe umfangreicherer Chöre, deren Texte unmittelbar der Bibel entnommen waren. Es schien, als sei er im Begriffe, die ganze Heilige Schrift nach eigenem Rezept in Musik zu setzen; durchaus war er der Mann, einen solchen Gedanken ins Auge zu fassen. Wenn es nicht dazu kam, so nur darum, weil er einen großen Teil seiner Zeit der Ausführung des Geschaffenen, der Vortragskultur, dem Gesangsunterricht widmen mußte, — und hierin nun erzielte er das schlechthin Außerordentliche.
Die Musik von Ephrata, sagte uns Kretzschmar, sei zu ungewöhnlich, zu wunderlich-eigenwillig gewesen, um von der Außenwelt übernommen werden zu können, und darum sei sie in praktische Vergessenheit gesunken, als die Sekte der deutschen Baptisten vom Siebenten Tage zu blühen aufgehört habe. Aber eine leicht sagenhafte Erinnerung daran habe sich doch durch die Jahrzehnte erhalten, und ungefähr lasse sich aussprechen, wie so ganz eigentümlich und ergreifend es damit gewesen. Die vom Chore dringenden Töne hätten zarte Instrumental-Musik nachgeahmt und den Eindruck einer himmlischen Sanftmut und Frömmigkeit in dem Hörer hervorgerufen. Das Ganze sei im Falsett gesungen worden, und die Sänger hätten kaum dabei die Münder geöffnet noch die Lippen bewegt, mit wundersamster akustischer Wirkung. Der Klang sei nämlich dadurch zu der nicht hohen Decke des Betsaals emporgeworfen worden, und es habe geschienen, als ob die Töne, unähnlich allem menschlich Gewohnten, unähnlich jedenfalls jedem bekannten Kirchengesang, von dort herabgestiegen wären und engelhaft über den Köpfen der Versammlung geschwebt hätten.
In Ephrata sei dieser Gesangsstyl um 1830 schon gänzlich außer Übung gewesen. Zu Snowhill in Franklin County dagegen, wo ein Zweig der Sekte sich erhalten habe, sei er um diese Zeit noch gepflegt worden, und, wenn es auch nur ein abgeschwächter Widerhall des noch durch Beißel selbst erzogenen Chores von Ephrata gewesen sei, habe keiner, der ihn gehört, all seiner Lebtage diesen Gesang vergessen. Sein Vater, erzählte Kretzschmar, habe diesen Klängen als junger Mann noch öfters lauschen können und habe, nie ohne daß sich ihm die Augen genäßt hätten, den Seinen noch im Alter davon berichtet. Er habe damals nahe Snowhill einen Sommer verbracht und sei am Freitagabend, dem Beginn des Sabbaths, einmal hinübergeritten, um vor dem Andachtshause der frommen Leute den Zaungast zu machen. Dann aber sei er immer wiedergekommen, habe jeden Freitag, wenn die Sonne sich neigte, getrieben von unwiderstehlicher Sehnsucht, sein

92

Pferd gesattelt und sei drei Meilen geritten, um dies zu hören. Es sei ganz unbeschreiblich gewesen, mit nichts anderem auf dieser Welt nur zu vergleichen. Er habe doch, so seien des alten Kretzschmar Worte gegangen, in englischen, französischen und italienischen Opernhäusern gesessen; das aber sei Musik für das Ohr gewesen, die Beißeis aber ein Klang tief in die Seele und nicht mehr noch minder als ein Vorgeschmack des Himmels.
»Eine große Kunst«, so schloß der Referent, »die, gleichsam abseits der Zeit und des eigenen großen Ganges darin, eine kleine Sondergeschichte dieser Art zu entwickeln und auf verschollenem Nebenwege zu so eigentümlichen Beseligungen zu führen vermag!« —
Ich weiß es, als wäre es gestern gewesen, wie ich mit Adrian aus diesem Vortrag nach Hause ging. Obgleich wir nicht viel miteinander redeten, mochten wir uns lange nicht trennen, und von seines Onkels Hause, wohin ich ihn begleitet, gab er mir zur Apotheke das Geleit, worauf wieder ich in die Parochialstraße mit ihm ging. So machten wir es übrigens öfters. Beide erheiterten wir uns über den Mann Beißel, diesen WinkelDiktator in seiner belustigenden Tatkraft, und kamen überein, daß seine Musik-Reform stark an die Stelle bei Terenz erinnere, wo es heißt: »Mit Vernunft albern zu handeln.« Aber Adrians Verhalten zu der kuriosen Erscheinung unterschied sich von meinem doch auf so kennzeichnende Art, daß sie mich bald mehr beschäftigte als der Gegenstand selbst. Anders nämlich als ich, hielt er darauf, sich im Spott die Freiheit zur Anerkennung zu salvieren, — auf das Recht, um nicht zu sagen: das Vorrecht also, einen Abstand zu wahren, der die Möglichkeit wohlwollenden Geltenlassens, bedingter Zustimmung, halber Bewunderung zusammen mit der Mokerie, dem Gelächter in sich schließt. Ganz allgemein ist mir dieser Anspruch auf ironische Distanzierung, auf eine Objektivität, der es sicherlich weniger um die Ehre der Sache als um die der freien Person zu tun ist, immer als ein Zeichen ungemeinen Hochmuts erschienen. Bei einem so jungen Menschen, wie Adrian es damals war, hat, das wird man mir zugeben, diese Haltung etwas

93

Ängstigendes und Vermessenes und ist danach angetan, Sorge um sein Seelenheil einzuflößen. Freilich ist sie auch wieder sehr eindrucksvoll für den Kameraden von schlichterer Geistesform, und da ich ihn liebte, liebte ich seinen Hochmut mit — vielleicht liebte ich ihn um seinetwillen. Ja, es wird schon so sein, daß diese Hoffart das Hauptmotiv der erschrockenen Liebe war, die ich zeit meines Lebens für ihn im Herzen hegte.
»Laß mir«, sagte er, während wir, die Hände in unseren Manteltaschen, im Winternebel, der die Gaslaternen umspann, zwischen unseren Wohnungen hin und wider gingen, »laß mir den Kauz in Frieden, ich habe was für ihn übrig. Wenigstens hatte er Ordnungssinn, und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.«
»Du willst nicht im Ernst«, antwortete ich, »ein so absurdes Ordnungsdiktat, einen so kindischen Rationalismus in Schutz nehmen, wie die Erfindung der Herren und Diener. Stelle dir vor, wie diese Beißel-Hymnen geklungen haben, in denen auf jede betonte Silbe ein Ton des Dreiklangs fallen mußte!«
»Jedenfalls nicht sentimental«, erwiderte er, »sondern streng gesetzmäßig, und das lob' ich mir. Tröste dich damit, daß ja der Phantasie, die du natürlich hoch über das Gesetz stellst, reichlicher Spielraum blieb bei freier Benutzung der >Dienertöne<.«
Er mußte lachen über das Wort, beugte sich vor im Geher, und lachte auf das feuchte Trottoir hinab.
»Komisch, sehr komisch ist es«, sagte er. »Aber eines wirst du mir zugeben: Das Gesetz, jedes Gesetz, wirkt erkältend, und die Musik hat soviel Eigenwärme, Stallwärme, Kuhwärme, möchte ich sagen, daß sie allerlei gesetzliche Abkühlung brauchen kann — und auch selber immer danach verlangt hat.«
»Daran mag etwas Wahres sein«, gab ich zu. »Aber unser Beißel gibt am Ende kein schlagendes Beispiel dafür ab. Du vergißt, daß sein ganz ungeregelter und dem Gefühl überlassener Rhythmus der Strenge seiner Melodie mindestens die Waage hielt. Und dann erfand er sich einen Gesangsstil — zur Decke hinauf und in seraphischem Falsett von dort herabschwebend —, der höchst berückend gewesen sein muß und

94

gewiß der Musik alle >Kuhwärme< zurückgab, die er ihr vorher durch pedantische Abkühlung genommen.«
»Durch asketische, würde Kretzschmar sagen«, erwiderte er, »durch asketische Abkühlung. Darin war Vater Beißel sehr echt. Die Musik tut immer im voraus geistig Buße für ihre Versinnlichung. Die alten Niederländer haben ihr zu Gottes Ehren die vertracktesten Kunststücke auferlegt, und es ging hart auf hart dabei her nach allem, was man hört, höchst unsinnlich und rein rechnerisch ausgeklügelt. Aber dann haben sie diese Bußübungen singen lassen, sie dem tönenden Atem der Menschenstimme überliefert, die denn doch wohl das stallwärmste Klangmaterial ist, das sich erdenken läßt...«
»Meinst du?«
»Wie soll ich das nicht meinen! An Stallwärme gar nicht zu vergleichen mit irgendeinem anorganischen Instrumentalklang. Abstrakt mag sie sein, die menschliche Stimme, — der abstrakte Mensch, wenn du willst. Aber das ist eine Art von Abstraktheit, ungefähr wie der entkleidete Körper abstrakt ist, — es ist ja beinahe ein pudendum.«
Ich schwieg betroffen. Meine Gedanken führten mich weit zurück in unserem, in seinem Leben.
»Da hast du sie«, sagte er, »deine Musik.« (Und ich ärgerte mich über seine Ausdrucksweise, die darauf ausging, mir die Musik zuzuschieben, als ob sie mehr meine Sache gewesen wäre als seine.) »Da hast du sie ganz, so war sie immer. Ihre Strenge, oder was du den Moralismus ihrer Form nennen magst, muß als Entschuldigung herhalten für die Berückungen ihrer Klangwirklichkeit.«
Einen Augenblick fühlte ich mich als der Ältere, Reifere.
»Einem Lebensgeschenk«, erwiderte ich, »um nicht zu sagen: einem Gottesgeschenk, wie der Musik, soll man nicht Antinomien höhnisch nachweisen, die nur von der Fülle ihres Wesens Zeugnis geben. Man soll sie lieben.«
»Hältst du die Liebe für den stärksten Affekt?« fragte er.
»Weißt du einen stärkeren?«
»Ja, das Interesse.«

95

»Darunter verstehst du wohl eine Liebe, der man die animalische Wärme entzogen hat?«
»Einigen wir uns auf die Bestimmung!« lachte er. »Gute Nacht!« Wir waren wieder beim Leverkühn'sehen Hause gelandet, und er öffnete sich das Tor.


IX

Ich blicke nicht zurück und hüte mich nachzuzählen, wieviel Blätter ich aufgehäuft zwischen der vorigen römischen Ziffer und der soeben gesetzten. Das Unglück — ein allerdings gänzlich unerwartetes Unglück — ist geschehen, und es wäre nutzlos, mich seinetwegen in Selbstanklagen und Entschuldigungen zu ergehen. Die Gewissensfrage, ob ich es einfach dadurch hätte vermeiden können und sollen, daß ich jedem einzelnen der Vorträge Kretzschmars ein besonderes Hauptstück zugewiesen hätte, muß ich verneinen. Jede gesonderte Teil-Einheit eines Werkes bedarf eines gewissen Schwergehaltes, eines bestimmten Maßes förderlicher Bedeutung für das Ganze, und dieses Gewicht, dieses Bedeutungsmaß kommt den Vorträgen nur in ihrer Gesamtheit (soweit ich sie referiert habe), — sie kommt nicht dem einzelnen zu.
Warum aber messe ich ihnen eine solche Bedeutung bei? Warum habe ich mich bewogen gesehen, sie in dieser Ausführlichkeit wiederzugeben? Ich nenne den Grund dafür nicht zum ersten Mal. Es ist einfach der, daß Adrian diese Dinge damals hörte, daß sie seine Intelligenz herausforderten, sich in seinem Gemüte niederschlugen und seiner Phantasie einen Stoff boten, den man Nahrung nennen mag, oder Reizung, denn für die Phantasie ist das ein und dasselbe. Notwendigerweise war also auch der Leser dabei zum Zeugen zu machen; denn man schreibt keine Biographie, schildert nicht den Aufbau einer geistigen Existenz, ohne auch den, für den man schreibt, auf den Stand des Schülers, des lauschenden, lernenden, jetzt nahehin blicken

96

den, jetzt ahnend voranschweifenden Neubeginners des Lebens und der Kunst zurückzuführen. Und was im besonderen die Musik betrifft, so ist es mein Wunsch und Bestreben, den Leser auf ganz dieselbe Art ihrer ansichtig werden zu lassen; ihn auf eben die Weise in Fühlung mit ihr zu bringen, wie es meinem verewigten Freunde geschah. Dazu aber erschienen mir die Reden seines Lehrers als ein unverächtliches, ja unentbehrliches Mittel.
Darum meine ich, scherzweise, daß mit solchen, die in dem allerdings monströsen Vortragskapitel sich der Sprünge und Überschlagungen schuldig gemacht haben, so verfahren werden sollte, wie Lawrence Sterne mit einer imaginierten Zuhörerinverfährt, die durch eine Zwischenrede verrät, daß sie zeitweise nicht achtgegeben hat, und deshalb vom Verfasser in ein früheres Kapitel zurückgeschickt wird, damit sie die Lücken ihres epischen Wissens ausfülle. Später dann, nachdem sie sich besser informiert, stößt die Dame wieder zu der erzählerischen Gemeinde und wird mit heiterem Gruß empfangen.
Dies kommt mir in den Sinn, weil Adrian als Primaner, zu der Zeit also, wo ich schon auf die Universität Gießen abgegangen war, unter der Einwirkung Wendell Kretzschmars privatim Englisch trieb, ein Fach, das ja außerhalb des humanistischen Lehrbereiches liegt, und mit großem Vergnügen die Schriften Sterne's las, namentlich aber die Werke Shakespeare's, von denen der Organist ein intimer Kenner und leidenschaftlicher Verehrer war. Shakespeare und Beethoven zusammen bildeten an seinem geistigen Himmel ein alles überleuchtendes Zwillingsgestirn, und sehr liebte er es, seinem Schüler merkwürdige Verwandtschaften und Übereinstimmungen in den Schaffensprinzipien und -methoden der beiden Giganten nachzuweisen, — ein Beispiel dafür, wie weit der erzieherische Einfluß des Stotterers auf meinen Freund über den eines Klavierlehrers hinausging. Als solcher hatte er ihm kindliche Anfangsgründe zu überliefern, und in sonderbarem Widerspruch dazu stand es, daß er ihn gleichzeitig und sozusagen" nebenbei mit den größten Dingen in erste Berührung brachte, ihm die Reiche der Weltliteratur eröffnete, ihn durch Neugier erweckende

97

Vorberichte in die ungeheueren Gebreite des russischen, englischen, französischen Romans verlockte, ihn zur Beschäftigung mit der Lyrik von Shelley und Keats, Hölderlin und Novalis anregte, ihm Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart zu lesen gab. Durch seine Briefe sowohl wie mündlich, wenn ich in den Hochschulferien nach Hause kam, ließ Adrian mich an diesen Errungenschaften teilnehmen, und ich will nicht leugnen, daß ich mir trotz seiner mir bekannten Raschheit und Leichtigkeit zuweilen Sorgen machte der Uberbelastung wegen, die diese doch wohl verfrühten Erkundungen für sein junges System bedeuteten. Unzweifelhaft bildeten sie ein bedenkliches Plus zu den Vorbereitungen auf die Abgangsexamina, in denen er stand und von denen er freilich wegwerfend redete. Oft sah er blaß aus — und das nicht nur an Tagen, wenn die ererbte Migräne ihren trübenden Druck auf ihn ausübte. Augenscheinlich hatte er zu wenig Schlaf, denn zum Lesen verwendete er Nachtstunden. Ich unterließ auch nicht, Kretzschmarn meine Besorgnis einzugestehen und bei ihm anzufragen, ob er nicht mit mir in Adrian eine Natur sähe, die geistig eher zurückzuhalten als vorwärtszustoßen sei. Aber der Musiker,» obgleich so viel älter als ich, gab sich ganz als Parteigänger ungeduldig-erkenntnishungriger, sich selbst nicht schonender Jugend und war überhaupt der Mann einer gewissen idealistischen Härte und Gleichgültigkeit gegen den Körper und seine »Gesundheit«, die er für einen recht philiströsen, um nicht zu sagen: feigen Wert erachtete.
»Ja, lieber Freund«, sagte er (und ich lasse die Hemmungsvorkommnisseaus, die seine Polemik beeinträchtigten), »wenn Sie für Gesundheit sind, — mit Geist und Kunst hat die denn wohl freilich nicht viel zu tun, sie steht sogar in einem gewissen Kontrast dazu, und jedenfalls hat das eine ums andre sich nie viel gekümmert. Den Onkel Hausarzt zu machen, der vor verfrühter Lektüre warnt, weil sie nämlich für ihn all seiner Lebtage verfrüht wäre, dazu bin ich nicht da. Auch find' ich nichts taktloser und brutaler, als begabte Jugend beständig auf ihre >Unreife( festnageln zu wollen und >Das ist noch

98

nichts für dich< das dritte Wort sein zu lassen. Soll doch er das beurteilen! Soll er doch überhaupt sehen, wie er durchkommt. Daß dem die Zeit lang wird, bis er aus der Eischale dieses altdeutschen Marktfleckens schlüpfen kann, ist nur zu begreiflich.«
Da hatte ich es, und da hatte es Kaisersaschern. Ich ärgerte mich, denn der Standpunkt des Onkel Doktors war ja gewiß auch der meine nicht. Zudem sah und begriff ich sehr wohl, daß Kretzschmar sich nicht nur nicht als Klavierlehrer und Trainer in einer Spezial-Technik genügte, sondern daß ihm auch die Musik selbst, das Ziel dieses Unterrichts, wenn sie einseitig und ohne Zusammenhang mit anderen Gebieten der Form, des Gedankens und der Bildung betrieben wurde, als ein menschlich verkümmernder Spezialismus erschien.
Tatsächlich pflegten, nach allem, was ich von Adrian hörte, seine Klavierstunden in Kretzschmars altertümlicher Amtswohnung beim Dom zur guten Hälfte mit Unterhaltungen über Philosophie und Dichtung hinzugehen. Trotzdem konnte ich, solange ich noch mit ihm auf der Schule war, seine Fortschritte buchstäblich von Tag zu Tag verfolgen. Seine auf eigene Hand gewonnene Vertrautheit mit der Tastatur und den Tonarten beschleunigte natürlich seine ersten Schritte. Sein Skalen-Üben war gewissenhaft, aber eine Klavierschule wurde meines Wissens nicht benutzt, sondern Kretzschmar ließ ihn einfach gesetzte Choräle und — so wunderlich sie sich auf dem Klaviere ausnahmen — vierstimmige Psalmen von Palestrina spielen, bestehend aus reinen Akkorden nebst etwelchen harmonischen Spannungen und Kadenzen; dazu, etwas später, kleine Präludien und Fughetten von Bach, zweistimmige Inventionen von ebendemselben, die Sonata facile von Mozart, einsätzige Sonaten von Scarlatti. Außerdem ließ er es sich nicht verdrießen, selbst kleine Stücke, Märsche und Tänze für ihn zu schreiben, teils zum Alleinspiel, teils zu vierhändiger Ausführung, wobei das musikalische Gewicht im Secondo-Part lag, während der erste, für den Schüler bestimmte, ganz leicht gehalten war, so daß diesem die Genugtuung wurde, sogar führend an einer Produktion teilzunehmen, die sich als Ganzes auf einer höheren technischen Ausbildungsstufe als der seinen bewegte.

99

Alles in allem hatte das etwas von Prinzenerziehung, und ich erinnere mich, daß ich neckend dies Wort im Gespräch mit dem Freunde gebraucht, erinnere mich auch, wie er dabei mit dem ihm eigentümlichen kurzen Auflachen den Kopf abwandte, als wollte er's nicht gehört haben. Zweifellos war er dem Lehrer dankbar für einen Unterrichtsstil, der dem Umstände Rechnung trug, daß der Schüler nach seinem allgemeinen geistigen Entwicklungsstande nicht auf die kindliche Stufe der Ausbildung gehörte, die er in diesem spät ergriffenen Fache einnahm. Kretzschmar hatte nichts dagegen und begünstigte es sogar, daß dieser von Gescheitheit vibrierende Jüngling auch musikalisch vorauseilte und sich mit Dingen zu schaffen machte, die ein pedantischer Mentor als Allotria verpönt haben würde. Denn kaum kannte er die Noten, als er auch schon zu schreiben und auf dem Papier mit Akkorden zu experimentieren begann. Die Manie, die er damals entwickelte: sich beständig musikalische Probleme auszudenken, die er wie Schachaufgaben löste, konnte Besorgnis einflößen, da die Gefahr nahe lag, daß er dieses Ersinnen und Bewältigen technischer Schwierigkeiten bereits für Komponieren hielt. So verbrachte er Stunden damit, auf möglichst knappem Raum Akkorde, die zusammen alle Töne der chromatischen Leiter enthielten, zu verbinden, und zwar ohne daß die Akkorde chromatisch verschoben wurden und ohne daß sich bei der Verbindung Härten ergaben. Oder er gefiel sich darin, sehr starke Dissonanzen zu konstruieren und alle möglichen Auflösungen dafür zu erfinden, die aber, eben weil der Akkord so viele widersprechende Töne enthielt, nichts miteinander zu tun hatten, so daß jener bittere Klang, einem Zauber-Sigel gleich, Beziehungen zwischen den entferntesten Klängen und Tonarten stiftete.
Eines Tages brachte der Anfänger in bloßer Harmonielehre Kretzschmarn, zu dessen Erheiterung, die auf eigene Hand gemachte Entdeckung des doppelten Kontrapunkts. Will sagen:

100

er gab ihm zwei simultane Stimmen zu lesen, von denen jede sowohl Ober- wie Unterstimme sein konnte und die also vertauschbar waren. »Hast du den dreifachen heraus«, sagte Kretzschmar, »so behalt ihn für dich. Ich will nichts wissen von deinen Voreiligkeiten.«
Er behielt viel für sich und ließ nur mich allenfalls, in gelockerten Augenblicken, teilnehmen an seinen Spekulationen, — seiner Vertiefung besonders in das Problem der Einheit, Vertauschbarkeit, Identität von Horizontale und Vertikale. Bald besaß er eine in meinen Augen unheimliche Fertigkeit darin, melodische Linien zu erfinden, deren Töne man übereinanderstellen, simultan machen, in komplizierte Harmonien zusammenfalten konnte, — und umgekehrt vieltönige Akkorde zu gründen, die in die melodische Horizontale auseinanderzulegen waren. Auf dem Schulhof, zwischen einer griechischen Stunde und einer in Trigonometrie, sprach er mir wohl, an den Vorsprung der glasierten Ziegelmauer gelehnt, von diesen magischen Unterhaltungen seiner Mußezeit: von der Umwandlung des Intervalls in den Akkord, die ihn beschäftigte wie nichts anderes, des Horizontalen also ins Vertikale, des Nacheinanders ins Gleichzeitige. Gleichzeitigkeit, behauptete er, sei dabei eigentlich das Primäre, denn der Ton selbst, mit seinen näheren und entfernteren Obertönen, sei ein Akkord und die Skala nur die analytische Auseinanderlegung des Klanges in die horizontale Reihe.
»Aber mit dem eigentlichen, aus mehreren Tönen bestehenden Akkord ist es doch etwas anderes. Ein Akkord will fortgeführt sein, und sobald du ihn weiterführst, ihn in einen anderen überleitest, wird jeder seiner Bestandteile zur Stimme. Ich finde, man sollte nie in einer akkordischen Verbindung von Tönen etwas anderes sehen als das Resultat der Stimmenbewegung und in dem akkordbildenden Ton die Stimme ehren, — den Akkord aber nicht ehren, sondern ihn als subjektiv-willkürlich verachten, solange er sich nicht durch den Gang der Stimmführung, das heißt: polyphonisch ausweisen kann. Der

101

Akkord ist kein harmonisches Genußmittel, sondern er ist Polyphonie in sich selbst, und die Töne, die ihn bilden, sind Stimmen. Ich behaupte aber: sie sind das desto mehr, und desto entschiedener ist der polyphone Charakter des Akkordes, je dissonanter er ist. Die Dissonanz ist der Gradmesser seiner polyphonen Würde. Je stärker ein Akkord dissoniert, je mehr voneinander abstechende und auf differenzierte Weise wirksame Töne er in sich enthält, desto polyphoner ist er, und desto ausgesprochener hat schon in der Gleichzeitigkeit des Zusammenklangs jeder einzelne Ton das Gepräge der Stimme.«
Ich blickte ihn längere Zeit humoristisch-fatal mit dem Kopfe nickend an.
»Du kannst gut werden«, sagte ich endlich.
»Ich?« erwiderte er, nach seiner Art sich abwendend. »Ich spreche ja von der Musik, nicht von mir, — ein kleiner Unterschied.«
Er hielt gar sehr auf diesen Unterschied und sprach über Musik nur wie über eine fremde Macht, ein wunderliches, ihn aber persönlich nicht berührendes Phänomen, sprach von ihr kritisch distanziert und gewissermaßen von oben herab, — aber er sprach von ihr und hatte desto mehr Stoff dazu, als in diesen Jahren, dem letzten, das ich mit ihm auf der Schule verbrachte, und meinen ersten Studentensemestern, seine musikalische Erfahrung, seine Kenntnis der musikalischen Weltliteratur sich rapide erweiterte, so daß freilich bald der Abstand zwischen dem, was er kannte und was er konnte, jener von ihm betonten Unterscheidung eine Art von Augenfälligkeit verlieh. Denn während er als Pianist sich an Stücken versuchte wie Schumanns >Kinderszenen< und den beiden kleinen Sonaten von Beethoven, opus 49, und als Musikschüler sehr brav Choral-Themen so harmonisierte, daß das Thema in die Mitte der Akkorde zu liegen kam, gewann er mit großer Schnelle, ja fast überstürzter- und Überlastenderweise einen zwar inkohärenten, im einzelnen aber intensiven Überblick über die vorklassische, klassische, romantische und spätromantisch-moderne Produktion, — natürlich durch Kretzschmar, der

102

selbst zu verliebt war in alles — aber auch alles — in Tönen Geschaffene, als daß er nicht darauf hätte brennen sollen, einen Schüler, der zu hören wußte wie Adrian, in diese gestaltungsvolle, an Stilen, Nationalcharakteren, Tradititfnswerten und Persönlichkeitsreizen, historischen und individuellen Abwandlungen des Schönheitsideals unerschöpflich reiche Welt einzuführen: durch Vorspielen am Klavier, versteht sich, — ganze Unterrichtsstunden, und zwar unbekümmert verlängerte Unterrichtsstunden, gingen einfach damit hin, daß Kretzschmar dem Jüngling vorspielte, wobei er von einem zum andern, vom Hundertsten ins Tausendste kam, hineinschreiend, kommentierend, charakterisierend, wie wir es von seinen »gemeinnützigen« Vorträgen her kennen, — man konnte in der Tat nicht fesselnder, eindringlicher, lehrreicher vorgespielt bekommen.
Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß die Gelegenheiten, Musik zu hören, für einen Bewohner von Kaisersaschern außerordentlich spärlich waren. Wir hätten, wenn ich von den kammermusikalischen Unterhaltungen bei Nikolaus Leverkühn und den Orgelkonzerten im Dom absehe, praktisch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn höchst selten verirrte ein fahrender Virtuos oder ein auswärtiges Orchester mit seinem Dirigenten sich in unser Städtchen. Hier sprang nun Kretzschmar ein und sättigte mit seinem lebendigen Vorspielen, wenn auch nur vorläufig und andeutend, ein teils unbewußtes, teils uneingestandenes Bildungsverlangen meines Freundes, — so ausgiebig, daß ich von einer Sturzwelle musikalischen Erlebens sprechen möchte, die damals seine junge Rezeptivität überschwemmte. Nachher kamen Jahre der Verleugnung und Dissimulation, wo er viel weniger Musik aufnahm als damals, obgleich sich weit günstigere Gelegenheit dazu bot.
Es begann sehr natürlich damit, daß der Lehrer ihm an Werken von Clementi, Mozart und Haydn den Bau der Sonate demonstrierte. Aber nicht lange, so kam er von dieser auf die Orchester-Sonate, .die Symphonie, und führte nun, in der Klavier-Abstraktion, dem Lauschenden, mit zusammengezogenen Brauen und geöffneten Lippen Beobachtenden die verschiede

103

nen zeitlichen und persönlichen Abwandlungen dieser reichsten, zu Sinn und Geist vielfältigst sprechenden Erscheinungsform der absoluten Klangschöpfung vor, spielte ihm Instrumentalwerke von Brahms und Bruckner, Schubert, Robert Schumann und von Neueren und Neuesten, dazwischen solche von Tschaikowski, Borodin und Rimski-Korssakow, von Anton Dvorak, Berlioz, Cesar Franck und Chabrier, wobei er durch laute Erläuterungen beständig seine Einbildungskraft aufforderte, den pianistischen Schatten orchestral zu beleben: »Cello-Kantilene!« rief er. »Das müssen Sie sich gezogen denken! FagottSolo! Und die Flöte macht diese Fiorituren dazu! Paukenwirbel! Das sind die Posaunen! Hier Einsatz der Violinen! Lesen Sie's in der Partitur nach! Die kleine Trompeten-Fanfare da lasse ich aus, ich habe nur zwei Hände!«
Er tat, was er konnte, mit diesen zwei Händen und fügte oft, krähend und krächzend, aber durchaus erträglich, ja hinreißend durch innere Musikalität und enthusiastische Richtigkeit des Ausdrucks, seine singende Stimme hinzu. Abspringend und nebeneinanderstellend, kam er vom Hundertsten ins Tausendste, erstens, weil er Unendliches im Kopfe hatte und ihm beim einen das andere einfiel, dann aber besonders, weil es seine Passion war, zu vergleichen, Beziehungen aufzudecken, Einflüsse nachzuweisen, den verschränkten Zusammenhang der Kultur bloßzulegen. Es freute ihn, und stundenlang hielt er sich dabei auf, seinem Schüler sinnfällig zu machen, wie Franzosen auf Russen, Italiener auf Deutsche, Deutsche auf Franzosen gewirkt. Er ließ ihn hören, was Gounod von Schumann hatte, was Cesar Franck von Liszt, wie Debussy sich auf Mussorgski stützte, und wo d'Indy und Chabrier wagnerisierten. Zu zeigen, wie bloße Zeitgenossenschaft Wechselbeziehungen herstellt zwischen so verschiedenen Naturen wieTschaikowski und Brahms, gehörte auch zu diesen Lehrunterhaltungen. Er führte ihm Stellen vor aus den Werken des einen, die ebensogut von dem anderen hätten sein können. Bei Brahms, den er sehr hochachtete, demonstrierte er ihm die Bezugnahme auf Archaisches, auf alte Kirchentonarten, und wie dies aske

104

tische Element bei ihm zum Mittel eines düsteren Reichtums und dunkler Fülle werde. Er gab seinem Schüler zu bemerken, wie in dieser Art von Romantik, unter vernehmbarer Berufung auf Bach, das stimmenmäßige Prinzip dem modulatorisch-farbigen ernst entgegentrete und es zurückdränge. Wahre Stimmen-Selbständigkeit, wahre Polyphonie sei das aber ja doch nicht, sei es auch schon bei Bach nicht gewesen, bei dem man zwar die kontrapunktischen Künste der Vokalzeit überliefert finde, der aber doch von Geblüt ein Harmoniker und nichts anderes gewesen sei, — schon als Mann des temperierten Klaviers sei er das gewesen, dieser Voraussetzung für alle neuere harmonische Modulationskunst, und sein harmonischer Kontrapunkt habe mit alter vokaler Mehrstimmigkeit im Grunde nicht mehr zu tun gehabt als Händeis akkordisches al fresco.
Genau solche Äußerungen waren es nun, für die Adrian ein eigentümlich geschärftes Ohr hatte. Im Gespräch mit mir hielt er sich wohl darüber auf.
»Bachs Problem«, sagte er, »lautete: >Wie ist harmonisch sinnvolle Polyphonie möglich?< Bei den Neueren stellt die Frage sich etwas anders. Sie heißt da eher: >Wie ist eine Harmonik möglich, die den Anschein der Polyphonie erweckt?< Merkwürdig, es sieht nach schlechtem Gewissen aus —nach dem schlechten Gewissen der homophonen Musik vor der Polyphonie.«
Daß er durch so vieles Hören lebhaft zum Lesen von Partituren angeregt wurde, die er teils aus des Lehrers Privatbestande, teils aus der Stadtbibliothek entlieh, brauche ich nicht zu sagen. Ich betraf ihn oft bei solchem Studium und auch bei schriftlichem Instrumentierungswerk. Denn Bescheide über den Register-Umfang der einzelnen Orchester-Instrumente (Auskünfte, deren der Pflegesohn des Instrumentenhändlers übrigens kaum bedurfte) waren in den Unterricht eingeflossen, und Kretzschmar hatte angefangen, ihn mit der Orchestrierung kurzer klassischer Musikstücke, einzelner Klaviersätze von Schubert und Beethoven zu beauftragen, auch mit der Instrumentierung der Klavierbegleitung von Liedern: Übungsarbeiten, deren Schwächen und klangliche Mißgriffe er ihm dann

105

nachwies und verbesserte. In diese Zeit fiel Adrians erste Bekanntschaft mit der glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes, welche nach leidlich trockenen Vorspielen in Schubert wunderbar entspringt, um dann durch Schumann, Robert Franz, Brahms, Hugo Wolf und Mahler ihre national durchaus unvergleichlichen Triumphe zu feiern. Eine herrliche Begegnung! Ich war glücklich, ihr beiwohnen, an ihr teilnehmen zu können. Eine Perle und ein Mirakel wie Schumanns >Mondnacht< und die liebliche Sensitivität ihrer Sekunden-Begleitung; andere Eichendorff-Kompositionen desselben Meisters, wie jenes alle romantischen Gefahren und Bedrohungen der Seele beschwörende Stück, das mit der unheimlich moralischen Warnung endigt: »Hüte dich! Sei wach und munter!«; ein Fund und Treffer wie Mendelssohns >Auf Flügeln des Gesanges<, die Eingebung eines Musikers, den Adrian sehr vor mir herauszustreichen pflegte, indem er ihn den metrisch Reichsten von allen nannte, — welche fruchtbaren Gesprächsgegenstände! Bei Brahms, dem Liederkomponisten, schätzte mein Freund über alles die eigentümlich strenge und neue Stilgebung in den über Bibeltexte gesetzten >Vier ernsten Gesängen<, besonders die religiöse Schönheit des >O Tod, wie bitter bist du<. Schuberts immer zwielichtiges, vom Tode berührtes Genie aber suchte er dort mit Vorliebe auf, wo es einem gewissen nur halb definierten, aber unabwendbaren EinsamkeitsVerhängnis zu höchstem Ausdruck verhilft, wie in dem großartig eigenbrötlerischen >Ich komme vom Gebirge her< des Schmidt von Lübeck, und jenem >Was vermeid' ich denn die Wege, wo die andren Wandrer gehn< aus der >Winterreise<, mit dem allerdings ins Herz schneidenden Strophenbeginn:

"Habe ja doch nichts begangen,
Daß ich Menschen sollte scheu'n."

Diese Worte habe ich ihn, nebst den anschließenden:

"Welch ein törichtes Verlangen
Treibt mich in die Wüstenei'n?,"

die melodische Diktion andeutend, vor sich hinsprechen hören und dabei, zu meiner unvergessenen Bestürzung, Tränen in seine Augen treten sehen.
Selbstverständlich litt sein Instrumentals atz unter dem Mangel an sinnlicher Erfahrung, und Kretzschmar ließ es sich angelegen sein, dem abzuhelfen. In den Michaelis-, den Weihnachtsferien fuhr er mit ihm (die Zustimmung des Onkels eingeholt) zu vorfallenden Opern- und Konzertaufführungen in unferne Städte: nach Merseburg, nach Erfurt, sogar nach Weimar, damit ihm die klangliche Verwirklichung dessen zuteil würde, was er im bloßen Auszuge aufgenommen, allenfalls im Notenbild überblickt hatte. So mochte er die kindlich feierliche Esoterik der >Zauberflöte< in seine Seele schließen; die bedrohliche Anmut des >Figaro<; die Dämonie der tiefen Klarinetten in Webers ruhmreich gehobenem Singspiel vom Freischützen; verwandte Gestalten schmerzlich düsterer Ausgeschlossenheit wie die Hans Heilings und des Fliegenden Holländers, endlich die erhabene Humanität und Brüderlichkeit des >Fidelio< mit der großen Ouvertüre in C, die vor dem Schlußbilde gespielt wurde. Diese nun war denn doch, wie man erkennen konnte, das Imponierendste und Beschäftigendste von allem, was seine junge Empfänglichkeit berührt hatte. Tagelang hielt er nach jenem auswärtigen Abend die Partitur der »Nummer 3« an sich und las darin, wo er ging und stand.
»Lieber Freund«, sagte er, »wahrscheinlich hat man nicht auf mich gewartet, daß ich es feststellte, aber das ist ein vollkommenes Musikstück! Klassizismus, — ja; raffiniert ist es in keinem Zuge, aber es ist groß. Ich sage nicht: denn es ist groß, weil es auch raffinierte Größe gibt, aber die ist im Grunde viel familiärer. Sag, was hältst du von der Größe? Ich finde, es hat sein Unbehagliches, ihr so Aug in Aug gegenüberzustehen, es ist eine Mutprobe, — kann man den Blick denn eigentlich aushalten? Man hält ihn nicht aus, man hängt an ihm. Laß dir sagen, ich neige mehr und mehr zu dem Eingeständnis, daß es schon etwas Eigentümliches ist um euere Musik. Eine Bekundung höchster Tatkraft — nichts weniger 107

als abstrakt, aber gegenstandslos, einer Tatkraft im Reinen, im klaren Äther, — wo kommt denn so was im Weltall noch einmal vor! Wir Deutschen haben aus der Philosophie die Redewendung >an sich< übernommen und brauchen sie alle Tage, ohne uns viel Metaphysik dabei zu denken. Aber hier hast du's, solche Musik ist die Tatkraft an sich, die Tatkraft selbst, aber nicht als Idee, sondern in ihrer Wirklichkeit. Ich gebe dir zu bedenken, daß das beinahe die Definition Gottes ist. Imitatio Dei — mich wundert, daß das nicht verboten ist. Vielleicht ist es verboten. Mindestens ist es bedenklich, — ich will damit nur sagen: >bedenkenswert<. Schau her: Die energischste, wechselvollste, spannendste Folge von Geschehnissen, Bewegungsvorgängen, nur in der Zeit, aus Zeitgliederung, Zeit-ErfüUung, Zeit-Organisation allein bestehend, ins konkret Handlungsmäßige einmal ungefähr gerückt durch das wiederholte Trompetensignal von außen. Höchst nobel und großsinnig ist das alles, gehalten geistvoll und eher nüchtern, auch an den >schönen< Stellen, — weder sprühend, noch allzu prächtig, noch koloristisch sehr aufregend, nur eben meisterhaft, daß es nicht zu sagen ist. Wie das alles gebracht und gewendet und hingestellt ist, wie zu einem Thema hingeführt und ein Thema verlassen, aufgelöst wird, in der Auflösung sich Neues vorbereitet, die Füllfigur fruchtbar wird, so daß es nicht eine leere oder flaue Stelle gibt, wie der Rhythmus sich federnd umschaltet, eine Steigerung anläuft, Zuflüsse von mehreren Seiten aufnimmt, reißend anschwillt, in brausenden Triumph ausbricht, den Triumph selbst, den Triumph "an sich", — ich mag es nicht schön nennen, das Wort Schönheit war mir immer halb widerwärtig, es hat so ein dummes Gesicht, und den Leuten ist lüstern und faul zumut, wenn sie's sagen. Aber es ist gut, gut im Extrem, es könnte nicht besser sein, es dürfte vielleicht nicht besser sein - - «
So sprach er. Es war eine Sprechweise, die in ihrer Mischung aus intellektueller Selbstkontrolle und leichter Fieberhaftigkeit auf mich unbeschreiblich rührend wirkte: rührend, weil er das Fieberhafte darin bemerkte und Anstoß daran nahm; des Tremolos

108

in seiner noch knabenhaft spröden Stimme widerwillig gewahr wurde und sich errötend abwandte. Ein mächtiger Schub musikalischer Kenntnisnahme und erregter Beteiligung ging damals in sein Leben, um dann für Jahre, wenigstens scheinbar, völlig zum Stillstand zu kommen.


X

Während seines letzten Schuljahres, als Oberprimaner, begann Leverkühn, zu allem übrigen, mit dem nicht obligatorischen und von mir auch nicht betriebenen Studium des Hebräischen und verriet damit die Richtung, in der seine beruflichen Pläne lagen. Es »stellte sich heraus« (absichtlich wiederhole ich diese Wendung, die ich gebrauchte, als ich von dem Augenblicke berichtete, wo er mir mit einem Zufallswort sein religiöses Innenleben entdeckte) — es stellte sich heraus, daß er Theologie studieren wollte. Die Nähe des Abgangsexamens verlangte eine Entscheidung, die Wahl einer Fakultät, und er erklärte, seine Wahl getroffen zu haben: erklärte es auf Befragen seinem Onkel, der die Brauen hochzog und »Bravo!« sagte, erklärte es spontan seinen Eltern zu Buchel, die es noch wohlgefälliger aufnahmen, und hatte es mir schon früher kundgegeben, wobei er durchblicken ließ, daß er das Studium nicht als Vorbereitung für den praktischen Kirchen- und Seelsorgedienst, sondern für eine akademische Laufbahn auffasse.
Das sollte wohl eine Art von Beruhigung für mich sein und war es auch, denn ihn mir als Predigtamtskandidaten, Hauptpastor, oder selbst als Konsistorialrat und Generalsuperintendenten zu denken, war mir höchst unlieb. Wäre er wenigstens katholisch gewesen, wie wir es waren! Sein leicht einzubildender Aufstieg, die Stufen der Hierarchie hinan, zum Kirchenfürsten, hätte mich eine glücklichere, gemäßere Perspektive gedünkt. Aber sein Entschluß selbst, die Gottesgelahrtheit zum Beruf zu erwählen, war etwas wie ein Choc für mich, und ich glaube wohl, daß ich die Farbe wechselte, als er ihn mir eröffnete. Warum?

109

Ich hätte kaum zu sagen gewußt, welchen er denn sonst hätte fassen sollen. Eigentlich war nichts mir gut genug für ihn; das heißt: Die bürgerliche, empirische Seite jeder Berufsart wollte mir seiner nicht würdig scheinen, und vergebens hatte ich mich immer nach einer umgesehen, bei deren praktischer, gewerbsmäßiger Ausübung ich ihn mir recht vorstellen konnte. Der Ehrgeiz, den ich für ihn hegte, war absolut, und dennoch fuhr mir ein Schrecken ins Gebein bei der Einsicht — der sehr deutlichen Einsicht —, daß er seinerseits seine Wahl aus Hochmut getroffen hatte.
Gelegentlich hatten wir uns wohl darüber geeinigt, oder richtiger: waren der oft geäußerten Ansicht beigetreten, daß die Philosophie die Königin der Wissenschaften sei. Sie nehme, hatten wir festgestellt, unter ihnen ungefähr einen Platz ein wie die Orgel unter den Instrumenten. Sie überblicke sie, fasse sie geistig zusammen, ordne und läutere die Ergebnisse aller Forschungsgebiete zum Weltbilde, zu einer überherrschenden und maßgebenden, den Sinn des Lebens erschließenden Synthese, zur schauenden Bestimmung der Stellung des Menschen im Kosmos. Mein Nachdenken über die Zukunft meines Freundes, über einen »Beruf« für ihn, hatte mich immer zu ähnlichen Vorstellungen geführt. Sein vielseitiges Streben, wie es mich auch ängstlich um seine Gesundheit machte, sein von kommentierender Kritik begleiteter Erfahrungsdrang rechtfertigten solche Träume. Das Universellste, die Existenzform eines souveränen Polyhistors und Weltweisen, war mir eben recht für ihn erschienen, und — weiter hatte meine Einbildungskraft mich nicht geführt. Nun mußte ich erfahren, daß er seinesteils im stillen weitergegangen war, daß er unterderhand, ohne sich freilich die Miene davon zu geben — denn er äußerte seinen Entschluß in sehr ruhigen, unscheinbaren Worten —, meinen Freundesehrgeiz überboten und beschämt hatte.
Wenn man so will, gibt es ja eine Disziplin, in welcher die Königin Philosophie selbst zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft, akademisch gesprochen zum >Nebenfach< wird, und das ist die Theologie. Wo die Weisheitsliebe sich zur Anschauung des

110

höchsten Wesens, des Urquells des Seins, zur Lehre von Gott und den göttlichen Dingen erhebt, da, so könnte man sagen, ist der Gipfel wissenschaftlicher Würde, die höchste und vornehmste Sphäre der Erkenntnis, die Spitze des Denkens erreicht; dem beseelten Intellekt ist da sein erhabenstes Ziel gesetzt. Das erhabenste, weil hier die profanen Wissenschaften, zum Beispiel meine eigene, die Philologie, mit ihr die Historie und andere, zum bloßen Rüstzeug werden für den Dienst der Erkenntnis am Heiligen, — und das in tiefster Demut zu verfolgende Ziel auch wieder, weil es, nach dem Schriftworte, »höher ist als alle Vernunft« und der menschliche Geist dabei eine frömmere, gläubigere Bindung eingeht, als sonst irgendeine gelehrte Fachbeschränkung ihm auferlegt.
Dies ging mir durch den Sinn, als Adrian mir seinen Entschluß mitteilte. Wenn er ihn aus einem gewissen Instinkt seelischer Selbstzucht gefaßt habe, nämlich aus dem Verlangen, seinen kühlen und ubiquitären, alles leicht auffassenden, durch Superiorität verwöhnten Intellekt im Religiösen einzufrieden und ihn darunter zu beugen, so wollte ich einverstanden sein. Es hätte nicht nur meine immer im stillen rege, unbestimmte Sorge um ihn beschwichtigt, es hätte mich auch tief gerührt; denn das Sacrificium intellectus, das die anschauende Kenntnis der anderen Welt notwendig mit sich bringt, muß desto höher veranschlagt werden, je stärker der Intellekt ist, der es bringt. — Aber ich glaubte im Grunde nicht an meines Freundes Demut. Ich glaubte an seinen Stolz, auf den ich meinesteils stolz war, und konnte im Grunde nicht zweifeln, daß dieser die Quelle seines Entschlusses gewesen war. Daher die Mischung von Freude und Angst, die den Schrecken ausmachte, der mich bei seiner Mitteilung durchfuhr.
Er sah meine Verwirrung und schien sie dem Gedanken an einen Dritten, seinen Musiklehrer, zuzuschreiben.
»Du meinst gewiß, Kretzschmar wird enttäuscht sein«, sagte er. »Ich weiß wohl, er möchte, daß ich mich ganz der Polyhymnia ergebe. Sonderbar, daß die Leute einen immer auf den eigenen Weg ziehen wollen. Man kann es nicht allen recht

111

machen. Aber ihm werde ich zu bedenken geben, daß durch die Liturgie und ihre Geschichte die Musik stark ins Theologische hineinspielt, — praktischer und künstlerischer sogar als ins Mathematisch-Physikalische, in die Akustik.«
Indem er die Absicht kundgab, das Kretzschmarn zu sagen, sagte er es eigentlich mir, wie ich wohl merkte, und, wieder mit mir allein, ließ ich es mir wiederholt durch den Kopf gehen. Gewiß, im Verhältnis zur Wissenschaft von Gott und dem Gottesdienst nahmen, wie die weltlichen Wissenschaften, so auch die Künste, nahm gerade die Musik einen dienenden, hilfsmittelhaften Charakter an, und dieser Gedanke stand im Zusammenhang mit gewissen Diskussionen, die wir über das einerseits sehr förderliche, andererseits aber melancholisch belastende Schicksal der Kunst, ihre Emanzipation vom Kultus, ihre kulturelle Verweltlichung geführt hatten. Es war mir ganz klar: Der Wunsch, für ihn persönlich, für seine Berufsperspektive die Musik auf den Stand herabzusetzen, den sie einst, in seiner Meinung nach glücklicheren Zeiten, im Kultus-Verbände eingenommen, hatte bei seiner Berufswahl mitgewirkt. Wie die profanen Forschungsdisziplinen, so wollte er auch die Musik unterhalb der Sphäre sehen, der er selbst als Adept sich weihte, und unwillkürlich schwebte mir, seine Meinung versinnlichend, eine Art von Barock-Gemälde, ein riesiges Altarblatt vor, worauf alle Künste und Wissenschaften in unterwürfig darbringender Haltung der apotheosierten Gottesgelehrsamkeit ihre Huldigung darbrachten.
Adrian lachte laut über meine Vision, als ich ihm von ihr erzählte. Er war vorzüglicher Dinge damals, zum Spaßmachen sehr aufgelegt — begreiflicherweise; denn ist nicht der Augenblick des Flüggewerdens und anbrechender Freiheit, wenn das Tor der Schule sich hinter uns schließt, das Stadtgehäuse, in dem wir herangezogen worden, sich auftut und die Welt uns offen liegt, der glücklichste oder doch der erregend erwartungsvollste in unser aller Leben? Durch seine musikalischen Ausflüge mit Wendeil Kretzschmar in größere Nachbarstädte hatte Adrian ein paarmal am weltlichen Draußen im voraus genippt;

112

nun sollte Kaisersaschern, die Stadt der Hexen und Sonderlinge, des Instrumentenlagers und des Kaisergrabes im Dom, ihn endgültig entlassen, und nur noch besuchsweise, lächelnd wie einer, der anderes kennt, sollte er wieder in ihren Gassen wandeln.
War es so? Hat Kaisersaschern ihn jemals freigegeben? Hat er es nicht mit sich genommen, wohin immer er ging, und ist er nicht von ihm bestimmt worden, wann immer er zu bestimmen glaubte? Was ist Freiheit! Nur das Gleichgültige ist frei. Das Charakteristische ist niemals frei, es ist geprägt, determiniert und gebunden. War es nicht »Kaisersaschern«, was aus meines Freundes Entschlüsse sprach, Theologie zu studieren? Adrian Leverkühn und diese Stadt, — gewiß, das ergab zusammen wohl Theologie; nachträglich fragte ich mich, was ich denn sonst erwartet hatte. Er widmete sich später der Komposition. Aber wenn es sehr kühne Musik war, die er schrieb, — war es etwa »freie« Musik, Allerweltsmusik? Das war es nicht. Es war die Musik eines nie Entkommenen, war bis in die geheimste genialisch-skurrile Verflechtung hinein, in jedem Kryptenhall und -hauch, der davon ausging, charakteristische Musik, Musik von Kaisersaschern. —
Er war, sage ich, sehr aufgeräumt damals, und wie denn nicht! Vom mündlichen Examen auf Grund der Reife seiner schriftlichen Arbeiten dispensiert, hatte er sich mit Dank für alle Förderung von seinen Lehrern verabschiedet, bei denen der Respekt vor der Fakultät, die er gewählt, die geheime Kränkung zurückdrängte, die seine geringschätzige Mühelosigkeit ihnen immer zugefügt hatte. Immerhin hatte der würdige Direktor der >Gelehrten Schule der Brüder vom gemeinen Leben<, ein Pommer namens Dr. Stoientin, der sein Professor im Griechischen, Mittelhochdeutschen und Hebräischen gewesen war, es bei der privaten Abschiedsaudienz an einem Mahnwort in dieser Richtung nicht fehlen lassen.
»Vale«, hatte er gesagt, »und Gott mit Ihnen, Leverkühn! — Der Segensspruch kommt mir vom Herzen, und ob nun Sie dieser Meinung sind oder nicht, ich fühle, daß Sie ihn brauchen können. Sie sind ein Mensch von reichen Gaben, und Sie wissen

113

es — wie sollten Sie es nicht wissen? Sie wissen auch, daß Der dort oben, von dem alles kommt, sie Ihnen anvertraute, denn ihm wollen Sie sie ja darbringen. Sie haben recht: Natürliche Verdienste sind Verdienste Gottes um uns, nicht unsere eigenen. Sein Widerpartner ist es, durch Hochmut zu Falle gekommen er selbst, der trachtet, es uns vergessen zu lassen. Das ist ein arger Gast und brüllender Löwe, der geht und sucht, welchen er verschlinge. Sie sind von denen, die allen Grund haben, vor seinen Schlichen auf der Hut zu sein. Es ist ein Kompliment, das ich Ihnen da mache, nämlich dem, was Sie von Gottes wegen sind. Seien Sie's in Demut, mein Freund, nicht in Trutz und Poch; und bleiben Sie eingedenk, daß Selbstgenüge dem Abfall gleichkommt und dem Undank gegen den Spender aller Gnaden!«
So der wackere Schulmann, unter dem ich später noch an dem Gymnasium Lehrdienst versah. Adrian berichtete mir lächelnd von der Kommunikation auf einem der vielen Feld- und Waldspaziergänge, die wir in jener Osterzeit vom Hofe Buchel aus machten. Denn dort verbrachte er nach dem Abitur einige Wochen der Freiheit, und mich hatten seine guten Eltern zu seiner Gesellschaft mit eingeladen. Ich erinnere mich wohl des Gesprächs, das wir damals im Schlendern über Stoientins Mahnworte führten, besonders über die Redensart »Natürliche Verdienste«, deren er sich bei seiner Handschlagrede bedient hatte. Adrian wies nach, daß er sie von Goethe übernommen habe, der sie gern gebraucht oder auch häufig von »angeborenen Verdiensten« spreche, indem er durch die paradoxe Verbindung dem Wort > Verdienst* seinen moralischen Charakter zu nehmen und, umgekehrt, das Natürlich-Angeborene zu einem außer-moralisch-aristokratischen Verdienst zu erheben suche. Darum habe er sich gegen die Forderung der Bescheidenheit gewandt, die immer von den Natürlich-Benachteiligten komme, und erklärt: »Nur die Lumpe sind bescheiden. «Direktor Stoientin aber habe das Goethe'sche Wort vielmehr im Geiste Schillers gebraucht, dem an der Freiheit alles gelegen gewesen sei, und der darum zwischen Talent und persönlichem Ver-

114

dienst moralisch unterschieden, Verdienst und Glück, die Goethe untrennbar verschränkt sehe, scharf voneinander getrennt habe. Das tue auch der Direktor, wenn er die Natur Gott nenne und angeborene Talente als die Verdienste Gottes um uns bezeichne, die wir in Demut zu tragen hätten.
»Die Deutschen«, sagte der neugebackene Student, einen Grashalm im Munde, »haben eine doppelgleisige und unerlaubt kombinatorische Art des Denkens, sie wollen immer eins und das andere, sie wollen alles haben. Sie sind imstande, antithetische Denk- und Daseinsprinzipien in großen Persönlichkeiten kühn herauszustellen. Aber dann vermantschen sie sie, gebrauchen die Prägungen der einen im Sinn 4er andern, bringen alles durcheinander und meinen, sie können Freiheit und Vornehmheit, Idealismus und Naturkindlichkeit unter einen Hut bringen. Das geht aber wahrscheinlich nicht.«
»Sie haben es eben beides in sich«, erwiderte ich, »sonst hätten sie's in jenen beiden nicht herausstellen können. Ein reiches Volk.«
»Ein konfuses Volk«, beharrte er, »und für die andern verwirrend.«
Übrigens philosophierten wir selten.so in diesen ländlichen, unbeschwerten Wochen. Im ganzen war er damals zum Lachen und Unsinnmachen mehr aufgelegt als zu metaphysischen Gesprächen. Seinen Sinn für das Komische, sein Verlangen danach und seine Neigung zum Lachen, ja zum Tränen-Lachen habe ich schon früher zu bemerken gegeben, und ich hätte ein falsches Bild von ihm vermittelt, wenn der Leser solche Ausgelassenheit nicht mit seinem Charakter zu vereinigen wüßte. Von Humor möchte ich nicht sprechen; für mein Ohr lautet das Wort zu behaglich und mäßig, um auf ihn zu passen. Seine Lachlust schien vielmehr eine Art von Zuflucht und eine leicht orgiastische, mir niemals ganz liebe und geheuere Auflösung der Lebensstrenge, die das Erzeugnis außerordentlicher Gaben ist. Ihr freien Lauf zu lassen, bot jetzt der Rückblick auf die vollendete Schulzeit, auf possenhafte Mitschüler- und Lehrertypen Gelegenheit, wozu Erinnerungen kamen an jüngste

115

Bildungserlebnisse, mittelstädtische Opern-Aufführungen, in deren Empirie es an burlesken Einschlägen, unbeschadet der Weihe des verkörperten Werkes selbst, nicht hatte fehlen können. So mußte ein bauchiger und x-beiniger König Heinrich im >Lohengrin< herhalten und das runde, schwarze Mundloch im fußsackartigen Barte, aus dem er seinen polternden Baß hatte verströmen lassen. Adrian wollte sich ausschütten über ihn, — und das ist nur ein Beispiel, vielleicht ein allzu konkretes, für die Anlässe seiner Lachtrunkenheit. Oft war diese viel gegenstandsloser, die reine Alberei, und ich gestehe, daß ich stets gewisse Schwierigkeiten hatte, ihm dabei zu sekundieren. Ich liebe das Lachen nicht so sehr und war, wenn er sich ihm überließ, immer gezwungen, an eine Geschichte zu denken, die ich nur durch seine eigene Überlieferung kannte. Sie stammte aus des Augustinus >De civitate Dei< und lautete dahin, daß Cham, der Sohn des Noah und Vater Zoroasters, des Magiers, der einzige Mensch gewesen sei, der bei seiner Geburt gelacht habe, was nur mit Hilfe des Teufels habe geschehen können. Das war bei mir zu einer jeweils auftauchenden Zwangserinnerung geworden, aber es war wohl nur eine Zutat zu anderen Hemmungen, zum Beispiel daß der Blick, den ich innerlich auf ihn richtete, zu ernst und von ängstlicher Spannung nicht frei genug war, als daß ich ihm in der Ausgelassenheit recht hätte folgen können. Auch machte wohl einfach eine gewisse Trockenheit und Steifigkeit meiner Natur mich ungeschickt dazu.
Später fand er in dem Anglizisten und Schriftsteller Rüdiger Schildknapp, dessen Bekanntschaft er in Leipzig machte, einen weit besseren Partner für diese Laune, weshalb ich auf den Mann auch immer ein wenig eifersüchtig gewesen bin.

116

XI

Zu Halle an der Saale finden sich theologische und philologisch-pädagogische Überlieferungen vielfach verschränkt, vor allem in der historischen Figur August Hermann Francke's, des Schutzheiligen der Stadt, sozusagen, — jenes pietistischen Erziehers, der dort Ende des siebzehnten Jahrhunderts, also kurz nach Gründung der Universität, die berühmten >Franckeschen Stiftungen^ nämlich Schulen und Waisenhäuser schuf und in seiner Person und Wirksamkeit das gottselige Interesse mit dem humanistisch-sprachwissenschaftlichen verband. Stellt nicht auch die Canstein'sche Bibelanstalt, diese erste Autorität für die Revision von Luthers Sprachwerk, die Verbindung von Religion und Textkritik her? Außerdem wirkte in Halle zu jener Zeit ein hervorragender Latinist, Heinrich Osiander, zu dessen Füßen zu sitzen mich sehr verlangte, und zum Überfluß schloß, wie ich von Adrian hörte, das kirchengeschichtliche Kolleg des Professors D. Dr. Hans Kegel eine ungewöhnliche Menge profan-historischen Stoffes ein, was ich mir, da ich Geschichte als erstes Nebenfach ansah, zu Nutzen zu machen wünschte.
Es hatte also seine gute geistige Rechtfertigung, daß ich, nach einem je zweisemestrigen Studium in Jena und Gießen, die Brust der Alma Mater Hallensis anzunehmen beschloß, die übrigens für die Einbildungskraft den Vorzug der Identität mit der Universität Wittenberg besitzt; denn mit dieser wurde sie bei ihrer Wiedereröffnung nach den Napoleonischen Kriegen zusammengelegt. Leverkühn war dort schon seit einem halben Jahr immatrikuliert, als ich zu ihm stieß, und ich leugne natürlich nicht, daß der persönliche Grund seiner Anwesenheit stark, ja entscheidend mitgespielt hatte bei meinem Entschluß. Kurz nach seinem Eintreffen hatte er, offenbar aus einem gewissen Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühl, mich sogar aufgefordert, zu ihm nach Halle zu kommen, und wenn auch noch einige Monate vergehen mußten, ehe ich seinem Rufe folgte, so war ich doch gleich bereit dazu gewesen, ja vielleicht hätte es seiner Einladung gar nicht bedurft. Mein eigener Wunsch, ihm nahe zu sein, zu sehen, wie er es trieb, welche Fortschritte er machte und wie seine Gaben sich in der Luft akademischer Freiheit entfalteten; dieser Wunsch, in täglichem Austausch mit ihm zu leben, ihn zu überwachen, von nahebei ein Auge

117

auf ihn zu haben, hätte wahrscheinlich von sich aus genügt, mich zu ihm zu führen. Und dazu kamen, wie gesagt, jene sachlich-studienmäßigen Gründe.
Selbstverständlich kann ich die beiden Jugendjahre, die ich zu Halle mit dem Freunde verlebte, und deren Gang durch Ferien-Aufenthalte in Kaisersaschern und auf seinem väterlichen Hof unterbrochen war, in diesen Blättern nur als ebenso vermindertes Abbild sich spiegeln lassen wie seine Schülerzeit. Waren es glückliche Jahre? Ja, als Kernstück einer frei strebenden, mit frischen Sinnen Umschau haltenden und in die Scheuern sammelnden Lebensepoche — und sofern ich sie an der Seite eines Kindheitsgenossen verbrachte, an dem ich hing, ja dessen Sein, dessen Werden, dessen Lebensfrage mich im Grunde mehr interessierte als meine eigene. Diese war einfach; ich brauchte ihr nicht viele Gedanken zu widmen, sondern nur durch treue Arbeit die Voraussetzungen für ihre vorgegebene Lösung zu schaffen. Die seine war höher und in gewissem Sinne rätselhafter, ein Problem, dem nachzuhängen die Sorge um mein eigenes Fortkommen mir immer viel Zeit und seelische Kräfte übrigließ; und wenn ich zögere, jenen Jahren das übrigens immer fragwürdige Beiwort >glücklich< zuzugestehen, so darum, weil ich durch das Zusammenleben mit ihm weit stärker in seine Studien-Sphäre hineingezogen wurde als er in die meine, und weil die theologische Luft mir nicht gemäß, nicht geheuer war, weil in ihr zu atmen mich bedrückte und mir innere Verlegenheit bereitete. Ich fühlte mich zu Halle, dessen geistiger Raum seit Jahrhunderten voll war von religiösen Kontroversen, das heißt: von jenem geistlichen Zank und Streit, der immer dem humanistischen Bildungstriebe so abträglich gewesen ist, — ich fühlte mich dort ein wenig wie einer meiner wissenschaftlichen Ahnen, Crotus Rubianus, der um 1530 zu Halle Canonicus war, und den Luther nicht anders als »den Epikuräer Crotus« oder auch »Dr. Kröte, des Cardinais zu Mainz Tellerlecker« nannte. Er sagte ja auch: »Des Teufels Saw, der Bapst« und war allerwegen ein unleidlicher Grobian, wiewohl ein großer Mann. Stets habe ich mit der

118

Beklemmung sympathisiert, die die Reformation Geistern wie Crotus schuf, weil sie einen Einbruch subjektiver Willkür in die objektiven Satzungen und Ordnungen der Kirche in ihr sahen. Dabei war er von der gebildetsten Friedensliebe, zu vernünftigen Zugeständnissen gern geneigt, der Freigabe des Kelches nicht entgegen, — und wurde dann freilich gerade wieder dadurch in die peinlichste Verlegenheit gesetzt, nämlich durch die greuliche Härte, mit welcher sein Herr, der Erzbischof Albrecht, den zu Halle vorgekommenen Genuß des Abendmahls in beiderlei Gestalt bestrafte.
So geht es der Toleranz, der Kultur- und Friedensliebe zwischen den Feuern des Fanatismus. Es war Halle, das den ersten lutherischen Superintendenten hatte: Justus Jonas, der 1541 dorthin kam und einer von denen war, die zu des Erasmus Kummer aus dem humanistischen Lager ins reformatorische übergegangen waren, wie auch Melanchthon und Hütten. Noch ärger aber war dem Weisen von Rotterdam der Haß, den Luther und die Seinen den klassischen Studien zuzogen, von denen Luther persönlich wenig genug besaß, die man jedoch als die Quelle des geistlichen Aufruhrs betrachtete. Was aber damals im Schöße der Weltkirche sich ereignete, der Aufstand subjektiver Willkür nämlich gegen die objektive Bindung, das sollte sich hundert und einige Jahre später innerhalb des Protestantismus selbst wiederholen: als Revolution der frommen Gefühle und der inneren himmlischen Freude gegen eine versteinte Orthodoxie, von welcher freilich kein Bettelmann mehr ein Stück Brot hatte nehmen wollen; als Pietismus also, der bei Gründung der Universität Halle die ganze theologische Fakultät besetzte. Auch er, dessen Hochburg die Stadt dann lange blieb, war, wie einst das Luthertum, eine Erneuerung der Kirche, eine reformatorische Wiederbelebung der schon absterbenden, schon allgemeiner Gleichgültigkeit verfallenen Religion. Und meinesgleichen mag sich wohl fragen, ob diese immer wiederkehrenden Lebensrettungen eines schon zu Grabe sich Neigenden unter dem kulturellen Gesichtspunkt eigentlich zu begrüßen, ob nicht die Reformatoren eher als rückfällige

119

Typen und Sendlinge des Unglücks zu betrachten sind. Es ist ja wohl kein Zweifel, daß der Menschheit unendliches Blutvergießen und die entsetzlichste Selbstzerfleischung erspart geblieben wäre, wenn Martin Luther die Kirche nicht wiederhergestellt hätte.
Ungern würde ich es sehen, wenn man mich nach dem Gesagten für einen durchaus irreligiösen Menschen hielte. Das bin ich nicht, halte es vielmehr mit Schleiermacher, auch einem Hallenser Gotteskundigen, der die Religion als »den Sinn und Geschmack für das Unendliche« definierte und sie einen im Menschen vorhandenen »Tatbestand« nannte. Nicht mit philosophischen Sätzen also habe die Wissenschaft von der Religion es zu tun, sondern mit einem innerlich gegebenen, seelischen Faktum. Das erinnert an den ontologischen Gottesbeweis, der mir immer von allen der liebste war, und der von der subjektiven Idee eines höchsten Wesens auf dessen objektives Dasein schließt. Daß er vor der Vernunft sowenig wie die anderen standhält, hat mit den energischsten Worten Kant bewiesen. Wissenschaft aber kann der Vernunft nicht entraten, und aus dem Sinn für das Unendliche und die ewigen Rätsel eine Wissenschaft machen zu wollen, heißt zwei einander grundfremde Sphären auf eine in meinen Augen unglückliche und fortwährend in Verlegenheit stürzende Weise zusammenzuzwingen. Religiosität, die ich als keineswegs meinem Herzen fremd betrachte, ist sicherlich etwas anderes als positive und konfessionell gebundene Religion. Wäre es nicht besser gewesen, die »Tatsache« des menschlichen Sinnes für das Unendliche dem frommen Gefühl, den schönen Künsten, der freien Kontemplation, ja auch der exakten Forschung zu überlassen, welche als Kosmologie, Astronomie, theoretische Physik diesem Sinn mit durchaus religiöser Hingabe an das Geheimnis der Schöpfung zu dienen vermag, — anstatt ihn als Geisteswissenschaft auszusondern und Dogmengebäude daraus zu entwickeln, deren Bekenner sich um einer Kopula willen aufs Blut befehden? Der Pietismus, seiner schwärmerischen Natur gemäß, wollte freilich eine scharfe Trennung von Frömmigkeit

120

und Wissenschaft herstellen und behaupten, daß keine Bewegung, keine Veränderung im wissenschaftlichen Raum irgendwelchen Einfluß auf den Glauben ausüben könne. Aber das war eine Täuschung, denn allezeit hat die Theologie freiwilligunfreiwillig von den wissenschaftlichen Strömungen der Epoche sich bestimmen lassen, hat immer ein Kind ihrer Zeit sein wollen, obgleich die Zeiten ihr das in wachsendem Maß erschwerten und sie in den anachronistischen Winkel drängten. Gibt es eine Disziplin, bei deren bloßem Namen wir uns dergestalt in die Vergangenheit, ins sechzehnte, ins zwölfte Jahrhundert zurückversetzt fühlen? Da hilft keine Anpassung, kein Zugeständnis an die wissenschaftliche Kritik. Was diese erzeugen, ist eine hybride Halb-und-Halbheit von Wissenschaft und Offenbarungsglauben, die auf dem Wege zur Selbstaufgabe liegt. Die Orthodoxie selbst beging den Fehler, die Vernunft in den religiösen Bezirk einzulassen, indem sie die Glaubenssätze vernunftgemäß zu beweisen suchte. Unter dem Druck der Aufklärung hatte die Theologie fast nichts zu tun, als sich gegen die unleidlichen Widersprüche, die man ihr nachwies, zu verteidigen, und um ihnen nur zu entgehen, nahm sie vom offenbarungsfeindlichen Geist so viel in sich auf, daß es auf die Preisgabe des Glaubens hinauslief. Es war die Zeit der »vernünftigen Gottesverehrung« und eines Theologengeschlechts, in dessen Namen Wolff zu Halle erklärte: »Alles muß geprüft werden an der Vernunft wie am Stein der Weisen«; eines Geschlechts, das von der Bibel alles, was nicht der »moralischen Ausbesserung« diente, für veraltet erklärte und zu verstehen gab, daß es in der Geschichte der Kirche und ihrer Lehre nur eine Komödie der Irrungen sähe. Da dies ein wenig weit ging, stellte eine Vermittlungstheologie sich ein, die zwischen Orthodoxie und einem durch Vernünftigkeit immer zur Verwilderung neigenden Liberalismus eine eher konservative Mitte einzuhalten suchte. Allein die Begriffe der >Rettung< und der >Preisgabe< haben seitdem das Leben der >Wissenschaft von der Religion< bestimmt, — Begriffe, die beide etwas Fristendes haben; die Theologie hat damit ihr Leben gefristet. Sie hat, in

121

ihrer konservativen Form, an der Offenbarung und der traditionellen Exegese festhaltend, von den Elementen der biblischen Religion zu >retten< gesucht, was irgend davon zu retten war, und sie hat andererseits die historisch-kritische Methode der profanen Geschichtswissenschaft liberal akzeptiert und ihre wichtigsten Inhalte, den Wunderglauben, erhebliche Teile der Christologie, die leibliche Auferstehung Jesu und was nicht noch, der wissenschaftlichen Kritik >preisgegeben<. Was für eine Wissenschaft ist aber das, die zur Vernunft in einem so prekären, nötigungsvollen Verhältnis steht und an den Kompromissen, die sie mit ihr schließt, immer zugrunde zu gehen droht? Nach meinem Dafürhalten ist liberale Theologie< ein hölzernes Eisen, eine contradictio in adjecto. Kulturbejahend und willig zur Anpassung an die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie ist, setzt sie das Religiöse zur Funktion der menschlichen Humanität herab und verwässert das Ekstatische und Paradoxe, das dem religiösen Genius wesentlich ist, zu einer ethischen Fortschrittlichkeit. Das Religiöse geht im bloß Ethischen nicht auf, und so kommt es, daß der wissenschaftliche und der eigentlich theologische Gedanke sich wieder scheiden. Die wissenschaftliche Überlegenheit der liberalen Theologie, heißt es nun, sei zwar unbestreitbar, aber ihre theologische Position sei schwach, denn ihrem Moralismus und Humanismus mangle die Einsicht in den dämonischen Charakter der menschlichen Existenz. Sie sei zwar gebildet, aber seicht, und von dem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik des Lebens habe die konservative Tradition sich im Grunde weit mehr bewahrt, habe darum aber auch zur Kultur ein tieferes, bedeutenderes Verhältnis als die fortschrittlich bürgerliche Ideologie.
Hier beobachtet man deutlich die Infiltration des theologischen Denkens durch irrationale Strömungen der Philosophie, in deren Bereich ja längst das Untheoretische, das Vitale, der Wille oder Trieb, kurz ebenfalls das Dämonische zum Hauptthema der Theologie geworden war. Man beobachtet gleichzeitig ein Aufleben des Studiums der katholisch-mittelalterlichen

122
Philosophie, eine Hinwendung zum Neu-Thomismus und zur Neu-Scholastik. Auf diese Weise kann freilich die liberal verblaßte Theologie wieder tiefere und stärkere, ja glühendere Farben annehmen; sie kann den ästhetisch-altertümlichen Vorstellungen, die man unwillkürlich mit ihrem Namen verbindet, wieder gerechter werden. Der gesittete Menschengeist aber, nenne man ihn nun bürgerlich oder lasse ihn eben einfach als gesittet gelten, kann sich dabei eines Gefühls des Unheimlichen nicht erwehren. Denn die Theologie, in Verbindung gebracht mit dem Geist der Lebensphilosophie, dem Irrationalismus, läuft ihrer Natur nach Gefahr, zur Dämonologie zu werden. —
Dies alles sage ich nur, um zu erklären, was ich mit dem Unbehagen meine, das der Aufenthalt in Halle und die Teilnahme an Adrians Studien, die Vorlesungen, denen ich als Hospitant, um zu hören, was er hörte, an seiner Seite folgte, mir zuweilen erregten. Verständnis für diese Beklemmung fand ich bei ihm mitnichten, denn er liebte es wohl, sich über theologische Fragen, die im Kolleg berührt, im Seminar erörtert worden waren, mit mir zu unterhalten, aber jedem Gespräch, das der Sache an die Wurzel gegangen wäre und der problematischen Stellung der Theologie unter den Wissenschaften selbst gegolten hätte, wich er aus und vermied also gerade das, was nach meiner leicht gequälten Empfindung allem übrigen hätte vorangehen sollen. So war es übrigens ja auch in den Vorlesungen, und so verhielt es sich beim Verkehr mit seinen Commilitonen, den Mitgliedern der christlichen Studentenverbindung >Winfried<, der er aus äußeren Gründen sich angeschlossen hatte, und deren Gast auch ich zuweilen war. Davon vielleicht noch später. Hier will ich nur sagen, daß diese jungen Leute, teils bläßlich kandidatenhafte, teils bäuerlich robuste, teils auch distinguiertere Gestalten mit dem Gepräge der Herkunft aus gut akademischer Umwelt, — daß sie eben Theologen waren und sich als solche mit anständigem Gottesfrohsinn gebärdeten. Aber wie man Theolog sein kann, wie man unter den geistigen Umständen der Gegenwart darauf verfällt, diesen Beruf zu wählen, es sei denn, man gehorche

123

einfach dem Mechanismus einer Familienüberlieferung, darüber ließen sie sich nicht aus, und von meiner Seite wäre es zweifellos eine taktlose Anzapfung gewesen, sie deswegen ins Verhör zu nehmen. Eine so radikale Fragestellung wäre allenfalls bei alkoholisch enthemmten Gemütern, im Verlauf einer Kneiperei, am Platze und aussichtsvoll gewesen. Aber es versteht sich, daß die Verbindungsbrüder vom >Winfried< den Vorzug hatten, nicht nur die Mensur, sondern auch das »In die Kanne steigen« zu verschmähen und also immer nüchtern, das heißt: kritisch aufrührenden Grundfragen unzugänglich waren. Sie wußten, daß Staat und Kirche geistliche Beamte brauchten, und darum bereiteten sie sich auf diese Laufbahn vor. Die Theologie war ihnen etwas Gegebenes, — und etwas historisch Gegebenes ist sie ja freilich auch.
Ich mußte es mir gefallen lassen, daß auch Adrian sie als ein solches hinnahm, obwohl es mich schmerzte, daß ungeachtet unserer in Kindertagen wurzelnden Freundschaft eine dringlichere Nachfrage mir bei ihm sowenig wie bei seinen Commilitonen, erlaubt war. Darin zeigte sich, wie wenig er einen an sich heranließ und wie unüberschreitbare Grenzen bei ihm der Vertraulichkeit gesetzt waren. Aber sagte ich nicht, daß ich seine Berufswahl als bedeutend, als charakteristisch empfunden hätte? Habe ich sie nicht mit dem Namen >Kaisersaschern< erklärt? Oft rief ich diesen zu Hilfe, wenn die Problematik von Adrians Studiengebiet mich plagte. Ich sagte mir, daß wir beide uns als rechte Kinder des Winkels deutscher Altertümlichkeit erwiesen, worin wir aufgebracht worden waren: ich als Humanist und er als Theolog; und wenn ich mich umsah in unserem neuen Lebenskreis, so fand ich, daß der Schauplatz sich zwar erweitert, aber nicht wesentlich verändert hatte.

124

XII

Halle war, wenn auch keine Großstadt, so doch eine große Stadt von mehr als zweihunderttausend Einwohnern, aber trotz allen neuzeitlichen Massenbetriebes verleugnete es, wenigstens im Stadtkern, wo wir beide wohnten, nicht den Stempel hoher Alterswürde. Meine >Bude<, wie man studentisch sagt, lag in der Hansastraße, einem Gäßchen hinter der Moritzkirche, das ebensogut zu Kaisersaschern seinen verschollenen Lauf hätte haben können; und Adrian hatte in einem gegiebelten Bürgerhause am Marktplatz ein Zimmer mit Alkoven gefunden, das er als Untermieter einer älteren Beamtenwitwe während der zwei Jahre seines Aufenthaltes bewohnte. Der Blick ging auf den Platz, das mittelalterliche Rathaus, die Gotik der Marienkirche, zwischen deren gekuppelten Türmen eine Art von Seufzerbrücke geht; er umfaßte dazu den frei dastehenden >Roten Turm<, ein sehr merkwürdiges Bauwerk von ebenfalls gotischem Stil, das Rolandsstandbild und die Bronzestatue Händeis. Das Zimmer war nicht mehr als ordentlich, mit einer schwachen Andeutung bürgerlicher Pracht in Gestalt einer roten Plüschdecke über dem viereckigen Sofatisch, auf dem Bücher lagen, und an dem er morgens seinen Milchkaffee trank. Er hatte die Einrichtung durch ein geliehenes Pianino vervollständigt, das mit Noten, auch selbstgeschriebenen, bedeckt war. Darüber an der Wand war mit Reißnägeln ein arithmetischer Stich befestigt, den er in irgendeinem Altkramladen aufgetrieben: ein sogenanntes magisches Quadrat, wie es neben dem Stundenglase, dem Zirkel, der Waage, dem Polyeder und anderen Symbolen auch auf Dürers >Melencolia< erscheint. Wie dort war die Figur in sechzehn arabisch bezifferte Felder eingeteilt, so zwar, daß die 1 im rechten unteren, die 16 im linken oberen Felde zu finden war; und die Magie — oder Kuriosität — bestand nun darin, daß diese Zahlen, wie man sie auch addierte, von oben nach unten, in die Quere oder in der Diagonale, immer die Summe 34 ergaben. Auf welchem Anordnungsprinzip dies zauberisch gleichmäßige Ergebnis beruhte, habe ich nie herausbringen können, aber schon vermöge des prominenten Platzes über dem Instrument, den Adrian dem Blatte gegeben, zog es immer wieder die Augen auf sich, und ich glaube, es verging mir wohl kein Besuch in seinem

125

Logis, ohne daß ich mit einem raschen Blick querhin, schräg hinauf oder gerade hinunter die fatale Stimmigkeit nachgeprüft hätte.
Zwischen meinem und seinem Quartier war es ein Hin und Her wie einst zwischen den >Seligen Boten< und seines Onkels Haus: abends sowohl, auf dem Heimwege von einem Theater, einem Konzert oder aus der >Winfried<-Vereinigung, wie auch am Morgen, wenn einer den anderen zur Universität abholte und wir, bevor wir uns auf den Weg machten, unsere Kolleghefte verglichen. Philosophie, die reguläres Prüfungsfach im ersten theologischen Examen ist, war der Ort, an dem unser beider Studienprogramme sich von selbst berührten, und beide hatten wir bei Kolonat Nonnenmacher, damals einer der Leuchten der Universität Halle, belegt, der mit viel Schwung und Geist über die Vor-Sokratiker, die ionischen Natur-Philosophen, über Anaximander und, am breitesten, über Pythagoras las, wobei viel Aristotelisches einfloß, da man ja über die pythagoräische Welterklärung fast nur durch den Stagiriten unterrichtet ist. Da lauschten wir denn, mitschreibend und von Zeit zu Zeit in das sanft lächelnde Gesicht des weiß bemähnten Professors aufblickend, dieser kosmologischen Frühkonzeption eines strengen und frommen Geistes, der seine Grundleidenschaft, die Mathematik, die abstrakte Proportion, die Zahl zum Prinzip der Weltentstehung und des Weltbestehens erhob und, der Allnatur als ein Wissender, ein Eingeweihter entgegenstehend, sie zuerst mit großer Gebärde als »Kosmos«, als Ordnung und Harmonie, als übersinnlich tönendes IntervallSystem der Sphären ansprach. Die Zahl und das Zahlenverhältnis als konstituierender Inbegriff des Seins und der sittlichen Würde, — es war höchst eindrucksvoll, wie hier das Schöne, das Exakte, das Sittliche feierlich zusammenflössen zur Idee der Autorität, die den pythagoräischen Bund, die esoterische Schule religiöser Lebenserneuerung, des schweigenden Gehorsams und der strikten Unterwerfung unter das »Autos epha« beseelte. Ich muß mich der Taktlosigkeit anklagen, weil ich bei solchen Worten unwillkürlich nach Adrian blickte, um

126

in seiner Miene zu lesen. Zur Taktlosigkeit nämlich wurde es gemacht durch das Unbehagen, das verdrießlich errötende Sichabwenden, mit dem er es aufnahm. Er liebte anzügliche Blicke nicht, weigerte sich durchaus, darauf einzugehen, sie zu erwidern, und es ist fast unbegreiflich, daß ich, obgleich bekannt mit seiner Eigenheit, solche Nachschau nicht immer unterlassen konnte. Ich verscherzte mir dadurch die Möglichkeit, nachher über Dinge, mit denen mein stummes Blicken ihn in persönliche Verbindung gebracht, sachlich unbefangen mit ihm zu reden.
Desto besser, wenn ich der Versuchung widerstanden und die Diskretion geübt hatte, die er verlangte. Wie gut haben wir uns, aus Nonnenmachers Kolleg heimgehend, über den unsterblichen, durch die Jahrtausende wirksamen Denker unterhalten, dessen vermittelndem geschichtlichen Wissen man die Kenntnis der pythagoräischen Weltkonzeption verdankt! Des Aristoteles Lehre von Stoff und Form entzückte uns: vom Stoff als dem Potentiellen, Möglichen, das zur Form drängt, um sich zu verwirklichen; von der Form als dem bewegenden Unbewegten, das Geist ist und Seele, die Seele des Seienden, die es zur Selbstverwirklichung, Selbstvollendung in der Erscheinung treibt; von der Entelechie also, die, ein Stück Ewigkeit, den Körper belebend durchdringt, sich im Organischen gestaltend manifestiert und sein Getriebe lenkt, sein Ziel kennt, sein Schicksal überwacht. Nonnenmacher hatte über diese Intuitionen sehr schön und ausdrucksvoll gesprochen, und Adrian zeigte sich außerordentlich bewegt davon. »Wenn«, sagte er, »die Theologie erklärt, daß die Seele von Gott sei, so ist das philosophisch richtig, denn als das Prinzip, das die Einzelerscheinungen formt, ist sie ein Teil der reinen Form alles Seins überhaupt, entstammt dem ewig sich selbst denkenden Denken, das wir >Gott< nennen... Ich glaube zu verstehen, was Aristoteles mit der Entelechie meinte. Sie ist der Engel des Einzelwesens, der Genius seines Lebens, auf dessen wissende Führung es gern vertraut. Was man Gebet nennt, ist eigentlich die mahnende oder beschwörende Anmeldung dieses Vertrauens.

127

Gebet aber heißt es mit Recht, weil es im Grunde Gott ist, den wir damit anrufen.«
Ich konnte nur denken: Möge dein Engel sich klug und treu erweisen!
Wie gern hörte ich dieses Kolleg an Adrians Seite. Die theologischen, die ich — nicht regelmäßig — um seinetwillen besuchte, waren für mich ein zweifelhafteres Vergnügen, und nur, um nicht abgeschnitten zu sein von dem, was ihn beschäftigte, nahm ich hospitierend daran teil. Im Studienplan eines Theologie-Studenten liegt in den ersten Jahren das Schwergewicht auf den exegetischen und historischen Fächern, also auf Bibelwissenschaft, Kirchen- und Dogmengeschichte, Konfessionskunde; die mittleren gehören der Systematik, will sagen: der Religionsphilosophie, der Dogmatik, Ethik und Apologetik, und am Ende stehen die praktischen Disziplinen, das heißt: Liturgik, Predigtlehre, Katechetik, Seelsorge und Ekklesiastik nebst Kirchenrecht. Aber die akademische Freiheit läßt der persönlichen Vorliebe viel Spielraum, und von der Lizenz, die Reihenfolge auch einmal umzuwerfen, machte Adrian Gebrauch, indem er sich von Anfang an auf die Systematik warf, — aus allgemein geistigem Interesse gewiß, das in diesem Fache am meisten auf seine Rechnung kommt, dann aber auch, weil der Systematik lesende Professor, Ehrenfried Kumpf, der saftigste Sprecher an der ganzen Hochschule war und überhaupt den größten Zulauf von Studenten aller Jahrgänge, auch von nichttheologischen, hatte. Ich sagte ja zwar, daß wir bei Kegel Kirchengeschichte hörten, aber das waren vergleichsweise trokkene Stunden, und mit Kumpf konnte der monotone Kegel keineswegs wetteifern.
Jener war durchaus das, was die Studenten eine »wuchtige Persönlichkeit« nannten, und auch ich konnte mich einer gewissen Bewunderung seines Temperamentes nicht entschlagen, liebte ihn aber gar nicht und habe niemals glauben können, daß nicht auch Adrian öfters von seiner Herzhaftigkeit sollte peinlich berührt gewesen sein, obgleich er ihn nicht offen ironisierte. »Wuchtig« war er schon seiner Physis nach: ein großer,

128

massiger, voller Mann mit gepolsterten Händen, dröhnender Stimme und einer vom vielen Sprechen leicht vorgebäumten, zum Spritzen geneigten Unterlippe. Es ist wahr, daß Kumpf gewöhnlich seinen Stoff nach einem gedruckten Lehrbuch, übrigens eigener Provenienz, vortrug; aber sein Ruhm waren die sogenannten »Ex-Pauken«, die er, die Fäuste bei zurückgerafftem Gehrock in seinen senkrechten Hosentaschen, auf dem breiten Katheder hin und her stapfend, in die Lesung einschaltete, und die dank ihrer Spontaneität, Derbheit, gesunden Aufgeräumtheit, auch wegen ihres pittoresk-altertümlichen Sprachstiles den Studenten außerordentlich gefielen. Seine Art war es, um ihn selbst zu zitieren, eine Sache »mit deutschen Worten« oder auch »auf gut altdeutsch, ohn' einige Bemäntelung und Gleisnerei«, das heißt deutlich und geradeaus, zu sagen und »fein deutsch mit der Sprache herauszugehen«. Statt »allmählich« sagte er »weylinger Weise«, statt »hoffentlich«: »verhoffentlicht« und sprach von der Bibel nicht anders als von der »Heiligen Geschrift«. Er sagte: »Es gehet mit Kräutern zu«, wenn er meinte »mit unrechten Dingen«. Von einem, der seiner Meinung nach in wissenschaftlichen Irrtümern befangen war, sagte er; »Er wohnt in der Fehlhalde«; von einem lasterhaften Menschen: »Er lebt auf den alten Kaiser hin wie eine Viehe« und liebte sehr Sprüche wie: »Wer kegeln will, muß aufsetzen« oder: »Was zur Nessel werden soll, brennt beizeiten.« Ausrufe wie »Potz Blut!«, »Potz Strahl!«, »Potz hundert Gift!« oder auch »Potz Fickerment!« waren keine Seltenheit in seinem Munde, und dieses letzte rief regelmäßig Beifallsgetrampel hervor.
Theologisch gesehen war Kumpf ein Vertreter jenes Vermittlungs-Konservativismus mit kritisch-liberalen Einschlägen, von dem ich sprach. In seiner Jugend war er, wie er uns in seinen peripatetischen Extempores erzählte, ein hellicht be^ geisterter Student unserer klassischen Dichtung und Philosophie gewesen und rühmte sich, alle »wichtigeren« Werke Schil.lers und Goethes auswendig gewußt zu haben. Dann aber war etwas über ihn gekommen, was mit der Erweckungsbewegung

129

der Mitte des vorigen Jahrhunderts zusammenhing, und die Paulinische Botschaft von Sünde und Rechtfertigung hatte ihn dem ästhetischen Humanismus abwendig gemacht. Man muß zum Theologen geboren sein, um solche geistigen Schicksale und Damaskus-Erlebnisse recht würdigen zu können. Kumpf hatte sich überzeugt, daß auch unser Denken gebrochen ist und der Rechtfertigung bedarf, und eben hierauf beruhte sein Liberalismus, denn es führte ihn dazu, im Dogmatismus die intellektuelle Form des Pharisäertums zu sehen. Er war also zur Kritik am Dogma auf gerade entgegengesetztem Wege gekommen wie einst Descartes, dem im Gegenteil die Selbstgewißheit des Bewußtseins, des cogitare, rechtmäßiger erschienen war als alle scholastische Autorität. Das ist der Unterschied zwischen theologischen und philosophischen Befreiungen. Kumpf hatte die seine in Fröhlichkeit und gesundem Gottvertrauen vollzogen und reproduzierte sie vor uns Hörern »mit deutschen Worten«. Nicht nur anti-pharisäisch, anti-dogmatisch war er, sondern auch anti-metaphysisch, durchaus ethisch und erkenntnistheoretisch gerichtet, ein Verkünder des sittlich fundierten Persönlichkeitsideals und kräftig abhold der pietistischen Trennung von Welt und Frömmigkeit, vielmehr weltfromm, zu gesundem Genuß erbötig, ein Bejaher der Kultur,— besonders der deutschen, denn bei jeder Gelegenheit entpuppte er sich als ein massiver Nationalist lutherischer Prägung und konnte einem Manne nichts Grimmigeres nachsagen, als daß er »wie ein windiger Wal«, das heißt wie ein Welscher denke und lehre. Im Zorn und mit rotem Kopf fügte er dann wohl hinzu: »Daß ihn der Teufel bescheiße, Amen!«, was wiederum mit großem Getrampel bedankt wurde.
Sein Liberalismus nämlich, der ja nicht in dem humanistischen Zweifel am Dogma, sondern in dem religiösen Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit unseres Denkens gründete, hinderte ihn nicht nur nicht an einem strammen Offenbarungsglauben, sondern auch daran nicht, mit dem Teufel auf sehr vertrautem, wenn auch natürlich gespanntem Fuße zu stehen. Ich kann und will nicht untersuchen, wieweit er an die persönliche

130

Existenz des Widersachers glaubte, sage mir aber, daß, wo überhaupt Theologie ist — und nun gar, wenn sie sich mit einer so saftigen Natur wie der Ehrenfried Kumpfs verbindet —, auch der Teufel zum Bilde gehört und seine komplementäre Realität zu derjenigen Gottes behauptet. Man hat leicht sagen, daß ein moderner Theolog ihn »symbolisch« nehme. Nach meiner Meinung kann Theologie überhaupt nicht modern sein, was man ihr als großen Vorzug anrechnen mag; und was die Symbolik betrifft, so sehe ich nicht ein, warum man die Hölle symbolischer nehmen sollte als den Himmel. Das Volk hat das jedenfalls niemals getan. Ihm stand sogar immer die drastische, obszön humoristische Figur des Teufels näher als die obere Majestät; und Kumpf war in seiner Art ein Volksmann. Wenn er von der »Hellen und ihrer Spelunck« sprach, was er gern tat — in dieser archaisierenden Form, in der es sich zwar halb scherzhaft, zugleich aber viel überzeugender ausnahm, als wenn er auf neudeutsch »Hölle« gesagt hätte —, so hatte man keineswegs den Eindruck, daß er symbolisch redete, vielmehr entschieden den, daß es »gut altdeutsch, ohn' alle Bemäntelung und Gleisnerei« gemeint war. Nicht anders war es mit dem Widersacher selbst. Ich sagte ja, daß Kumpf als Gelehrter, als Mann der Wissenschaft, der rationalen Kritik am Bibelglauben Zugeständnisse machte und, wenigstens anfallsweise, im Ton intellektueller Biederkeit, manches >preisgab<. Im Grunde aber sah er den Lügner, den bösen Feind gerade in der Vernunft vorzüglich am Werke und ließ sie selten zu Worte kommen, ohne hinzuzufügen: »Si Diabolus non esset mendax et homieida!« Ungern nannte er den Schädling geradeaus bei Namen, sondern umschrieb und verdarb diesen auf volkstümlich Art mit »Teubel«, »Teixel« oder »Deixel«. Aber gerade dieses halb scheue, halb spaßhafte Vermeiden und Verändern hatte etwas von gehässiger Realitäts-Anerkennung. Außerdem verfügte er über eine Menge kerniger und ausgefallener Bezeichnungen für ihn, wie »Sankt Veiten«, »Meister Klepperlin«, »Der Herr Dicis-et-non-facis« und »Der schwartze Kesperlin«, die ebenfalls in jokoser Weise sein kräftig persönliches

131

und animoses Verhältnis zu Gottes Gegner zum Ausdruck brachten.
Da Adrian und ich bei Kumpf Visite gemacht hatten, wurden wir ein und das andere Mal in seinen Familienkreis geladen und hatten Abendessen mit ihm, seiner Gemahlin und ihren beiden grell rotwangigen Töchtern, deren gewässerte Zöpfe so fest geflochten waren, daß sie ihnen schräge vom Kopfe abstanden. Eine von ihnen sprach den Segen, während wir uns diskret über unsere Teller neigten. Dann aber legte sich der Hausherr, unter vielseitigen Expektorationen, die Gott und Welt, Kirche, Politik, Universität und sogar Kunst und Theater betrafen, und mit denen er unverkennbar Luthers Tischreden nachahmte, gewaltig ins Zeug mit Essen und Trinken, zum Zeichen und guten Exempel, daß er gegen Weltfreude und gesunden Kulturgenuß nichts einzuwenden habe; ermahnte auch uns wiederholt, brav mitzuhalten und die Gottesgabe, die Hammelkeule, das Moselblümchen, nicht zu verschmähen, und nahm nach verzehrter Süßspeise zu unserem Schrecken eine Gitarre von der Wand, um uns, vom Tische abgerückt, mit übergeschlagenem Bein, zum Schollern ihrer Saiten mit dröhnender Stimme Lieder zu singen wie >Das Wandern ist des Müllers Lust<, auch >Lützows wilde, verwegene Jagd<' die >Loreley< und >Gaudeamus igitur<. — »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang« — es mußte kommen, und es kam. Er rief es aus, indem er vor unseren Augen seine runde Frau um die Mitte faßte. Und dann wies er mit dem gepolsterten Zeigefinger in einen schattigen Winkel des Speisezimmers, wohin fast kein Strahl der über dem Eßtisch schwebenden Schirmlampe drang: »Seht!« rief er. »Da steht er im Eck, der Speivogel, der Wendenschimpf, der traurige, saure Geist und mag nicht leiden, daß unser Herz fröhlich sei in Gott bei Mahl und Sang! Soll uns aber nichts anhaben, der Kernbösewicht, mit seinen listigen, feurigen Pfeilen! Apage!« donnerte er, griff eine Semmel und schleuderte sie in den finsteren Winkel. Nach diesem Strauß griff er wieder in die Saiten und sang >Wer recht in Freuden wandern will<.

132

Dies alles war ja eher ein Schrecknis, und ich muß als sicher annehmen, daß auch Adrian es so empfand, obgleich sein Stolz ihm nicht erlaubte, seinen Lehrer preiszugeben. Immerhin hatte er nach jenem Teufelsgefecht auf der Straße einen Lachanfall, der sich nur langsam,unter ablenkenden Gesprächen beruhigte.—


>