THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
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DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


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XIX

Ich spreche von diesem Augenblick, indem ich, nicht ohne Erbeben, nicht ohne daß sich mir das Herz zusammenkrampft, auf das verhängnisvolle Geschehnis zu sprechen komme, das eintrat ungefähr ein Jahr nachdem ich in Naumburg den angeführten Brief Adrians empfangen, etwas mehr als ein Jahr nach seiner Ankunft in Leipzig und jener ersten Besichtigung der Stadt, von der er mir in dem Brief berichtete, — also nicht lange bevor ich, vom Militär entlassen, wieder zu ihm stieß und ihn äußerlich unverändert, in Wahrheit aber als einen Gezeichneten, vom Pfeil des Schicksals Getroffenen, wiederfand.

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Mir ist, als sollte ich Apollon und die Musen anrufen, daß sie mir bei der Mitteilung jenes Geschehnisses die lautersten, schonendsten Worte eingeben mögen: schonend für den feinfühligen Leser, schonend für das Andenken des verewigten Freundes, schonend zuletzt für mich selbst, den es wie ein schweres persönliches Geständnis ankommt, dies zu überliefern. Aber die Richtung, in der diese Anrufung gehen möchte, zeigt mir so recht den Widerspruch zwischen meiner eigenen geistigen Kondition und der Eigenfärbung der Geschichte, die ich vorzutragen habe, einer Tönung, die aus ganz anderen, klassischer Bildungsheiterkeit ganz fremden Überlieferungsschichten stammt. Ich habe diese Aufzeichnungen ja mit dem Ausdruck des Zweifels begonnen, ob ich der rechte Mann sei für meine Aufgabe. Die Argumente, die ich gegen solchen Zweifel ins Feld zu führen hatte, wiederhole ich nicht. Genug, daß ich, gestützt auf sie, gestärkt von ihnen, meinem Unternehmen treu zu bleiben gedenke.
Ich sagte, daß Adrian an den Ort, wohin ein frecher Sendbote ihn verschleppt, zurückkehrte. Man sieht nun, daß das nicht so bald geschah: Ein ganzes Jahr lang behauptete sich der Stolz des Geistes gegen die empfangene Verwundung, und eine Art von Trost war es immer für mich, daß sein Erliegen vor dem nackten Triebe, der ihn hämisch berührt hatte, denn doch nicht all und jeder seelischen Verhüllung und menschlichen Veredelung entbehrte. Eine solche nämlich sehe ich in jeder, wenn auch noch so kruden Fixierung der Begierde auf ein bestimmtes und individuelles Ziel; ich sehe sie in dem Moment der Wahl, sei diese auch unfreiwillig und von ihrem Gegenstande dreist provoziert. Ein Einschlag von Liebesläuterung ist wahrzuhaben, sobald der Trieb ein Menschenantlitz, und sei es das anonymste, verächtlichste, trägt. Und dies ist zu sagen, daß Adrian an jenen Ort um einer bestimmten Person willen zurückkehrte: derjenigen, deren Berührung auf seiner Wange brannte, der »Bräunlichen« im Jäckchen und mit dem großen Mund, die sich ihm am Klavier genähert, und die er Esmeralda nannte; daß sie es war, die er dort suchte — und daß er sie nicht mehr fand.

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Die Fixierung, so unheilvoll sie war, bewirkte, daß er jene Stätte nach seinem zweiten, freiwilligen Besuch als derselbe verließ wie nach dem ersten, unfreiwilligen, aber nicht ohne sich des Aufenthaltes des Weibes versichert zu haben, das ihn berührt hatte. Sie bewirkte ferner, daß er, unter einem musikalischen Vorwand, eine ziemlich weite Reise tat, um die Begehrte zu erreichen. Es fand nämlich damals, Mai 1906, unter des Komponisten eigener Leitung, in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, die österreichische Premiere der >Salome< statt, zu deren überhaupt erster Aufführung Adrian einige Monate früher mit Kretzschmar nach Dresden gefahren war, und er erklärte seinem Lehrer und den Freunden, die er unterdessen in Leipzig gemacht, er wünsche das glückhaft-revolutionäre Werk, dessen ästhetische Sphäre ihn keineswegs anzog, das ihn aber natürlich in musikalisch-technischer Beziehung und besonders noch als Vertonung eines Prosa-Dialogs interessierte, bei dieser festlichen Gelegenheit wiederzuhören. Er reiste allein, und es ist nicht mit Sicherheit zu bezeugen, ob er sein angebliches Vorhaben ausführte und von Graz nach Preßburg, möglicherweise auch von Preßburg nach Graz fuhr, oder ob er den Aufenthalt in Graz nur vorspiegelte und sich auf den Besuch von Preßburg, ungarisch Pozsony genannt, beschränkte. In ein dortiges Haus nämlich war diejenige, deren Berührung er trug, verschlagen worden, da sie ihren vorigen Gewerbsplatz um einer Hospitalbehandlung willen hatte verlassen müssen; und an ihrer neuen Stätte machte der Getriebene sie ausfindig.
Wohl zittert die Hand mir beim Schreiben, aber mit stillen, gefaßten Worten werde ich sagen, was ich weiß, — getröstet immer bis zu einem gewissen Grade durch den Gedanken, dem ich vorhin schon Zutritt gewährte, den Gedanken der Wahl, den Gedanken, daß etwas einer Liebesbindung Ähnliches hier waltete, was der Vereinigung dieser kostbaren Jugend mit dem unseligen Geschöpf einen Schimmer des Seelenhaften verlieh. Freilich ist dieser Trostgedanke unlösbar an den anderen, desto grausigeren gekettet, daß Liebe und Gift hier einmal für immer

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zur furchtbaren Erfahrungseinheit wurden: der mythologischen Einheit, welche der Pfeil verkörpert.
Es hat ganz den Anschein, als habe in dem armen Gemüt der Dirne etwas den Gefühlen geantwortet, die ihr der Jüngling entgegenbrachte. Kein Zweifel, sie erinnerte sich des flüchtigen Besuchers von damals. Ihre Annäherung, dies Streicheln seiner Wange mit dem nackten Arm, mochte der niedrig-zärtliche Ausdruck ihrer Empfänglichkeit gewesen sein für alles, was ihn von der üblichen Klientele unterschied. Sie erfuhr auch aus seinem Munde, daß er die Reise hierher um ihretwillen zurückgelegt habe, — und sie dankte es ihm, indem sie ihn vor ihrem Körper warnte. Ich weiß es von Adrian: sie warnte ihn; und kommt nicht dies einer wohltuenden Unterscheidung gleich zwischen der höheren Menschlichkeit des Geschöpfes und ihrem der Gosse verfallenen, zum elenden Gebrauchsgegenstand herabgesunkenen physischen Teil? Die Unglückliche warnte den Verlangenden vor >sich<, das bedeutete einen Akt freier seelischer Erhebung über ihre erbarmungswürdige physische Existenz, einen Akt menschlicher Abstandnahme davon, einen Akt der Rührung, — das Wort sei mir gewährt — einen Akt der Liebe. Und, gütiger Himmel, war es nicht Liebe auch, oder was war es, welche Versessenheit, welcher Wille zum gottversuchenden Wagnis, welcher Trieb, die Strafe in die Sünde einzubeziehen, endlich: welches tief geheimste Verlangen nach dämonischer Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner Natur wirkte dahin, daß der Gewarnte die Warnung verschmähte und auf dem Besitz dieses Fleisches bestand? Nie habe ich ohne ein religiöses Erschauern dieser Umarmung gedenken können, in welcher der eine sein Heil darangab, der andere es fand. Reinigend, rechtfertigend, emportragend muß es die Elende beglückt haben, daß der weither Gereiste auf jede Gefahr hin den Verzicht auf sie verweigerte; und es scheint, daß sie alle Süßigkeit ihres Weibtums aufbot, um ihn zu entschädigen für das, was er für sie wagte. Es war dafür gesorgt, daß er sie nicht vergaß; aber auch um ihrer selbst willen hat er, der sie nie wiedersah, sie niemals vergessen, und ihr Name — derjenige, den er ihr von Anfang an gegeben — geistert runenhaft, von niemandem wahrgenommen als von mir, durch sein'Werk. Möge man es mir als Eitelkeit auslegen, — ich kann es mir nicht versagen, schon hier der Entdeckung zu gedenken, die er mir eines Tages schweigend bestätigte. Leverkühn war nicht der erste Komponist und wird nicht der letzte gewesen sein, der es liebte, Heimlichkeiten formel- und sigelhafter Art in seinem Werk zu verschließen, die den eingeborenen Hang der Musik zu abergläubischen Begehungen und Befolgungen, zahlenmystischen und buchstabensymbolischen, bekunden. So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünf- bis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wechselndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder, eine motivische Grundfigur von eigentümlich schwermütigem Gepräge, die in vielfachen harmonischen und rhythmischen Einkleidungen, bald der, bald jener Stimme zugeteilt, oft in vertauschter Reihenfolge, gleichsam um ihre Achse gedreht, so daß bei gleichbleibenden Intervallen die Abfolge der Töne verändert ist, darin ihr Wesen treibt: zuerst in dem wohl schönsten der noch in Leipzig komponierten dreizehn Brentano-Gesänge, dem herzzerwühlenden Liede >O lieb Mädel, wie schlecht bist du<, das ganz davon beherrscht ist, dann namentlich in dem Spätwerk, worin Kühnheit und Verzweiflung sich auf eine so einzigartige Weise mischen, der in Pfeiffering geschriebenen >Weheklag Dr. Fausti<, wo sich noch mehr die Neigung zeigt, die melodischen Intervalle auch harmonisch-simultan zu bringen.
Es bedeutet aber diese Klang-Chiffre h e a e es: Hetaera esmeralda.

Adrian kehrte nach Leipzig zurück und äußerte sich mit amüsierter Bewunderung über das schlagkräftige Opernwerk, das er wiedergehört haben wollte, möglicherweise wirklich wiedergehört hatte. Noch höre ich ihn über dessen Urheber sagen: »Was für ein begabter Kegelbruder! Der Revolutionär als Sonntagskind, keck und konziliant. Nie waren Avantgardismus und Erfolgssicherheit vertrauter beisammen. Affronts und Dissonanzen genug, — und dann das gutmütige Einlenken, den Spießer versöhnend und ihn bedeutend, daß es so schlimm nicht gemeint war . . . Aber ein Wurf, ein Wurf ...« — Fünf Wochen nach der Wiederaufnahme seiner musikalischen und philosophischen Studien bestimmte eine lokale Erkrankung ihn, sich in ärztliche Behandlung zu geben. Der Spezialist, den er aufsuchte, Dr. Erasmi mit Namen — Adrian hatte seine Wohnung im Adreßbuch aufgeschlagen —, war ein gewichtiger Mann mit rotem Gesicht und schwarzem Spitzbart, dem es offenbar schwerfiel, sich zu bücken, der aber nicht nur dabei, sondern auch sonst, wenn er aufrecht war, die Luft pustend zwischen den aufgeworfenen Lippen auszustoßen pflegte. Diese Gewohnheit zeugte wohl von Bedrängnis, hatte aber zugleich den Ausdruck wegblasender Gleichgültigkeit, wie wenn einer eine Sache mit einem »Pah!« abtut oder sie doch damit abzutun versucht. So blies der Doktor andauernd bei der Untersuchung und erklärte sich dann, in einem gewissen Widerspruch zu dem Ausdruck seines Pustens, für die Notwendigkeit einer eingreifenden und ziemlich langwierigen Behandlung, die er auch sofort in Angriff nahm. An drei aufeinanderfolgenden Tagen war Adrian zur Fortsetzung dieser Behandlung bei ihm; dann ordnete Erasmi eine Unterbrechung von drei Tagen an und bestellte ihn auf den vierten. Als sich der Patient — der übrigens nicht litt, sein Allgemeinbefinden war überhaupt nicht berührt — zur festgesetzten Stunde, nachmittags um vier Uhr, wieder einfand, begegnete ihm etwas gänzlich Unerwartetes und Erschreckendes.
Während er sonst an der Wohnungstür, drei steile Treppen hoch, in einem etwas düsteren Hause der Altstadt, stets hatte schellen müssen, worauf eine Magd ihm geöffnet hatte, fand er diesmal jene Tür weit offenstehen, und ebenso verhielt es sich mit den Türen im Innern der Wohnung: Offen stand die Tür zum Warte- und darin wieder die zum Ordinationszimmer, offen aber auch, geradeaus, diejenige zum Wohnzimmer, einer zweifenstrigen >Guten Stube<. Ja, hier standen auch die Fenster weit offen, und vom Zugwinde gebläht und aufgehoben, wurden alle vier Gardinen abwechselnd weit in den Raum hineingetrieben und wieder in die Fensternischen zurückgezogen. Mitten im Zimmer aber lag Dr. Erasmi mit erhobenem Spitzbart und tief gesenkten Augenlidern, in weißem Manschettenhemd und auf einem Troddelkissen im offenen, auf zwei Böcken stehenden Sarge.

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Wie das zuging, warum der Tote da so allein und offen im Winde lag, wo die Magd, wo Frau Dr. Erasmi waren, ob etwa gerade die Leute der Bestattungsgesellschaft zur Aufschraubung des Deckels sich in der Wohnung aufhielten oder sie vorübergehend verlassen hatten, welcher sonderbare Augenblick den Besucher zur Stelle geführt, ist niemals klar geworden. Adrian konnte mir, als ich nach Leipzig kam, nur die Verwirrung schildern, in der er, nach gehabtem Anblick, die drei Treppen wieder hinabgestiegen war. Dem plötzlichen Tode des Doktors scheint er nicht weiter nachgeforscht, sich nicht dafür interessiert zu haben. Er meinte nur, das ewige »Pah« des Mannes sei gewiß schon immer ein schlechtes Zeichen gewesen.
Mit geheimem Widerwillen, ein unvernünftiges Grauen bekämpfend, muß ich nun berichten, daß die zweite Wahl, die er traf, unter einem verwandten Unheilssterne stand. Er brauchte zwei Tage, um sich von dem erlittenen Choc zu erholen. Dann, wiederum nur beraten vom Leipziger Adreßbuch, gab er sich in die Behandlung eines gewissen Dr. Zimbalist, wohnhaft in einer der Geschäftsstraßen, die am Marktplatz zusammenlaufen. Unten im Hause befand sich ein Restaurant, darüber ein Klavierlager, und einen Teil des zweiten Stockwerks nahm die Wohnung dieses Arztes ein, dessen porzellanenes Namensschild schon unten neben der Haustür in die Augen stach. Die beiden Wartezimmer des Dermatologen, eines davon weiblichen Patienten vorbehalten, waren mit Topfpflanzen, Zimmerlinden und Palmen geschmückt. Medizinische Zeitschriften und Bücher zum Blättern, eine illustrierte Sittengeschichte zum Beispiel, lagen in demjenigen auf, worin Adrian einmal und ein zweites Mal noch seinem Empfange entgegensah.

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Dr. Zimbalist war ein kleiner Mann mit Hornbrille, einer ovalen Glatze, die sich zwischen rötlichem Haar von der Stirn zum Hinterkopf zog, und einem nur unter den Nasenlöchern stehengelassenen Schnurrbärtchen, wie es damals in den oberen Klassen Mode geworden war und später zum Attribut einer welthistorischen Maske werden sollte. Seine Redeweise war salopp und männerwitzig, zum Kalauern geneigt. Er war imstande, sich der Bezeichnung »Rheinfall von Schaffhausen« in dem Sinne zu bedienen, den die Weglassung des h in dem Namen des Flusses hervorbringt, also im Sinn eines groben Mißgeschicks, eines Hineinfalls. Man hatte indessen nicht den Eindruck, daß ihm selber sehr wohl dabei war. Ein tickartiges Empor-gezogen-Werden seiner einen Wange, zusammen mit dem Mundwinkel und unter zwinkernder Mitbeteiligung des Auges, war von mißlich-säuerlichem Ausdruck, hatte etwas Fürnichts-Gutstehendes, Verlegenes und Fatales. So hat Adrian ihn mir geschildert, und so sehe ich ihn vor mir.
Es geschah nun folgendes. Adrian hatte sich zweimal der Behandlung bei seinem zweiten Arzt unterzogen und ging ein drittes Mal zu ihm. Beim Ersteigen der Treppe, zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk, begegnete er demjenigen, den er aufzusuchen gedachte; er kam ihm zwischen zwei stämmig gebauten Männern, die ihre steifen Hüte im Nacken trugen, entgegen. Dr. Zimbalists Augen waren niedergeschlagen wie die eines Mannes, der beim Treppensteigen nach seinen Tritten sieht. Sein eines Handgelenk war durch Spange und Kettchen mit demjenigen eines seiner Begleiter verbunden. Aufblickend und seinen Patienten erkennend, zuckte er säuerlich mit der Wange, nickte ihm zu und sagte: »Ein andermal!« Adrian, der, mit dem Rücken zur Wand, gegen die drei hatte Front machen müssen, ließ sie verdutzt vorüber, sah den Hinabsteigenden eine Weile nach und folgte ihnen dann die Treppe hinunter. Vor dem Hause sah er sie einen Wagen besteigen, der dort wartete, und in schnellem Tempo davonfahren.

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So endete die Fortsetzung von Adrians Kur, nach ihrer ersten Unterbrechung, bei Dr. Zimbalist. Ich muß hinzufügen, daß er sich um die Hintergründe dieses zweiten Fehlschlages sowenig kümmerte wie um das Seltsame, das jener ersten Erfahrung angehaftet hatte. Warum Zimbalist abgeholt worden war, obendrein zu der Stunde gerade, auf die ihn der Doktor bestellt hatte, — er ließ es auf sich beruhen. Die Kur aber nahm er, gleichsam verschreckt, danach nicht wieder auf, wandte sich an keinen dritten Arzt. Er tat es um so weniger, als der lokale Affekt auch ohne weitere Behandlung binnen kurzem abheilte und verschwand und, wie ich versichern kann und gegen jeden fachmännischen Zweifel aufrechterhalten werde, irgendwelche manifeste Sekundär-Symptome vollkommen ausblieben. Adrian erlitt einmal, in Wendeil Kretzschmars Wohnung, dem er eben eine Kompositionsstudie vorlegte, eine heftige Anwandlung von Schwindel, die ihn taumeln ließ und ihn zwang, sich niederzulegen. Sie ging in eine zweitägige Migräne über, die sich höchstens nach der Stärke der Unpäßlichkeit von früheren Anfällen dieser Art unterschied. Als ich, dem Zivilleben zurückgegeben, nach Leipzig kam, fand ich meinen Freund nach Wandel und Wesen unverändert.


XX

Oder doch nicht? — War er während des Jahrs unserer Trennung kein andrer geworden, so war er doch ausgesprochener noch er selbst geworden, und das genügte, mich zu beeindrukken, besonders da ich wohl ein wenig vergessen hatte, wie er war. Die Kühle unseres Abschiedes in Halle habe ich geschildert. Unser Wiedersehen, auf das ich mich unendlich gefreut hatte, stand ihm in dieser Eigenschaft nicht nach, so daß ich, verblüfft, zugleich erheitert und betrübt, alles zu verschlucken und niederzuhalten hatte, was sich an Gefühl dabei über den Rand meines Wesens drängte. Daß er mich vom Bahnhof abholen würde, hatte ich nicht erwartet, hatte ihn auch gar nicht genau die Stunde

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meiner Ankunft wissen lassen. Ich suchte ihn einfach, noch ohne für eigene Unterkunft gesorgt zu haben, in seiner Wohnung auf. Seine Wirtin meldete mich ihm, und ich betrat das Zimmer, indem ich mit froher Stimme seinen Namen rief.
Er saß an seinem Schreibtisch, einem altmodischen Sekretär mit Rolldeckel und aufgesetztem Schrank, und schrieb Noten.
»Hallo«, sagte er, ohne aufzublicken. »Gleich können wir reden.« Und fuhr noch einige Minuten in seiner Arbeit fort, indem er es mir überließ, ob ich stehen bleiben oder es mir bequem machen wollte. Man muß das sowenig mißverstehen, wie ich es tat. Es war ja ein Beweis altgesicherter Intimität, eines Zusammenlebens, das durch die einjährige Trennung gar nicht hatte berührt werden können. Es war einfach, als wäre unser Abschied gestern gewesen. Trotzdem war ich ein wenig enttäuscht und beschnien, wenn auch erheitert zugleich, wie das Charakteristische uns erheitert. Längst hatte ich mich auf einem der mit Teppichstoff überzogenen Fauteuils ohne Armlehnen niedergelassen, die den Büchertisch flankierten, als er den Füllfederhalter zuschraubte und zu mir trat, ohne mich auch nur recht anzusehen.
»Du kommst gerade recht«, sagte er und setzte sich an die andere Seite des Tisches. »Das Schaffgosch-Quartett spielt Opus 132 heute abend. Du gehst doch mit?«
Ich verstand, daß er von Beethovens Spätwerk, dem Streichquartett in a-Moll sprach.
»Wie ich da bin«, erwiderte ich, »gehe ich mit. Es wird gut sein, den lydischen Satz, den >Dankgesang eines Genesendem nach langer Zeit einmal wieder zu hören.«
»Den Becher«, sagte er, »leer' ich jeden Schmaus. Die Augen gehen einem über!« Und er fing an, von den Kirchentonarten und dem Ptolemäischen Tonsystem, dem >natürlichen<, zu sprechen, dessen sechs verschiedene Klangcharaktere durch die temperierte, i. e. die falsche Stimmung auf zwei, Dur und Moll, reduziert wurden, und von der modulatorischen Überlegenheit der richtigen Tonleiter über die temperierte. Diese nannte er

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ein Kompromiß für den Hausgebrauch, wie ja auch das temperierte Klavier ein Ding sei recht für den Hausgebrauch, einen vorläufigen Friedensvertrag, keine hundertfünfzig Jahre alt, der allerlei Beträchtliches zuwege gebracht habe, oh, sehr Beträchtliches, von dem wir uns aber nicht einbilden sollten, daß er für die Ewigkeit geschlossen sei. Er sprach sein großes Gefallen darüber aus, daß es ein Astronom und Mathematiker gewesen sei, Claudius Ptolemäus, ein Mann aus Ober-Ägypten, wohnhaft in Alexandria, der die beste aller bekannten Skalen, die natürliche oder richtige, aufgestellt habe. Das beweise aufs neue, sagte er, die Verwandtschaft von Musik und Himmelskunde, wie sie schon durch die kosmische Harmonielehre des Pythagoras bewiesen worden sei. Zwischendurch kam er auf das Quartett und seinen dritten Satz, die fremde Luft, die Mondlandschaft desselben zurück und auf die enorme Schwierigkeit der Aufführung.
»Im Grunde«, sagte er, »muß jeder der viere ein Paganini sein und dabei nicht nur den eigenen Part beherrschen, sondern die der drei anderen auch, sonst ist kein Auskommen. Gottlob ist auf die Schaffgosch-Leute Verlaß. Man kann es heute, aber es steht an der Grenze des Spielbaren und war zu seiner Zeit einfach nicht spielbar. Die erbarmungslose Gleichgültigkeit eines Entstiegenen gegen das Irdisch-Technische gehört für mich zum Allerbelustigendsten. >Was geht mich Ihre verdammte Geige an!< sagte er zu einem, der sich beklagte.«
Wir lachten — und das Eigentümliche war nur, daß wir uns überhaupt nicht begrüßt hatten.
Übrigens, sagte er, sei da auch noch der vierte Satz, das unvergleichliche Finale mit der kurzen marschartigen Einleitung und jenem stolz hingelegten Rezitativ der ersten Geige, womit so passend wie möglich das Thema vorbereitet wird. »Es ist nur ärgerlich — wenn du es nicht erfreulich nennen willst —, daß es in der Musik — wenigstens in dieser Musik — Dinge gibt, für die im ganzen Bereich der Sprache beim besten Willen kein wirklich charakterisierendes Beiwort, auch keine Kombination von Beiworten aufzutreiben ist. Ich habe mich dieser

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Tage damit geplagt, — du findest keine adäquate Bezeichnung für den Geist, die Haltung, die Gebärde dieses Themas. Denn es ist viel Gebärde darin. Tragisch-kühn? Trotzig, emphatisch, das Elanhafte ins Erhabene getrieben? Alles nicht gut. Und »herrlich !< ist natürlich nur eine alberne Kapitulation. Man landet zuletzt bei der sachlichen Vorschrift, dem Namen: Allegro appassionato, das ist noch das Beste.«
Ich stimmte ihm zu. Vielleicht, meinte ich, würde uns abends noch etwas einfallen.
»Du mußt Kretzschmar bald sehen«, fiel ihm ein. »Wo wohnst du?«
Ich sagte ihm, daß ich für heute irgendein Hotelzimmer nehmen und mich morgen nach etwas Passendem umsehen wolle.
»Ich verstehe«, sagte er, »daß du mich nicht beauftragt hast, dir etwas zu suchen. Man kann das keinem anderen überlassen. Ich habe«, setzte er hinzu, »den Leuten im >Cafe Central< von dir und deinem Kommen erzählt. Ich muß dich da bald einmal einführen.«
Mit den »Leuten« war der Kreis junger Intellektueller gemeint, deren Bekanntschaft er durch Kretzschmar gemacht hatte. Ich war überzeugt, daß er sich ungefähr zu ihnen verhielt wie zu den Winfried-Brüdern in Halle, und als ich sagte, es sei ja erfreulich, daß er rasch schicklichen Anschluß gefunden habe in Leipzig, erwiderte er denn auch:
»Nun, Anschluß ...«
Schildknapp, der Dichter und Übersetzer, fügte er hinzu, sei noch das Wohltuendste. Aber er habe es an sich, daß er aus einer Art von nicht gerade superiorem Selbstgefühl immer versage, sobald er merke, daß man etwas von ihm wolle, ihn brauche, ihn in Anspruch zu nehmen versuche. Ein Mensch von sehr starkem oder vielleicht auch etwas schwächlichem Unabhängigkeitssinn, sagte er. Aber sympathisch, unterhaltlich und übrigens geldlich so knapp gestellt, daß er selber sehen müsse, wie er durchkomme.
Was er von Schildknapp gewollt hätte, der als Übersetzer in nahem Verhältnis zur englischen Sprache lebte und über-

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haupt ein warmer Verehrer alles Englischen war, stellte sich in weiteren Gesprächen noch diesen Abend heraus. Ich erfuhr, daß Adrian nach einem Opern-Sujet Ausschau hielt, und daß er schon damals, Jahre bevor er sich ernstlich der Aufgabe näherte, >Love's Labour's Lost< dafür ins Auge gefaßt hatte. Was er von dem auch musikalisch bewanderten Schildknapp wünschte, war die Einrichtung des Textes; aber jener wollte, teils um seiner eigenen Arbeiten willen, teils auch wohl, weil Adrian ihn vorderhand kaum hätte entschädigen können, nichts davon wissen. Nun, später habe ich dem Freunde diesen Dienst geleistet und denke gern an das erste, vortastende Gespräch zurück, das wir schon an jenem Abend über den Gegenstand führten. Ich stellte fest, daß die Tendenz zur Vermählung mit dem Wort, zur vokalen Artikuliertheit ihn mehr und mehr beherrschte: er versuchte sich jetzt fast ausschließlich in der Komposition von Liedern, kurzen und längeren Gesängen, ja epischen Bruchstücken, wobei er seinen Stoff einer mittelmeerischen Blütenlese entnahm, die, in ziemlich glücklicher deutscher Übersetzung, provencalische und catalonische Lyrik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, italienische Dichtung, visionäre Höhepunkte der >Divina Commedia<, dann Spanisches und Portugiesisches umfaßte. Es war, der musikalischen Stunde nach und nach den Jahren des Adepten, fast unvermeidlich, daß hier und dort der Einfluß Gustav Mahlers spürbar war. Aber schon wollten ein Laut, eine Haltung, ein Blick, eine allein wandelnde Weise wahrgenommen sein, die fremd und streng auf sich selbst bestanden, und an denen man heute den Meister der grotesken Gesichte der >Apocalypsis< wiedererkennt.
Am deutlichsten meldete dieser sich an in den Gesängen der Reihe, die dem >Purgatorio<, dem >Paradiso< entnommen und mit klugem Sinn für ihre Affinität zur Musik gewählt sind: so etwa in dem Stück, das mich besonders einnahm, und das auch Kretzschmar sehr gut geheißen hatte, wo der Dichter im Licht des Venusgestirns die kleineren Lichter — es sind die Geister der Seligen —, die einen rascher, die anderen langsamer, »je nach der Art ihrer Gottbetrachtung«, ihre Kreise ziehen sieht

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und dies den Funken vergleicht, die man in der Flamme, den Stimmen, die man im Gesänge unterscheidet, »wenn sich die eine um die andre schlingt«. Ich war erstaunt und entzückt über die Wiedergabe der Funken im Feuer, der sich verschlingenden Stimmen. Und doch wußte ich nicht, ob ich diesen Phantasien über das Licht im Lichte oder den grüblerischen, mehr gedachten als geschauten Stücken den Vorzug geben sollte, — denen, wo alles zurückgewiesene Frage, Ringen ums Unergründliche ist, wo »der Zweifel am Fuß der Wahrheit sprießt« und selbst der Cherub, der in Gottes Tiefe blickt, den Abgrund des ewigen Entschlusses nicht ermißt. Adrian hatte da etwa die furchtbar harte Folge von Versen gewählt, wo von der Verdammnis der Unschuld, der Unbelehrtheit die Rede ist und nach der unbegreiflichen Gerechtigkeit gefragt wird, die den Guten und Reinen, nur eben nicht Getauften, vom Glauben nicht Erreichten der Hölle überantwortet. Er hatte es über sich gewonnen, die donnernde Erwiderung in Töne zu setzen, welche die Ohnmacht des geschöpflich Guten vor dem Guten an sich verkündet, das, als Quelle der Gerechtigkeit, durch nichts, was unser Verstand ungerecht zu nennen versucht ist, von sich selber weichen kann. Mich empörte diese Verleugnung des Menschlichen zugunsten einer unzugänglich absoluten Vorbestimmung, wie ich überhaupt wohl Dante's dichterische Größe anerkenne, von seinem Hang zur Grausamkeit und zu Marterszenen aber mich immer abgestoßen fühlte, und ich erinnere mich, daß ich Adrian schalt, weil er sich zur Komposition der schwer erträglichen Episode entschlossen hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß ich einem Blick seiner Augen begegnete, den ich früher nicht an ihm gekannt hatte, und an den ich dachte, als ich mich fragte, ob ich ganz recht hätte, zu behaupten, ich hätte ihn nach unserer einjährigen Trennung unverändert vorgefunden. Dieser Blick, der ihm nun eigentümlich blieb, wenn man ihn auch nicht oft, nur von Zeit zu Zeit und manchmal ohne jeden besonderen Anlaß zu erfahren hatte, war in der Tat etwas Neues: stumm, verschleiert, distanzierend bis zum Beleidigenden, dabei sinnend und von kalter Traurigkeit, endete er mit einem nicht unfreundlichen,

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aber doch spöttischen Lächeln des verschlossenen Mundes und jenem Sichabwenden, das nun wieder zu den altvertrauten Bewegungen gehörte.
Der Eindruck war schmerzlich und, ob gewollt oder ungewollt, kränkend. Aber ich vergaß ihn rasch bei weiterem Zuhören, beim Lauschen auf die bewegende musikalische Diktion, die dem Purgatorio-Gleichnis von dem Manne verliehen war, der in der Nacht ein Licht auf seinem Rücken trägt, das ihm nicht leuchtet, aber hinter ihm den Weg der Kommenden erhellt. Ich hatte Tränen dabei in den Augen. Aber noch glücklicher machte mich die überaus gelungene Gestaltung der nur aus neun Versen bestehenden Anrede des Dichters an sein allegorisches Lied, das so dunkel und mühevoll spreche und keine Aussicht habe, von der Welt nach seinem verborgenen Sinn verstanden zu werden. So möge es, trägt ihm sein Schöpfer auf, die Leute bitten, wenn schon nicht seine Tiefe, so doch seine Schönheit wahrzunehmen. »So achtet wenigstens, wie schön ich bin!« Wie die Komposition aus der Schwierigkeit, künstlichen Verworrenheit, fremdartigen Mühsal der ersten Verse zu dem zarten Licht dieses Ausrufs hinstrebt und sich rührend darin erlöst, das fand ich gleich damals bewundernswert und machte keinen Hehl aus meiner freudigen Zustimmung.
»Desto besser, wenn es schon etwas taugt«, sagte er; und in anschließenden Gesprächen wurde klar, daß er das »schon« nicht auf sein jugendliches Alter, sondern darauf bezog, daß er die Lieder-Komposition, wieviel Hingabe er auch der einzelnen Auf gäbe widmete, im ganzen doch nur als Vorübung zu einem geschlossenen Wort-Ton-Werk betrachtete, das ihm vorschwebte, und dessen Gegenstand eben die Shakespeare-Komödie abgeben sollte. Den Bund mit dem Worte/den er betrieb, trachtete er theoretisch zu verherrlichen. Musik und Sprache, insistierte er, gehörten zusammen, sie seien im Grunde eins, die Sprache Musik, die Musik eine Sprache, und getrennt berufe immer das eine sich auf das andere, ahme das andere nach, bediene sich der Mittel des anderen, gebe immer das eine sich als das Substitut des anderen zu verstehen. Wie Musik zunächst Wort

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sein, wortmäßig vorgedacht und geplant werden könne, wollte er mir durch die Tatsache demonstrieren, daß man Beethoven beim Komponieren in Worten beobachtet habe. »Was schreibt er da in sein Taschenbuch?« habe es geheißen. »Er komponiert.« — »Aber er schreibt Worte, nicht Noten.« — Ja, das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. — Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan. Der künstlerische Gedanke, meinte er, bilde wohl überhaupt eine eigene und einzige geistige Kategorie, aber schwerlich werde je der erste Entwurf zu einem Bilde, einer Statue in Worten bestanden haben, — was für die besondere Zusammengehörigkeit von Musik und Sprache zeuge. Es sei sehr natürlich, daß die Musik am Wort entbrenne, das Wort aus der Musik hervorbräche, wie es sich gegen Ende der Neunten Symphonie ereigne. Schließlich sei es doch wahr, daß die ganze deutsche Musikentwicklung zu dem Wort-Ton-Drama Wagners hinstrebe und ihr Ziel darin finde.
»Ein Ziel«, sagte ich, indem ich auf Brahms hinwies und auf das, was an absoluter Musik in dem »Lichte auf seinem Rücken« herangekommen sei, und er willigte in die Einschränkung um so leichter, als das, was er von weitem vorhatte, so unwagnerisch wie möglich, der Natur-Dämonie und dem mythischen Pathos am allerfernsten war: eine Erneuerung der opera buffa im Geist künstlichster Persiflage und der Persiflage der Künstlichkeit, etwas von hoch-spielerischer Preziosität, die Verspottung affektierter Askese und jenes Euphuismus, der die gesellschaftliche Frucht der klassischen Studien war. Er sprach mir mit Begeisterung von dem Gegenstand, der Gelegenheit bot, das Naturwüchsig-Tölpelhafte neben das Komisch-Sublime zu stellen und eines im anderen lächerlich zu machen. Archaisches Heldentum, die rodomontierende Etikette ragte aus verstorbener Epoche hinein in der Person des Don Armado, den er mit Recht für eine vollendete Opernfigur erklärte. Und er zitierte mir; auf englisch, Verse des Stückes, die er offenbar tief ins Herz geschlossen hatte: die Verzweiflung des witzigen Biron

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über seine eidbrüchige Verliebtheit in die mit den Pechkugeln statt der Augen im Kopf; sein Ächzen-und-Beten-Müssen um eine, die »bei Gott, das Ding will tun, war' Argus auch ihr Wächter und Eunuch«. Dann die Verurteilung eben dieses Biron dazu, ein Jahr seinen Zungenwitz am Lager stöhnender Kranker zu üben, und seinen Ausruf: »Es kann nicht sein! Scherz rührt die Seele nicht in Todespein.« — »Mirth cannot move a soul in agony«, wiederholte er und erklärte, das eines Tages unbedingt komponieren zu wollen, — dies und das unvergleichliche Gespräch im fünften Akt über die Narrheit des Weisen, über den hilflosen, verblendeten und entwürdigenden Mißbrauch des Geistes, die Narrenkappe der Leidenschaft damit zu schmücken. Solche Aussprüche, meinte er, wie die beiden Verse, die besagen, daß kein Jugendblut so töricht ausschweifend entbrenne wie der von Torheit befallene Ernst, »as gravity's revolt to wantonness«, gediehen nur auf den Geniehöhen der Dichtung.
Ich war glücklich über seine Bewunderung, seine Liebe, obgleich mir die Stoffwahl nicht einmal behagte und ich immer etwas unglücklich war über eine Verspottung von Auswüchsen des Humanismus, die doch schließlich auch die Sache selbst ins Lächerliche zieht. Das hat mich später nicht gehindert, ihm das Libretto einzurichten. Was ich ihm aber gleich mit aller Macht auszureden suchte, war sein sonderbares und gänzlich unpraktisches Vorhaben, die Komödie auf englisch zu komponieren, weil er das als das einzig Richtige, Würdige, Authentische empfand, auch weil es ihm um der Wortspiele und des alten englischen Volksverses, des Doggerel-Reimes willen geboten schien. Den Haupteinwand, daß er sich durch einen fremdsprachigen Text jede Aussicht auf Verwirklichung des Werkes durch die deutsche Opernbühne verbauen werde, ließ er nicht gelten', weil er es überhaupt ablehnte, sich ein zeitgenössisches Publikum für seine exklusiven, abseitig-skurrilen Träume vorzustellen. Es war eine barocke Idee, die aber tief in seinem aus hochmütiger Weltscheu, dem altdeutschen Provinzialismus von Kaisersaschern und einem ausgesprochenen Gesinnungskosmopolitismus

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sich zusammensetzenden Wesen wurzelte. Nicht umsonst war er der Sohn der Stadt, in der Otto III. begraben lag. Seine Abneigung gegen das Deutschtum, das er verkörperte (ein Widerwille, der ihn übrigens mit dem Anglisten und Anglomanen Schildknapp zusammenführte), trat in die beiden Erscheinungsformen versponnener Schüchternheit vor der Welt und eines inneren Bedürfnisses nach Welt und Weite auseinander, das ihn darauf bestehen ließ, dem deutschen Konzertsaal Gesänge in fremder Sprache zuzumuten, oder richtiger: sie ihm durch die fremde Sprache vorzuenthalten. Tatsächlich brachte er noch in meinem Leipziger Jahr Kompositionen von Originalgedichten Verlaine's und des von ihm besonders geliebten William Blake zum Vorschein, die jahrzehntelang nicht gesungen worden sind. Die nach Verlaine habe ich später in der Schweiz gehört. Eines davon ist das wundervolle Gedicht mit der Schlußzeile »Cest l'heure exquise«; ein anderes das ebenso zauberhafte >Chanson d'Automne<; ein drittes der phantastisch melancholische, unsinnig melodiöse Dreistropher, der mit den Zeilen beginnt: »Un grand sommeil noir — Tombe sur ma vie.« Auch ein paar ausschweifend närrische Stücke aus den >Fetes galantes< waren darunter, das »He! bonsoir, la Lune!« und vor allem der makabre, mit Kichern beantwortete Antrag: »Mourons ensemble, voulez-vous?« — Was Blake's seltsame Poesien betrifft, so hatte er die Strophen von der Rose in Töne gesetzt, deren Leben von der dunklen Liebe des Wurms zerstört wird, welcher den Weg in ihr karmesinfarbenes Bett gefunden hat. Dazu den unheimlichen Sechzehnzeiler vom >Poison Tree<, worin der Dichter seinen Grimm mit Tränen bewässert, mit Lächeln und tückischen Listen besonnt, so daß am Baume ein lockender Apfel wächst, mit dem sich der diebische Feind vergiftet: zur Freude des Hassers liegt er morgens tot unterm Baum. Die böse Schlichtheit des Gedichtes war in der Komposition vollkommen wiedergegeben. Aber einen noch tieferen Eindruck machte mir gleich bei erstem Hören ein Lied über Worte von Blake, die von einer goldenen Kapelle träumen, vor welcher Weinende, Trauernde, Betende stehen, ohne zu wagen, sie zu

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betreten. Es erhebt sich nun das Bild einer Schlange, die mit zäher Mühe Eingang in das Heiligtum zu erzwingen weiß, die schleimige Länge ihres Leibes über den kostbaren Fußboden zieht und den Altar gewinnt, wo sie Brot und Wein mit ihrem Gifte bespeit. »So«, schließt der Dichter mit verzweiflungsvoller Logik, »darum« und »daraufhin«, sagt er, »begab ich mich in einen Koben und legte mich zwischen den Schweinen nieder.« — Die Traumbangigkeit der Vision, der wachsende Schrecken, das Grauen der Besudelung, endlich der wilde Verzicht auf ein durch den Anblick entehrtes Menschentum waren in Adrians Musik mit erstaunlicher Eindringlichkeit wiedergegeben.
Doch das sind spätere Dinge, wenn sie auch alle in einen Abschnitt gehören, der Leverkühns Leipziger Jahre behandelt. An jenem Abend nach meiner Ankunft also hörten wir das Konzert des Schaffgosch-Quartetts zusammen und besuchten am nächsten Tage Wendell Kretzschmar, der mir unter vier Augen von Adrians Fortschritten auf eine Weise sprach, die mich stolz und glücklich machte. Nichts, sagte er, fürchte er weniger, als je bereuen zu müssen, daß er ihn zur Musik gerufen. Ein Mensch von solcher Selbstkontrolle und solcher Heikligkeit gegen das Abgeschmackte und alles dem Publikum Bequeme werde es zwar schwer haben, äußerlich wie innerlich; aber das sei hier gerade recht, denn nur die Kunst könne einem Leben Schwere verleihen, das sonst an seiner Facilität sich zu Tode langweilen würde. —
Auch bei Lautensack und dem berühmten Bermeter schrieb ich mich ein, froh, daß ich um Adrians willen keine Theologie mehr zu hören brauchte, und ließ mich von ihm in den Kreis des >Cafe Central< einführen, eine Art von BohemeClub, der ein verräuchertes Sonderzimmer des Lokals mit Beschlag belegt hatte, wo die Mitglieder nachmittags Zeitungen lasen, Schach spielten und die kulturellen Ereignisse besprachen. Es waren Konservatoristen, Maler, Schriftsteller, junge Verlagsbuchhändler, auch musisch interessierte angehende Rechtsanwälte, dazu ein paar Schauspieler, Mitglieder der sehr literarisch geleiteten leipziger Kammerspiele<, und so fort. Rüdiger Schildknapp, der Übersetzer, uns an Jahren beträchtlich voran,

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wohl Anfang Dreißig, gehörte, wie schon erwähnt, zu der Runde, und da er der einzige war, an den Adrian sich enger anschloß, so trat auch ich ihm näher und verbrachte manche Stunde in beider Gesellschaft. Daß ich dabei ein kritisches Auge auf den Mann hatte, den Adrian seiner Freundschaft würdigte, wird, fürchte ich, der vorläufigen Skizze abzumerken sein, die ich hier von seiner Person entwerfen will, obgleich ich mich bemühen werde und mich immer bemüht habe, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Schildknapp war in einer schlesischen Mittelstadt als Sohn eines Postbeamten geboren, dessen Stellung sich über das Subalterne erhob, ohne in den eigentlich höheren, Akademikern vorbehaltenen Verwaltungsdienst, in die Regierungsrat-Sphäre weiterführen zu können. Ein solcher Posten fordert kein Abiturienten-Zeugnis, keine juristische Vorbildung; man erlangt ihn nach einigen Jahren Vorbereitungsdienst durch Ablegung der Obersekretär-Prüfung. Dies war der Weg Schildknapps des Älteren gewesen; und da er ein Mann von Erziehung und guter Form, auch gesellschaftlich ehrgeizig war, die preußische Hierarchie ihn aber von den oberen Cirkeln der Stadt entweder ausschloß oder, wenn sie ihn ausnahmsweise zuließ, ihm dort Demütigungen zu kosten gab, so haderte er mit seinem Lose und war ein verstimmter Mann, ein Schmoller, der den verfehlten Aufbau seines Lebens die Seinen durch schlechte Laune entgelten ließ. Rüdiger, sein Sohn, schilderte uns sehr anschaulich, indem er Komik vor Pietät setzte, wie die soziale Verbitterung des Vaters ihm, zusammen mit der Mutter, den Geschwistern, das Leben vergällt hatte, — dies um so empfindlicher, als sie sich, der Kultur des Mannes gemäß, nicht in grobem Zank, sondern als feinere Leidigkeit, ausdrucksvolle Selbstbemitleidung kundgegeben hatte. Er war etwa zu Tische gekommen, um sogleich bei der Fruchtsuppe, in der Kirschen schwammen, heftig auf einen Kern zu beißen und sich eine Zahnkrone zu verletzen. »Ja, seht«, hatte er mit bebender Stimme gesagt, indem er die Arme ausbreitete, »so ist es, so geht es mir, so sieht es mir gleich, es ist in mich gelegt, es soll so sein! Ich hatte

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mich auf diese Mahlzeit gefreut, hatte einigen Appetit verspürt, der Tag ist warm, von der kalten Schale hatte ich mir Erfrischung versprochen. Da muß dies geschehen. Gut, ihr seht wohl, Freude ist mir nicht gewährt. Ich verzichte auf Weiteres. Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück. Laßt es euch schmecken!« hatte er mit versagender Stimme geschlossen und war von Tische gegangen, wohl wissend, daß es ihnen bestimmt nicht schmecken würde, da er sie in tiefer Depression zurückließ.
Man kann sich denken, wie erheitert Adrian durch die trübselig lustige Wiedergabe solcher mit jugendlicher Intensität erlebter Szenen war. Dabei hatten wir unser Lachen immer etwas zu dämpfen und im schonend Verständnisvollen zu halten, da es sich schließlich um des Erzählers Vater handelte. Rüdiger versicherte, das soziale Inferioritätsleiden des Familienhauptes habe sich mehr oder weniger ihnen allen mitgeteilt, er selbst habe es als eine Art von seelischem Knacks aus dem Elternhause davongetragen; aber gerade der Verdruß darüber schien einer der Gründe gewesen zu sein, weshalb er dem Vater nicht den Gefallen getan, in seiner Person die Scharte auszuwetzen, ihm die Hoffnung vereitelt hatte, doch wenigstens in dem Sohne noch Regierungsrat zu werden. Man hatte ihn das Gymnasium absolvieren lassen, ihn auf die Universität geschickt. Aber nicht einmal bis zum Assessor-Examen war er gediehen, sondern hatte sich der Literatur ergeben und lieber auf jede geldliche Versorgung von zu Hause verzichtet, als daß er den heißen, aber ihm widrigen Wünschen des Vaters genügt hätte. Er schrieb Gedichte in freien Rhythmen, kritische Aufsätze und kurze Erzählungen in reinlicher Prosa, hatte aber, teils unter wirtschaftlichem Zwang, teils auch, weil seine Produktion nicht eben übermächtig sprudelte, seine Tätigkeit vorwiegend auf das Gebiet der Übersetzung, namentlich aus seiner Lieblingssprache, dem Englischen, verlegt und bediente nicht nur mehrere Verlage mit Verdeutschungen englischer und amerikanischer Unterhaltungsbelletristik, sondern ließ sich auch von einem Münchener Luxus- und Kuriositätenverlage mit der Übersetzung älteren englischen Schrifttums, der dramatischen Moralitäten Skeltons,

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einiger Stücke von Fletcher und Webster, gewisser Lehrgedichte von Pope beauftragen und besorgte vorzügliche deutsche Ausgaben von Swift und Richardson. Dergleichen Werke versah er mit wohlfundierten Einleitungen und betreute die Übertragung mit viel Gewissenhaftigkeit, Stilgefühl und Geschmack, bis zur Versessenheit bemüht um die Genauigkeit der Wiedergabe, das Sichdecken des sprachlichen Ausdrucks und mehr und mehr den intrigierenden Reizen und Mühen der Reproduktion verfallend. Dies nun aber brachte eine Seelenlage mit sich, die, auf anderer Ebene, derjenigen seines Vaters glich. Denn er fühlte sich zum selbst hervorbringenden Schriftsteller geboren und sprach bitter von dem notgedrungenen Dienst an fremdem Gut, der ihn verzehrte, und durch den er sich auf eine ihn kränkende Weise abgestempelt fand. Dichter wollte er sein, war es auch seiner Überzeugung nach, und daß er um des leidigen Broterwerbes willen den vermittelnden Literaten abgeben mußte, stimmte ihn absprechend kritisch gegen die Beiträge anderer und war Gegenstand seiner täglichen Klage. »Wenn ich bloß Zeit hätte«, pflegte er zu sagen, »und arbeiten dürfte, statt schuften zu müssen, so wollte ich es ihnen schon zeigen!« Adrian war geneigt, ihm das zu glauben, ich aber, vielleicht zu hart urteilend, vermutete in seiner Verhinderung immer einen im Grunde willkommenen Vorwand, mit dem er sich selbst über den Mangel eines genuinen und durchschlagenden Schaffensimpulses täuschte.
Bei alldem darf man ihn sich nicht griesgrämlich denken; im Gegenteil war er sehr lustig, ja albern, begabt mit einem ausgesprochen angelsächsischen Sinn für Humor, und von Charakter ganz das, was die Engländer >boyish< nennen, — sofort war er immer mit allen Söhnen Albions bekannt, die als Touristen, Kontinental-Bummler, Musikbeflissene nach Leipzig kamen, redete in vollkommener, wahlverwandtschaftlicher Anpassung ihre Sprache mit ihnen, talking nonsense nach Lust und Liebe, und wußte sehr komisch ihre eigenen Versuche im Deutschen nachzuahmen, ihren Akzent, ihr allzu korrektes Verfehlen des umgangssprachlichen Ausdrucks, ihre Ausländer

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Schwäche für das sehr schriftliche Pronomen »jener, jenes«, wie sie also sagten: »Besichtigen Sie jenes!«, wenn sie nur sagen wollten: »Sehen Sie das da!« Auch sah er geradeso aus wie sie — ich habe noch gar nicht von seiner Erscheinung gesprochen. Sie war sehr gut und ungeachtet der ärmlichen, immer gleichen Kleidung, zu der seine Verhältnisse ihn nötigten, elegant und sportlich herrenhaft. Er war von markanten Gesichtszügen, deren geradezu edler Charakter nur durch eine etwas zerrissene und zugleich weichliche Mundbildung, wie ich sie bei Schlesiern öfters beobachtet habe, leicht beeinträchtigt wurde. Hochgewachsen, breitschultrig, schmalhüftig, langbeinig, trug er tagein, tagaus dieselben schon recht mitgenommenen gewürfelten Breeches, wollene Langstrümpfe, derbe gelbe Schuhe, ein Hemd aus grobem Leinen, dessen Kragen offenstand, und darüber irgendeine Jacke von schon unbestimmt gewordener Farbe und mit zu kurzen Ärmeln. Die Hände aber waren vornehm langfingrig, mit schön geformten, ovalen, gewölbten Nägeln, und so unverleugbar gentlemanlike war das Gesamtbild, das er bot, daß er es wagen konnte, in seinem salonwidrigen Alltagsaufzuge Gesellschaften zu besuchen, bei denen Abenddreß herrschend war, — den Frauen gefiel er immer noch besser, wie er da war, als seine Nebenbuhler in korrektem Schwarz und Weiß, und man sah ihn bei solchen Empfängen umringt von unverhohlen bewundernder Weiblichkeit.
Und doch! Und wiederum! Konnte seine dürftige, durch banalen Geldmangel entschuldigte Hülle seinem Kavalierstum nichts anhaben, das als die natürliche Wahrheit hindurchschien und sich gegen sie durchsetzte, so war wieder diese Wahrheit zum Teil eine Täuschung, und in diesem komplizierten Sinn war Schildknapp ein Blender. Die Sportlichkeit seiner Erscheinung war irreführend, denn er trieb gar keinen Sport, ausgenommen ein wenig Skilauf mit seinen Engländern zur Winterzeit in der >Sächsischen Schweiz<, wobei er sich aber leicht Darmkatarrhe zuzog, die meiner Meinung nach nicht ganz harmlos waren; denn trotz seiner braunen Gesichtsfarbe, seinen breiten Schultern stand seine Gesundheit nicht auf den

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festesten Füßen, und als noch jüngerer Mensch hatte er eine Lungenblutung gehabt, neigte also zur Tuberkulose. Seinem Glück bei Frauen entsprach meiner Beobachtung nach nicht ganz das Glück, dessen sie sich bei ihm erfreuten, — wenigstens individuell; denn in ihrer Gesamtheit genossen sie seine ganze Verehrung, eine vagierende, umfassende Verehrung, die so sehr dem Geschlecht als solchem, den Glücksmöglichkeiten der ganzen Welt galt, daß der Einzelfall ihn unaktiv, sparsam, zurückhaltend fand. Daß er so viel Liebesabenteuer hätte haben können, wie er wollte, schien ihm zu genügen, und es war, als scheute er vor jeder Bindung ans Wirkliche zurück, weil er einen Raub am Potentiellen darin sah. Das Potentielle war seine Domäne, der unendliche Raum des Möglichen sein Königreich, — darin und soweit war er wirklich ein Dichter. Aus seinem Namen schloß er, daß seine Vorfahren reisige Begleiter von Edlen und Fürsten gewesen waren, und obgleich er nie auf einem Pferd gesessen hatte, auch gar nicht nach der Gelegenheit trachtete, eines zu besteigen, fühlte er sich zum Reiter geboren. Er schrieb es atavistischer Erinnerung, einem Blutserbe zu, daß er sehr oft vom Reiten träumte, und machte uns ungemein überzeugend vor, wie natürlich es ihm war, mit der Linken den Zügel zu halten und mit der Rechten dem Gaule den Hals zu klopfen. Die häufigste Redensart in seinem Munde war das Wort »Man sollte«. Es war die Formel für ein wehmütiges Erwägen von Möglichkeiten, vor deren Erfüllung die Entschlußunfähigkeit stand. Man sollte dies und jenes tun, dies und jenes sein oder haben. Man sollte einen Leipziger Gesellschaftsroman schreiben, sollte, sei es auch als Tellerwäscher, eine Weltreise machen, sollte Physik, Astronomie studieren, ein Gütchen erwerben und nur noch im Schweiße seines Angesichts die Scholle bestellen. Hatten wir uns in einem Kolonialwarengeschäft ein wenig Kaffee mahlen lassen, so war er imstande, beim Hinaustreten mit nachdenklichem Kopfnicken zu äußern: »Einen Kolonialwarenladen sollte man haben!«
Von Schildknapps Unabhängigkeitssinn habe ich schon gesprochen. Es drückte sich dieser ja schon in seiner Verabscheuung

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des Staatsdienstes, seiner freien Berufswahl aus. Doch war er auch wieder vieler Herren Diener und hatte manches vom Krippenreiter. Warum hätte er übrigens bei seinen schmalen Verhältnissen nicht von seinem guten Aussehen, seiner gesellschaftlichen Beliebtheit einen nützlichen Gebrauch machen sollen? Er ließ sich viel einladen, aß da und dort zu Mittag in Leipziger Häusern, auch in reichen jüdischen, obgleich man antisemitische Äußerungen von ihm hören konnte. Leute, die sich zurückgesetzt, nicht nach Gebühr gewürdigt fühlen und sich dabei einer edlen Physis erfreuen, suchen oft ihre Genugtuung in rassischem Selbstgefühl. Das Besondere seines Falles war nur, daß er auch die Deutschen nicht mochte, von ihrer völkergesellschaftlichen Inferiorität durchdrungen war und es nun wieder damit erklärte, daß er es eher noch oder lieber gleich mit den Juden hielt. Diese ihrerseits, die jüdischen Verlegersfrauen und Bankiersdamen, blickten mit der tiefgefühlten Bewunderung ihrer Rasse für deutsches Herrenblut und lange Beine zu ihm auf und genossen es sehr, ihn zu beschenken: die Sportstrümpfe, Gürtel, Sweater und Halstücher, die er trug, waren meistens Geschenke, und nicht immer ganz unprovozierte. Denn wenn er eine Dame beim Shopping begleitete, konnte er wohl auf einen Gegenstand weisen und sagen: »Nun, Geld würde ich dafür nicht geben. Höchstens geschenkt würde ich's nehmen.« Und er nahm es geschenkt, mit der Miene eines, der ja gesagt hatte, daß er kein Geld dafür geben würde. Im übrigen bewies er sich und anderen seine Unabhängigkeit durch die grundsätzliche Weigerung, sich gefällig zu erweisen, — also dadurch, daß er, wenn man ihn brauchte, bestimmt nicht zu haben war. Fehlte ein Tischherr und bat man ihn, einzuspringen, so sagte er unfehlbar ab. Wünschte jemand, für eine Reise, einen vom Arzte vorgeschriebenen Kuraufenthalt sich seiner angenehmen Gesellschaft zu versichern, so war seine Weigerung desto gewisser, je deutlicher dem anderen an seiner Unterhaltung gelegen war. So hatte er sich ja auch dem Ansinnen Adrians verweigert, ihm >Love's Labour's Lost< als Textbuch einzurichten. Dabei liebte er Adrian sehr, war ihm aufrichtig

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anhänglich, und dieser nahm ihm das Versagen nicht übel, war überhaupt voller Duldsamkeit gegen seine Schwächen, über die ja auch Schildknapp selber lachte, und viel zu dankbar für sein sympathisches Gespräch, seine Vatergeschichten, seine englische Albernheit, als daß er ihm etwas hätte nachtragen mögen. Nie habe ich ihn so viel lachen, und zwar Tränen lachen, sehen wie beim Zusammensein mit Rüdiger Schildknapp. Ein echter Humorist, wußte der den unscheinbarsten Dingen eine momentan überwältigende Komik abzugewinnen. So ist es ja eine Tatsache, daß das Zerbeißen von sprödem Zwieback das Gehör des Essers mit betäubendem Geräusch belegt, es gegen die Außenwelt absperrt; und 'Schildknapp demonstrierte nun also beim Tee, wie eine zwiebackessende Gesellschaft einander gar nicht verstehen könne und ihre Konversation auf »Wie beliebt?«, »Haben Sie etwas gesagt?«, »Einen Augenblick,bitte!« beschränken müsse. Wie konnte Adrian auch lachen, wenn Schildknapp mit seinem Spiegelbild haderte! Er war nämlich eitel, — nicht auf banale Art, sondern in dichterischer Hinsicht auf das unendliche, seine Entschlußfähigkeit weit übersteigende Glückspotential der Welt, für das er sich jung und schön zu halten wünschte, und grämte sich über die Neigung seines Gesichtes zu verfrühter Runzelbildung, vorzeitigem Verwittern. Ohnehin hatte sein Mund etwas Greisenhaftes, und zusammen mit der gerade darauf niedergehenden, etwas hängenden Nase, die man gern noch als klassisch anzusprechen bereit war, ließ er Rüdigers Altersphysiognomie vorwegnehmen. Dazu kamen Stirnfalten, Strichfurchen von der Nase zum Mund und sonst allerlei Krähenfüße. So brachte er denn mißtrauisch sein Gesicht dem Spiegelglas nahe, schnitt sich eine sauere Grimasse, hielt sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger, strich sich angewidert die Wangen hinunter und winkte seinem Bilde so ausdrucksvoll mit der Rechten ab, daß wir beide, Adrian und ich, in lautes Lachen ausbrachen.
Was ich noch nicht erwähnt habe, ist, daß seine Augen genau die gleiche Farbe wie diejenigen Adrians hatten. Das war sogar eine merkwürdige Gemeinsamkeit: Ganz ebendieselbe

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Mischfarbe aus Grau-Blau-Grün wiesen sie auf wie bei jenem, und selbst ein identischer rostfarbener Ring um die Pupillen ließ sich bei beiden feststellen. Klinge es nun so sonderbar wie es mag, aber es schien mir immer, schien mir gewissermaßen zu meiner Beruhigung so, als hätte Adrians lachlustige Freundschart für Schildknapp mit dieser Gleichheit ihrer Augenfarbe zu tun, — was dem Gedanken gleichkam, daß sie auf einer ebenso tiefen wie heiteren Indifferenz beruhte. Kaum brauche ich hinzuzufügen, daß sie einander allezeit mit Nachnamen und »Sie« anredeten. Wußte ich Adrian auch nicht so zu amüsieren wie Schildknapp, — das Kindheits-Du zwischen ihm und mir hatte ich doch vor dem Schlesier voraus.


XXI

Heute morgen, während Helene, meine gute Frau, uns den Morgentrank bereitete und ein frischer oberbayerischer Herbsttag sich aus den obligaten Frühnebeln hervorzuklären begann, las ich im Blatt von dem glückhaften Wiederaufleben unseres Unterseeboot-Krieges, dem binnen vierundzwanzig Stunden nicht weniger als zwölf Schiffe, darunter zwei große Passagierdampfer, ein englischer und ein brasilianischer, mit fünfhundert Reisenden zum Opfer gefallen sind. Wir verdanken diesen Erfolg einem neuen Torpedo von fabelhaften Eigenschaften, das der deutschen Technik zu konstruieren gelungen ist, und ich kann eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken über unseren immer regen Erfindungsgeist, die durch noch so viele Rückschläge nicht zu beugende nationale Tüchtigkeit, welche immer noch voll und ganz dem Regime zur Verfügung steht, das uns in diesen Krieg geführt hat und uns tatsächlich den Kontinent zu Füßen gelegt, den Intellektuellentraum von einem europäischen Deutschland durch die allerdings etwas beängstigende, etwas brüchige und, wie es scheint, der Welt unerträgliche Wirklichkeit eines deutschen Europa ersetzt hat. Jenes unwillkürliche Genugtuungsgefühl gibt denn auch immer wieder

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dem Gedanken Raum, daß solche zwischeneinfallende Triumphe, wie die neuen Versenkungen oder der an und für sich prächtige Husarenstreich der Entführung des gestürzten italienischen Diktators, nur noch dazu dienen können, falsche Hoffnungen zu erwecken und einen Krieg zu verlängern, der nach der Einsicht der Verständigen nicht mehr gewonnen werden kann. Dies ist auch die Meinung des Hauptes unserer Freisinger theologischen Hochschule, Monsignore Hinterpförtner, wie er mir beim Abendschoppen unter vier Augen unumwunden eingestand, — ein Mann, der keine Ähnlichkeit hat mit dem leidenschaftlichen Gelehrten, um den sich im Sommer der gräßlich im Blut erstickte Münchener Studentenaufruhr zentrierte, aber dessen Weltverstand ihm keine Illusionen erlaubt, auch die nicht, die sich an den Unterschied klammert zwischen dem Nichtgewinnen und dem Verlieren des Krieges, also den Menschen die Wahrheit verschleiert, daß wir va banque gespielt haben, und daß das Fehlschlagen unseres Welteroberungsunternehmens einer nationalen Katastrophe ersten Ranges gleichkommen muß.
Dies alles sage ich, um den Leser daran zu erinnern, unter welchen zeitgeschichtlichen Umständen die Niederschrift von Leverkühns Lebensgeschichte vonstatten geht, und ihn bemerken zu lassen, wie die mit meiner Arbeit verbundene Aufregung ständig bis zur Ununterscheidbarkeit in eins verschmilzt mit derjenigen, die durch die Erschütterungen des Tages erzeugt wird. Nicht von Zerstreutheit rede ich, denn mich von meinem biographischen Vorhaben abzulenken, vermögen, wie mir scheinen will, die Geschehnisse eigentlich nicht. Dennoch, und trotz meiner persönlichen Geborgenheit, darf ich wohl sagen, daß diese Zeiten der steten Förderung einer Aufgabe wie der meinen nicht eben günstig sind. Und da überdies, gerade während der Münchener Unruhen und Hinrichtungen, eine mit Schüttelfrost einsetzende Grippe mich befiel, die mich für zehn Tage ans Bett fesselte und die geistigen und körperlichen Kräfte des Sechzigjährigen noch lange beeinträchtigte, so ist es kein Wunder, daß aus Frühling und Sommer schon vorgeschrittener

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Herbst geworden ist, seit ich die ersten Zeilen dieser Mitteilungen zu Papier brachte. Unterdessen haben wir die Zerstörung unserer würdigen Städte aus der Luft erlebt, die zum Himmel schreien würde, wenn nicht wir Schuldbeladenen es wären, die sie erleiden. Da aber wir es sind, erstickt der Schrei in den Lüften und kann, wie König Claudius' Gebet, »nicht zum Himmel dringen«. Wie wunderlich nimmt sich doch auch das gegen diese von uns heraufbeschworenen Untaten erhobene Kulturlamento im Munde derjenigen aus, die als die Künder und Bringer einer weltverjüngenden, in Ruchlosigkeit schwelgenden Barbarei den Schauplatz der Geschichte betraten! Mehrmals rückte das schütternde, stürzende Verderben meiner Klause atemberaubend nahe. Das fürchterliche Bombardement der Stadt Dürers und Willibald Pirckheimers war kein weit entferntes Ereignis mehr; und als das Jüngste Gericht auch München traf, saß ich bleich und wie die Wände, die Türen, die Fensterscheiben des Hauses bebend in meinem Studio und — schrieb mit zitternder Hand an vorliegender Lebensgeschichte. Denn diese Hand zittert ja ohnedies dabei, aus Gründen des Gegenstandes, und so ließ ich es mir nichts ausmachen, daß die gewohnte Erscheinung durch das äußere Schrecknis noch ein wenig verstärkt wurde.
Wir haben, sage ich, mit der Art von Hoffnung und Stolz, die deutsche Kraftentfaltung uns erregt, den Anbruch eines neuen Sturmes unserer Wehrmacht gegen die russischen Horden erlebt, die ihr unwirtliches, aber offenbar sehr geliebtes Land verteidigen, — einer Offensive, die nach wenigen Wochen in eine russische umschlug und seitdem zu nicht endenden, nicht aufzuhaltenden Geländeverlusten, um nur vom Gelände zu reden, geführt hat. Mit tiefer Verblüffung nahmen wir die Landung amerikanischer und kanadischer Truppen an der Südost-Küste Siziliens, den Fall von Syrakus, Catania, Messina, Taormina zur Kenntnis und erfuhren mit einer Mischung aus Schrecken und Neid, mit dem durchdringenden Gefühl, daß wir weder im guten noch schlechten Sinn dazu fähig wären, wie ein Land, dessen Geistesverfassung ihm noch erlaubt, aus einer

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Folge skandalöser Niederlagen und Verluste die nüchtern übliche Konsequenz zu ziehen, sich seines großen Mannes entledigte, um etwas später der Welt das zu gewähren, was man auch von uns verlangt, aber worein zu willigen die tiefste Not uns viel zu heilig und teuer sein wird: die unbedingte Übergabe. Ja, wir sind ein gänzlich verschiedenes, dem NüchternÜblichen widersprechendes Volk von mächtig tragischer Seele, und unsere Liebe gehört dem Schicksal, jedem Schicksal, wenn es nur eines ist, sei es auch der den Himmel mit Götterdämmerungsröte entzündende Untergang!
Das Vordringen der Moskowiter in unserer zukünftigen Kornkammer, der Ukraine, und das elastische Zurückgehen unserer Truppen auf die Dnjepr-Linie begleitete meine Arbeit — oder vielmehr, diese begleitete die Ereignisse. Seit einigen Tagen scheint die Unhaltbarkeit auch dieser Verteidigungsbarre erwiesen, obgleich unser Führer, herbeieilend, dem Rückzug ein mächtiges Halt gebot, das treffende Rügewort von der »Stalingrad-Psychose« sprach und die Dnjepr-Linie um jeden Preis zu halten befahl. Der Preis, jeder Preis, wurde erlegt, allein vergebens; und wohin, wie weit die rote Flut, von der die Zeitungen sprechen, sich noch ergießen wird, ist unserer schon zu abenteuerlichen Ausschweifungen geneigten Einbildungskraft überlassen. Denn ins Gebiet des Phantastischen und gegen alle Ordnung und Vorhersicht Verstoßenden gehört es ja, daß Deutschland selbst zum Schauplatz eines unserer Kriege werden könnte. Wir haben das vor fünfundzwanzig Jahren im letzten Augenblick zu verhindern gewußt, aber unsere zunehmend tragisch-heroische Seelenlage scheint uns nicht mehr zu erlauben, eine verlorene Sache zu quittieren, bevor das Undenkbare sich verwirklicht. Gottlob liegen noch weite Strecken zwischen dem östlich andringenden Verderben und unseren heimatlichen Gefilden, und wir mögen bereit sein, an dieser Front vorerst manche kränkende Einbuße hinzunehmen, um mit desto zäherer Kraft unseren europäischen Lebensraum gegen die westlichen Todfeinde deutscher Ordnung zu verteidigen. Die Invasion unseres schönen Sizilien bewies alles

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andere, als daß auch ein Fußfassen des Feindes auf dem italienischen Haupt- und Festlande möglich sei. Unglücklicherweise hat es sich ermöglichen lassen, und vorige Woche ist in Neapel ein kommunistischer, den Alliierten behilflicher Aufstand ausgebrochen, der die Stadt nicht länger als einen deutscher Truppen würdigen Aufenthalt erscheinen ließ, so daß wir sie, nach gewissenhafter Zerstörung der Bibliothek und mit Hinterlassung einer Zeitbombe im Hauptpostamt, erhobenen Hauptes geräumt haben. Unterdessen spricht man von Invasionsproben im Kanal, der mit Schiffen bedeckt sein soll, und der Bürger fragt sich, gewiß unerlaubterweise, ob nicht, was in Italien geschah und weiter, die Halbinsel hinauf, geschehen mag, gegen allen vorgeschriebenen Glauben an die Unverletzlichkeit der Feste Europa, auch in Frankreich, oder wo sonst immer, geschehen kann.
Ja, Monsignore Hinterpförtner hat recht: wir sind verloren. Will sagen: der Krieg ist verloren, aber das bedeutet mehr als einen verlorenen Feldzug, es bedeutet tatsächlich, daß wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte. Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab, — ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn. Ich will es nicht gewünscht haben, weil viel zu tief mein Mitleid, mein jammervolles Erbarmen ist mit diesem unseligen Volk, und wenn ich an seine Erhebung und blinde Inbrunst, den Aufstand, den Aufbruch, Ausbruch und Umbruch, den vermeintlich reinigenden Neubeginn, die völkische Wiedergeburt von vor zehn Jahren denke — diesen scheinbar heiligen Taumel, in den sich freilich, zum warnenden Zeichen seiner Falschheit, viel wüste Roheit, viel Schlagetot-Gemeinheit, viel schmutzige Lust am Schänden, Quälen, Erniedrigen mischte, und der, jedem Wissenden unverkennbar, den Krieg, diesen ganzen Krieg schon in sich trug —, so krampft sich mir das Herz zusammen vor der ungeheueren Investition an Glauben, Begeisterung, historischem Hochaffekt,

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die damals getätigt wurde und nun in einem Bankerott ohnegleichen verpuffen soll. Nein, ich will's nicht gewünscht haben — und hab' es doch wünschen müssen — und weiß auch, daß ich's gewünscht habe, es heute wünschen und es begrüßen werde: aus Haß auf die frevlerische Vernunftverachtung, die sündhafte Renitenz gegen die Wahrheit, den ordinär schwelgerischen Kult eines Hintertreppenmythus, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Mißbrauch und elenden Ausverkauf des Alt- und Echten, des Treulich-Traulichen, des Ur-Deutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet. Der Riesenrausch, den wir immer Rauschlüsternen uns daran tranken, und in dem wir durch Jahre trügerischen Hochlebens ein Übermaß des Schmählichen verübten, — er muß bezahlt sein. Womit? Ich habe das Wort schon genannt, in Verbindung mit dem Worte »Verzweiflung« sprach ich es aus. Ich werde es nicht wiederholen. Nicht zweimal überwindet man das Grauen, mit dem ich es dort weiter oben, unter einem bedauerlichen Ausfahren der Buchstaben, niederschrieb.

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Auch Sternchen sind eine Erquickung für Auge und Sinn des Lesers; es muß nicht immer gleich der stärker gliedernde NeuAnhub einer römischen Ziffer sein, und unmöglich konnte ich dem vorstehenden Exkurs ins Gegenwärtige, von Adrian Leverkühn nicht mehr Erlebte, den Charakter eines eigenen Hauptstückes zugestehen. Nach Klärung des Druckbildes durch die beliebte Figur werde ich vielmehr diesen Abschnitt mit einigen weiteren Mitteilungen über Adrians Leipziger Jahre vervollständigen, ohne mir zu verbergen, daß er auf diese Weise, als Kapitel genommen, ein recht uneinheitliches Aussehen gewinnt, aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt erscheint, — da es doch genug wäre, daß es mir schon mit dem vorigen nicht besser ergangen ist. Lese ich nach, was da alles zur Sprache kam: Adrians dramatische Wünsche und Pläne, seine frühesten

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Lieder, die schmerzliche Art zu blicken, die er während unserer Trennung angenommen, geistig verlockende Schönheiten der Shakespeare'schen Komödie, Leverkühns Vertonungen fremdsprachiger Gedichte und sein scheuer Kosmopolitismus, dazu der Boheme-Club des >Cafe Central<, an dessen Erwähnung sich das mit anfechtbarer Breite ausgeführte Portrait Rüdiger Schildknapps schließt, — so frage ich mich mit Recht, ob so krause Elemente eigentlich eine Kapitel-Einheit zu bilden imstande sind. Aber erinnere ich mich nicht, daß ich mir das Verfehlen eines beherrschten und regelmäßigen Aufbaus von Anfang an bei dieser Arbeit zum Vorwurf machen mußte? Auch meine Entschuldigung ist immer dieselbe. Mein Gegenstand steht mir zu nahe. Allzusehr fehlt es hier wohl überhaupt an dem Gegensatz, dem bloßen Unterschied von Stoff und Gestalter. Habe ich nicht mehr als einmal gesagt, daß das Leben, von dem ich handle, mir näher, teurer, erregender war als mein eigenes? Das Nächste, Erregendste, Eigenste ist kein >Stoff< es ist die Person — und nicht danach angetan, eine künstlerische Gliederung von ihr zu empfangen. Fern sei es von mir, den Ernst der Kunst zu leugnen; aber wenn es ernst wird, verschmäht man die Kunst und ist ihrer nicht fähig. Ich kann nur wiederholen, daß Paragraphen und Sternchen in diesem Buche ein reines Zugeständnis an die Augen des Lesers sind, und daß ich, wenn es nach mir ginge, das Ganze in einem Zuge und Atem, ohne jede Einteilung, ja ohne Einrückung und Absatz herunterschreiben würde. Ich habe nur nicht den Mut, ein so rücksichtsloses Druckwerk der lesenden Welt vor Augen zu bringen.

*

Da ich ein Jahr mit Adrian in Leipzig verlebte, weiß ich auch, wie er die übrigen vier seines Aufenthaltes dort zubrachte: der Konservatismus seiner Lebensweise lehrt es mich, der oft wie Starrheit anmutete und für mich etwas Bedrückliches haben konnte. Nicht umsonst hatte er in jenem Brief seine Sympathie für das »Nichts-wissen-Wollen«, die Abenteuerlosigkeit

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Chopins ausgedrückt. Auch er wollte nichts wissen, nichts sehen, eigentlich nichts erleben, wenigstens nicht im manifesten, äußerlichen Sinn des Wortes; auf Ab wechslung, neue Sinneseindrücke, Zerstreuung, Erholung war er nicht aus, und was besonders diese, die Erholung betrifft, so machte er sich gern über all die Leute lustig, die sich beständig erholen, bräunen und stärken — und niemand wisse, wozu. »Erholung«, sagte er, »ist für die, denen sie zu gar nichts taugt.« Sehr wenig lag ihm am Reisen zum Zweck des Schauens, des Aufnehmens, der >Bildung<. Er war ein Verächter der Augenlust, und so sensitiv sein Gehör war, so wenig hatte es ihn von jeher gedrängt, sein Auge an den Gestaltungen der bildenden Kunst zu schulen. Die Unterscheidung zwischen den Typen des Augen- und des Ohrenmenschen hieß er gut und unumstößlich richtig und rechnete sich entschieden zu dem zweiten. Was mich betrifft, so habe ich diese Einteilung nie für reinlich durchführbar gehalten und ihm persönlich die Verschlossenheit und Unwilligkeit des Auges nie recht geglaubt. Zwar sagt auch Goethe, daß die Musik ganz etwas Angeborenes, Inneres sei, das von außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedürfe. Aber es gibt ja ein inneres Gesicht, gibt die Vision, die etwas anderes ist und mehr umfaßt als das bloße Sehen. Und außerdem liegt ein tiefer Widerspruch darin, daß ein Mensch sollte für das menschliche Auge, das doch eben nur dem Auge erglänzt, einen Sinn haben, wie Leverkühn, und dabei die Perzeption der Welt durch dieses Organ wirklich ablehnen. Ich brauche nur die Namen Marie Godeau, Rudi Schwerdtfeger und Nepomuk Schneidewein zu nennen, um mir Adrians Empfänglichkeit, ja Schwäche für den Zauber des Auges, des schwarzen, des blauen, zu vergegenwärtigen, — wobei ich mir natürlich klar darüber bin, daß es ein Fehler ist, den Leser mit Namen zu bombardieren, mit denen er noch nicht das Geringste anzufangen weiß, und deren Verkörperung noch in weitem Felde steht, — ein Fehler, dessen grobe Offenkundigkeit auf seine Freiwilligkeit schließen lassen mag. Aber was, freilich, heißt auch wieder freiwillig! Ich bin mir wohl bewußt,

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diese leer-verfrühten Namen unter einem Zwange hierher gesetzt zu haben.—
Adrians Reise nach Graz, die nicht um des Reisens willen geschah, war eine Durchbrechung der Gleichmäßigkeit seines Lebens. Eine andere war die mit Schildknapp unternommene Fahrt ans Meer, als deren Frucht man jenes einsätzige symphonische Klanggebilde ansprechen kann. Damit nun wieder hing die dritte dieser Ausnahmen zusammen: eine Reise nach Basel, die er in Gesellschaft seines Lehrers Kretzschmar zur Teilnahme an Aufführungen sakraler Musik des Barock unternahm, die der Basler Kammerchor in der Martinskirche veranstaltete, und bei denen Kretzschmar den Orgelpart versehen sollte. Man hörte Monteverdi's Magnificat, Orgelstudien von Frescobaldi, ein Oratorium von Carissimi und eine Kantate Buxtehude's. Der Eindruck dieser >Musica riservata< auf Deverkühn, einer Affektmusik, die als Rückschlag auf den Konstruktivismus der Niederländer das Bibelwort mit erstaunlicher menschlicher Freiheit, deklamatorischer Ausdruckskühnheit behandelte und es mit einer rücksichtslos schildernden instrumentalen Gestik umkleidete, — dieser Eindruck war sehr stark und nachhaltig; viel sprach er mir damals brieflich und mündlich von dieser bei Monteverdi hervorbrechenden Modernität der musikalischen Mittel, saß auch viel danach in der Leipziger Bibliothek und exzerpierte Carissimi's >Jephta< und die >Psalmen Davids< von Schütz. Wer wollte in der quasi-geistlichen Musik seiner späteren Jahre, der >Apokalypse< und dem >Dr. Faustus<, den stilistischen Einfluß jenes Madrigalismus verkennen? Das Element eines zum Äußersten gehenden Ausdruckswillens war immer herrschend in ihm, zusammen mit der intellektuellen Leidenschaft für herbe Ordnung, das niederländisch Lineare. Mit anderen Worten: Hitze und Kälte walteten nebeneinander in seinem Werk, und zuweilen, in den genialsten Augenblicken, schlugen sie ineinander, das Espressivo ergriff den strikten Kontrapunkt, das Objektive rötete sich von Gefühl, so daß man den Eindruck einer glühenden Konstruktion hatte, die mir, wie nichts anderes, die Idee des Dämonischen nahebrachte und

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mich stets an den feurigen Riß erinnerte, welchen der Sage nach ein Jemand dem zagenden Baumeister des Kölner Doms in den Sand zeichnete.
Der Zusammenhang von Adrians erster Reise in die Schweiz mit der früheren nach Sylt bestand aber in folgendem. Das kulturell so regsame und unbeschränkte kleine Land hatte und hat einen Tonkünstler-Verein, zu dessen Veranstaltungen sogenannte Orchester-Leseproben, Lectures d'Orchestre, gehören,— das heißt: der die Jury abgebende Vorstand ließ jungen Komponisten von einem der Symphonie-Orchester des Landes und seinem Dirigenten ihre Werke mit Ausschluß der Öffentlichkeit und nur mit Zulassung von Fachleuten im Probespiel vorführen, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Schöpfungen abzuhören, Erfahrungen zu sammeln, ihre Phantasie von der Klangwirklichkeit belehren zu lassen. Eine solche Lesung wurde eben, fast gleichzeitig mit dem Basler Konzert, in Genf, durch das Orchestre de la Suisse Romande abgehalten, und durch seine Verbindungen war es Wendell Kretzschmar gelungen, Adrians >Meerleuchten< — das Werk eines jungen Deutschen, das war eine Ausnahme — auf das Programm setzen zu lassen. Für Adrian war es eine vollkommene Überraschung; Kretzschmar hatte sich den Spaß gemacht, ihn im Dunkeln zu lassen. Er ahnte sogar noch nichts, als er mit seinem Lehrer von Basel nach Genf zum Probespiel fuhr. Und dann erklang unter Herrn Ansermets Stabe seine »Wurzelbehandlung«, dieses Stück nächtlich funkelnden Impressionismus, das er selber nicht ernst nahm, schon beim Schreiben nicht ernst genommen hatte, und bei dessen kritischer Aufführung er auf Kohlen saß. Sich von der Hörerschaft mit einer Leistung identifiziert zu wissen, über die er innerlich hinaus ist, und die für ihn nur ein Spiel mit etwas Ungeglaubtem war, ist für den Künstler eine komische Qual. Gottlob waren Beifalls- und Mißfallenskundgebungen bei diesen Darbietungen ausgeschlossen. Privat nahm er Lobsprüche, Beanstandungen, Fehlernachweise, Ratschläge auf französisch und deutsch entgegen, indem er den Entzückten sowenig wie den Unzufriedenen widersprach. Übrigens stimmte er auch

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niemandem zu. Etwa eine Woche oder zehn Tage blieb er mit Kretzschmar in Genf, Basel und Zürich und kam mit den Künstler-Cirkeln dieser Städte in flüchtige Berührung. Viel Freude wird man nicht an ihm gehabt —nicht eben viel mit ihm anzufangen gewußt haben, wenigstens nicht, soweit man Anspruch auf Harmlosigkeit, Expansivität, kameradschaftliche Ausgiebigkeit erhob. Einzelne, hie und dort, mögen von seiner Scheuheit, der Einsamkeit, die ihn umhüllte, der hohen Schwierigkeit seiner Existenz verständnisvoll berührt gewesen sein, — vielmehr, ich weiß, daß das vorkam, und finde es einleuchtend. Meiner Erfahrung nach gibt es in der Schweiz viel Sinn für das Leiden, viel Wissen darum, welches überdies, mehr als an anderen Stätten hochgetriebener Kultur, etwa im intellektuellen Paris, mit dem Altstädtisch-Bürgerlichen verbunden ist. Hier war ein geheimer Berührungspunkt. Andererseits begegnete das introvertierte Schweizer Mißtrauen gegen den Reichsdeutschen hier einem besonderen Fall deutschen Mißtrauens gegen die >Welt<, — so sonderbar es scheinen mag, wenn man das enge Nachbarländchen im Gegensatz zum weiten und mächtigen deutschen Reich mit seinen Riesenstädten als >Welt< bezeichnet. Es hat aber damit seine unbestreitbare Richtigkeit: Die Schweiz, neutral, mehrsprachig, französisch beeinflußt, von westlicher Luft durchweht, ist tatsächlich, ihres winzigen Formates ungeachtet, weit mehr >Welt<, weit mehr europäisches Parkett als der politische Koloß im Norden, wo das Wort >international< seit langem ein Schimpfwort ist und ein dünkelmütiger Provinzialismus die Atmosphäre verdorben und stockig gemacht hat. Nun habe ich von Adrians innerem Kosmopolitismus schon gesprochen. Aber deutsche Weltbürgerlichkeit war wohl immer etwas anderes als Weltlichkeit, und mein Freund war ganz die Seele, sich vom Mondänen beklemmt, sich nicht davon aufgenommen zu fühlen. Um einige Tage früher schon als Kretzschmar kehrte er nach Leipzig zurück, dieser gewiß welthaltigen Stadt, wo aber das Weltliche mehr zu Gast als zu Hause ist, — dieser lächerlich redenden Stadt, wo zuerst die Begierde seinen Stolz angerührt hatte: eine tiefe Erschütterung, ein Erlebnis von Tiefe, wie er es der Welt nicht zutraute, und das, wenn ich alles recht sehe, nicht wenig dazu beitrug, ihn scheu gegen diese zu machen. Es ist zwar ganz falsch und nichts als deutscher Eckensteherdünkel, der Welt Tiefe abzusprechen. Aber das ist eben weltliche Tiefe, und es ist ein Schicksal wie ein anderes, das man hinnehmen muß, der provinziellen — und darum desto unheimlicheren — Tiefe Deutschlands zugeboren zu sein.

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Adrian behielt, ohne zu wechseln, während der ganzen viereinhalb Jahre, die er in Leipzig verbrachte, seine Zwei-ZimmerWohnung in der Petersstraße, nahe dem Collegium Beatae Virginis, wo er das >Magische Quadrat< wieder über dem Pianino befestigt hatte. Er hörte philosophische und musikhistorische Vorlesungen, las und exzerpierte auf der Bibliothek und brachte Kretzschmar seine kompositorischen Übungen zur Kritik: Klavierstücke, ein >Konzert< für Streichorchester und ein Quartett für Flöte, Klarinette, Corno di Bassetto und Fagott, — ich nenne die Stücke, die mir bekannt wurden, und die auch erhalten geblieben, wenn auch niemals veröffentlicht worden sind. Was Kretzschmar tat, war, ihn auf flaue Stellen hinzuweisen, ihm Tempokorrekturen, die Belebung eines starr wirkenden Rhythmus, die stärkere Profilierung eines Themas zu empfehlen. Er wies ihn auf eine Mittelstimme hin, die im Sande verlief, auf einen Baß, der liegenblieb, statt sich zu bewegen. Er legte den Finger auf einen Übergang, der nur äußerlich zusammenhielt, sich nicht organisch ergab, den natürlichen Fluß der Komposition in Frage stellte. Er sagte ihm eigentlich nur, was der Kunstverstand des Schülers ihm selbst hätte sagen können, und was er ihm schon gesagt hatte. Ein Lehrer ist das personifizierte Gewissen des Adepten, das ihn in seinen Zweifeln bestätigt, ihm seine Unzufriedenheit erläutert, seinen Verbesserungsdrang spornt. Ein Schüler wie Adrian aber brauchte im Grunde gar keinen Korrektor und Meister. Bewußt brachte er ihm Unfertiges, um sich darüber sagen zu lassen, was er selber schon wußte, — und sich dann über den Kunstverstand lustig zu machen, denjenigen des Lehrers, der mit dem seinen durchaus zusammentraf, — den Kunstverstand — man muß den Ton auf den zweiten Bestandteil des Wortes legen—, der der eigentliche Anwalt der Werk-Idee ist, — nicht der Idee eines Werkes, sondern der Idee des Opus selbst, des in sich ruhenden, objektiven und harmonischen Gebildes überhaupt, — der Manager seiner Geschlossenheit, Einheit, Organik, der Risse verklebt,

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Löcher stopft, jenen natürlichen Fluß< zuwege bringt, der ursprünglich nicht vorhanden war, und also gar nicht natürlich, sondern ein Kunstprodukt ist, — kurz, nachträglich erst und mittelbar stellt dieser Manager den Eindruck des Unmittelbaren und Organischen her. An einem Werk ist viel Schein, man könnte weitergehen und sagen, daß es scheinhaft ist in sich selbst, als >Werk<. Es hat den Ehrgeiz, glauben zu machen, daß es nicht gemacht, sondern entstanden und entsprungen sei, gleichwie Pallas Athene im vollen Schmuck ihrer ciselierten Waffen aus Jupiters Haupt entsprang. Doch das ist Vorspiegelung. Nie ist ein Werk so hervorgetreten. Es ist ja Arbeit, Kunstarbeit zum Zweck des Scheins — und nun fragt es sich, ob bei dem heutigen Stande unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis, unseres Wahrheitssinnes dieses Spiel noch erlaubt, noch geistig möglich, noch ernst zu nehmen ist, ob das Werk als solches, das selbstgenügsam und harmonisch in sich geschlossene Gebilde, noch in irgendeiner legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der schönste, und gerade der schönste, heute zur Lüge geworden ist.
Es fragt sich dies, sage ich, das heißt: ich lernte, mich so zu fragen, durch den Umgang mit Adrian, dessen Scharfblick oder, wenn man da.s Wort bilden darf, Scharfgefühl in diesen Dingen von letzter Unbestechlichkeit war. Meiner eigenen Gutmütigkeit lagen von Hause aus Einsichten fern, wie er sie gesprächsweise, als hingeworfene Apercus, äußerte, und sie taten mir weh, — nicht um meiner verletzten Gutmütigkeit, sondern um seinetwillen; sie schmerzten, bedrückten, ängstigten mich, weil ich gefährliche Erschwerungen seines Daseins, lähmende Inhibitionen bei der Entfaltung seiner Gaben darin erblickte. Ich habe ihn sagen hören:
»Das Werk! Es ist Trug. Es ist etwas, wovon der Bürger möchte, es gäbe das noch. Es ist gegen die Wahrheit und gegen den Ernst. Echt und ernst ist allein das ganz Kurze, der höchst konsistente musikalische Augenblick . ..«

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Wie hätte mich das nicht bekümmern sollen, da ich doch wußte, daß er selbst auf das Werk aspirierte, die Komposition einer Oper plante!
Ich habe ihn ebenso sagen hören:
»Schein und Spiel haben heute schon das Gewissen der Kunst gegen sich. Sie will aufhören, Schein und Spiel zu sein, sje will Erkenntnis werden.«
Was aber aufhört mit seiner Definition übereinzustimmen, hört das nicht überhaupt auf? Und wie will Kunst als Erkenntnis leben? Ich erinnerte mich an das, was er aus Halle über die Ausdehnung des Reiches des Banalen an Kretzschmar geschrieben hatte. Dieser hatte sich dadurch nicht im Glauben an die Berufung seines Schülers erschüttern lassen. Aber diese neueren, gegen Schein und Spiel, das heißt: gegen die Form selbst gerichteten Aufstellungen schienen auf eine solche Erweiterung des Reichs des Banalen, nicht mehr Zulässigen zu deuten, daß es die Kunst überhaupt zu verschlingen drohte. Mit tiefer Sorge fragte ich mich, welche Anstrengungen, intellektuellen Tricks, Indirektheiten und Ironien nötig sein würden, sie zu retten, sie wiederzuerobern und zu einem Werk zu gelangen, das als Travestie der Unschuld den Zustand der Erkenntnis einbekannte, dem es abgewonnen sein würde!
Mein armer Freund hat sich eines Tages, eines Nachts vielmehr, aus fürchterlichem Munde, von einem entsetzlichen Helfer über das hier Angedeutete Genaueres sagen lassen. Das Protokoll darüber liegt vor, und an seinem Ort werde ich es mitteilen. Mir hat es den instinktiven Schrecken, den Adrians Äußerungen mir damals erregten, erst recht erläutert und verdeutlicht. Was ich aber oben die »Travestie der Unschuld« nannte, — wie oft tat sich das von früh an in seiner Produktion so eigentümlich hervor! Es gibt darin, auf entwickeltster musikalischer Stufe, vor einem Hintergrund äußerster Spannungen, >Banalitäten< — natürlich nicht im sentimentalen Sinn oder in dem schwunghafter Gefälligkeit, sondern Banalitäten im Sinn eines technischen Primitivismus, Naivitäten oder Scheinnaivitäten also, die Meister Kretzschmar dem ungewöhnlichen Zögling schmunzelnd durchgehen ließ: gewiß weil er sie nicht als

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Naivitäten ersten Grades, wenn ich mich so ausdrücken darf, sondern als ein Jenseits von Neu und Abgeschmackt, als Kühnheiten im Gewände des Anfänglichen verstand.
Mich erinnerten sie stets daran, was uns der Stotterer einst über die Neigung der Musik gelehrt hatte, ihre Elemente zu zelebrieren. Auch an die Linde zu Buchel erinnerten sie mich, wenn die Stallhanne zu unserem Kinderdiskant so lehrhaft die »zweite Stimme« plärrte, und an unsere Kanongesänge. Es ist nicht leicht, ohne Notenbeispiele, die diesem Werkchen ein zu pedantisch-fachliches Ansehen geben würden, das Einfachste zu beschreiben. Aber da war denn also, mitten in einer Komposition von schwebender, dauernd vorenthaltener Tonart, ein F- Dur-Klang mit dem a als Oberstimme, der durch ein einfallendes des (bzw. cis) aufgehoben und, indem die Melodie den Halbtonschritt nach as zurückging, ın D-Dur mit dem Dominant-Vorhalt h überführt wurde, worauf ein neuerliches Durchgangs-f den Akkord in A-Dur auf- B Und diesem Nichts, dieser Fibelharmonik war ein Relief verliehen, es war diesen chromatischen Durchgangstönen, dem cıs (oder des), dem f dazwischen, der D-Dur Tonika, eine so demonstrative Bedeutsamkeit aufgeprägt, daß die Figur wie eine Verspottung zugleich und Verherrlichung des Fundamentalen, eine schmerzlich erinnerungsvolle Ironisierung der Tonalität, des temperierten Systems, der traditionellen Musik selber wirkte.
Auch in den dreizehn Brentano-Gesängen, denen ich, bevor ich diesen Abschnitt schließe, durchaus noch ein Wort widmen muß, findet sich dergleichen wiederholt, — ich habe das exakte Beispiel sogar dem bewunderungwürdigen Abendständchen »Hör, es klagt die Flöte wieder« entnommen, mit den Schlußzeilen:

»Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht. «

(Nur so sind auch die dreizehn Brentano-Gesänge zu begreifen, denen ich, bevor ich diesen Abschnitt schließe, durchaus noch ein Wort widmen muß, und die oft wie eine Verspottung zugleich und Verherrlichung des Fundamentalen, eine schmerzlich erinnerungsvolle Ironisierung der Tonalität, des temperierten Systems, der traditionellen Musik selber wirken.)

Daß Adrian in diesen Leipziger Jahren die Liederkomposition so eifrig pflegte, geschah zweifellos, weil er die lyrische Vermählung der Musik mit dem Wort als eine Vorbereitung auf die dramatische betrachtete, die er im Sinne hatte. Wahrscheinlich hing es aber auch mit den Skrupeln zusammen, die sein Geist wegen des Schicksals, der historischen Lage der Kunst selbst, des autonomen Werkes hegte. Er bezweifelte die Form als Schein und Spiel, — so mochte ihm die kleine und lyrische Form des Liedes noch als die annehmbarste, ernsteste, wahrste gelten; sie mochte ihm seine theoretische Forderung gedrängter Kürze am ehesten zu erfüllen scheinen. Dabei sind nicht nur mehrere dieser Gesänge, wie gleich das >O lieb Mädel< mit dem Buchstaben-Symbol, wie ferner die >Hymne<, >Die lustigen Musikanten<, >Der Jäger an den Hirten< und andere, recht umfangreich, sondern Leverkühn wollte sie auch alle zusammen immer als ein Ganzes, also als ein Werk betrachtet und behandelt wissen, das aus einer bestimmten stilistischen Konzeption, einem Grundlaut, der kongenialen Berührung mit einem bestimmten, wundersam hoch und tief verträumten Dichtergeist hervorgegangen war, und wollte niemals den Vortrag einzelner Stücke daraus, sondern stets nur die ge- , schlossene cyklische Darbietung zulassen, von dem unsäglich irren und wirren >Eingang< mit den geisterhaften Schlußzeilen:

O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!

bis zu dem düster geharnischten und gewaltigen Schlußstück:

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>Einen kenne ich . . . Tod so heißt er<, — ein rigoroser Vorbehalt, der der öffentlichen Aufführung zeit seines Lebens außerordentlich im Wege war, besonders da eines der Lieder, >Die lustigen Musikanten<, für ein ganzes Quintett von Stimmen, Mutter, Tochter, die beiden Brüder und den Knaben, der »früh das Bein gebrochen« hat, geschrieben ist, also für Alt, Sopran, Bariton, Tenor und eine Kinderstimme, die teils im Ensemble, teils einzeln, teils auch im Duett (nämlich der beiden Brüder) diese Nummer 4 des Cyklus vorzutragen haben. Sie war die erste, die Adrian orchestrierte, richtiger: gleich für ein kleines Orchester von Streichern, Holzbläsern und Schlagzeug setzte; denn viel ist in dem seltsamen Gedicht ja die Rede von den Pfeifen, dem Tamburin, den Schellen und Becken, den lustigen Geigentrillern, mit denen die phantastisch-kummervolle kleine Truppe bei Nacht, »wenn uns kein menschlich Auge sieht«, die Liebenden in ihrer Kammer, die trunkenen Gäste, das einsame Mädchen in den Zauberbann ihrer Weisen zieht. Geist und Stimmung des Stückes, das Gespenstisch-Bänkelsängerische, zugleich Liebliche und Gequälte seiner Musik sind einzig. Und doch zögere ich, ihm die Palme zu reichen unter den dreizehn, von denen mehrere die Musik in einem innerlicheren Sinn herausfordern, als dieses im Wort von Musik handelnde, und sich tiefer in ihr erfüllen. >Großmutter Schlangenköchin< — das ist ein anderes der Lieder, dieses »Maria, wo bist du zur Stube gewesen?«, dieses siebenmalige »Ach weh! Frau Mutter, wie weh!«, das mit unglaublicher Kunst der Einfühlung die traulich-bangste und schaurigste Region des deutschen Volksliedes beschwört. Denn es ist ja so, daß diese wissende, wahre und überkluge Musik um die Volksweise hier immerfort in Schmerzen wirbt. Stets bleibt diese unverwirklicht, ist da und nicht da, klingt fragmentarisch auf, klingt an und verschwindet wieder in einem ihr seelisch fremden musikalischen Stil, aus dem sie sich doch beständig zu gebären sucht. Es ist ein ergreifender künstlerischer Anblick und nicht weniger als ein kulturelles Paradox, wie, in Umkehrung des natürlichen Entwicklungsvorganges, bei dem aus dem

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Elementaren das Verfeinerte, Geistige wächst, dieses hier die Rolle des Ursprünglichen spielt, dem sich das Einfältige zu entringen strebt.

"Wehet der Sterne
heiliger Sinn
leis durch die Ferne
bis zu mir hin."

Das ist der fast im Raum verlorene Laut, der kosmische Ozon eines anderen Stückes, worin Geister in goldenen Kähnen den himmlischen See befahren und der klingende Lauf glänzender Lieder sich niederringelt, — hinaufwallt.

"Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
bietet sich tröstend und traurend die Hand,
sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
alles ist ewig im Innern verwandt."

Gewiß ganz selten in aller Literatur haben Wort und Klang einander gefunden und bestätigt wie hier. Es wendet Musik hier ihr Auge auf sich selbst und schaut ihr Wesen an. Dieses sich tröstend und trauernd Einander-die-Hand-Bieten der Töne, dieses verwandelnd-verwandt ineinander Verwoben- und Verschlungensein aller Dinge, — das ist sie, und Adrian Leverkühn ist ihr jugendlicher Meister. —
Kretzschmar sorgte, noch bevor er Leipzig verließ, um als Erster Kapellmeister ans Stadttheater von Lübeck zu gehen, für die Drucklegung der Brentano-Gesänge. Schott in Mainz nahm sie in Kommission, das heißt: Adrian hatte, mit Kretzschmars und meiner Hilfe (wir beteiligten uns beide daran), die Druckkosten zu tragen und blieb Eigentümer, indem er dem Kommissionär einen Gewinnanteil von 20% an der Netto-Einnahme zusicherte. Er überwachte die Herstellung des Klavierauszugs sehr genau, verlangte ein rauhes, unsatiniertes Papier, QuartFormat, einen breiten Rand, ein nicht zu enges Beieinander der Noten. Dazu bestand er auf dem vorgedruckten Vermerk, daß die Wiedergabe in Konzerten und Vereinen nur mit Bewilligung

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des Autors und nur im Ganzen, bei Vorführung aller dreizehn Stücke gestattet sei. Dies wurde ihm als prätentiös verargt und trug zusammen mit den Kühnheiten der Musik dazu bei, den Liedern den Weg in die Öffentlichkeit zu erschweren. 1922 erklangen sie, nicht in Adrians Gegenwart, wohl aber in meiner, in der Tonhalle von Zürich unter dem Stabe des trefflichen Dr. Volkmar Andreae, wobei die Partie des Knaben, der »früh das Bein gebrochen«, in den >Lustigen Musikanten< von einem leider wirklich verkrüppelten, an einem Krückchen gehenden Kinde, dem kleinen Jakob Nägli, mit glockenreiner, unbeschreiblich zu Herzen gehender Stimme gesungen wurde.
Übrigens und ganz nebenbei gesagt, war die hübsche OriginalAusgabe von Clemens Brentano's Gedichten, auf die Adrian sich bei seiner Arbeit stützte, ein Geschenk von mir: aus Naumburg hatte ich ihm das Bändchen nach Leipzig mitgebracht. Selbstverständlich war die Auswahl der dreizehn Gesänge ganz seine Sache; ich nahm nicht den geringsten Einfluß darauf. Aber ich darf sagen, daß sie fast Stück für Stück meinen Wünschen, meinen Erwartungen entsprach. — Ein unstimmiges Geschenk, so wird der Leser finden; denn was hatte ich, was hatte meine Sittlichkeit und Bildung wohl eigentlich mit den überall aus dem Kindlich-Volksklanglichen ins Geisterhafte entschwebenden, um nicht zu sagen: entartenden Sprachträumereien des Romantikers zu schaffen? Es war die Musik, kann ich darauf nur antworten, die mich zu der Gabe vermochte, — die Musik, die in diesen Versen in so leichtem Schlummer liegt, daß die leiseste Berührung von berufener Hand genügte, sie zu erwecken.

XXII

Als Leverkühn im September 1910, zu der Zeit also, da ich bereits am Gymnasium von Kaisersaschern zu unterrichten begonnen hatte, Leipzig verließ, wandte er sich zunächst ebenfalls der Heimat zu, nach Buchel, um an seiner Schwester Hochzeit

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teilzunehmen, die dort eben begangen wurde, und zu der nebst meinen Eltern auch ich geladen war. Ursula, nun zwanzigjährig, vermählte sich dem Optiker Johannes Schneidewein von Langensalza, einem vortrefflichen Mann, dessen Bekanntschaft sie bei dem Besuch einer Freundin in dem reizenden SalzaStädtchen, nahe Erfurt, gemacht hatte. Schneidewein, zehn oder zwölf Jahre älter als seine Braut, war Schweizer von Geburt, aus Berner Bauernblut. Sein Handwerk, die Brillenschleiferei, hatte er in der Heimat erlernt, war aber durch irgendwelche Fügung ins Reich verschlagen worden und hatte an jenem Platz ein Ladengeschäft mit Augengläsern und optischen Apparaten aller Art erworben, das er mit Glück betrieb. Er war von sehr gutem Aussehen und hatte sich seine angenehm zu hörende, bedächtig-würdige, mit stehengeblieben-altdeutschen Ausdrücken von eigentümlich feierlichem Klange durchsetzte schweizerische Redeweise bewahrt, die Ursel Leverkühn schon jetzt von ihm anzunehmen begann. Auch sie, obgleich keine Schönheit, war eine anziehende Erscheinung, in den Gesichtszügen dem Vater, nach der Art sich zu geben der Mutter ähnlicher, braunäugig, schlank und von natürlicher Freundlichkeit. So gaben die beiden ein Paar, auf dem mit Beifall das Auge weilte. In den Jahren von 1911 bis 23 hatten sie vier Kinder miteinander: Rosa, Ezechiel, Raimund und Nepomuk, schmucke Geschöpfe allesamt; der Jüngste aber, Nepomuk, war ein Engel. Doch davon später, ganz gegen das Ende erst meiner Erzählung. —
Die Hochzeitsgesellschaft war nicht zahlreich: der Geistliche, der Lehrer, der Gemeindevorsteher von Oberweiler mit ihren Frauen; von Kaisersaschern außer uns Zeitbloms nur Oheim Nikolaus; Verwandte Frau Elsbeths aus Apolda; eindenLeverkühns befreundetes Ehepaar mit Tochter aus Weißenfels; dazu Bruder Georg, der Agronom, und die Verwalterin, Frau Luder, — das war schon alles. Wendell Kretzschmar sandte von Lübeck ein Glückwunschtelegramm, das während des Mittagsmahls im Buchelhause eintraf. Es war kein abendliches Fest. Man hatte sich zeitig am Vormittag zusammengefunden; nach der Trauung in der Dorfkirche vereinigte ein vortreffliches

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Frühstück uns alle in dem mit schönem Kupfergerät geschmückten Speisezimmer des Brauthauses, und bald danach schon fuhren die Neuvermählten mit dem alten Thomas nach der Station Weißenfels ab, um von dort die Reise nach Dresden anzutreten, während die Hochzeitsgäste noch einige Stunden bei den guten Fruchtlikören Frau Luders zusammenblieben.
Adrian und ich taten an jenem Nachmittag einen Gang um die Kuhmulde und zum Zionsberg. Wir hatten zu reden über die Texteinrichtung von >Love's Labour's Lost<, die ich übernommen, und über die es schon viel Gespräch und Korrespondenz zwischen uns gegeben hatte. Aus Syrakus und Athen hatte ich ihm das Szenarium und Teile der deutschen Versifikation schicken können, bei der ich mich auf Tieck und Hertzberg stützte und gelegentlich, wenn Zusammenziehungen, es nötig machten, aus Eigenem möglichst stilvoll etwas hinzutat. Unbedingt nämlich wollte ich ihm eine deutsche Fassung des Librettos wenigstens auch unterbreiten, obgleich er immer noch an dem Vorhaben festhielt, die Oper auf englisch zu komponieren.
Sichtlich war er froh, der Hochzeitsgesellschaft ins Freie entkommen zu sein. Die Verschleierung seiner Augen zeigte an, daß Kopfschmerz ihn drückte, — und übrigens war es seltsam gewesen, in der Kirche und bei Tische dasselbe Anzeichen bei seinem Vater zu beobachten. Daß dieses nervöse Leiden gerade bei festlichen Gelegenheiten, unter dem Einfluß von Rührung und Erregung, sich einstellt, ist begreiflich. So war es beim Alten. In des Sohnes Fall war wohl die psychische Ursache vielmehr die, daß er nur notgedrungen und unter Widerständen an diesem Opferfest der Magdschaft, bei dem es sich obendrein um seine Schwester handelte, teilgenommen hatte. Allerdings kleidete er sein Mißbehagen in Worte der Anerkennung für die Schlichtheit und geschmackvolle Unaufdringlichkeit, mit der die Sache in unserem Falle war gehandhabt worden, für den Wegfall von >Tänzen und Bräuchen<, wie er sich ausdrückte. Er lobte es, daß alles am hellen Tage sich abgespielt hatte, die Trauungspredigt des alten Pfarrers kurz und schlicht

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gewesen war, und daß es bei Tisch keine anzüglichen Reden, zur Sicherheit überhaupt keine Reden gegeben habe. Wenn auch noch der Schleier, das weiße Sterbekleid der Jungfräulichkeit, die atlasnen Totenschuhe vermieden worden wären, so wäre es noch besser gewesen. Besonders günstig sprach er sich über den Eindruck aus, den Ursels Verlobter und nunmehriger Gatte auf ihn gemacht hatte.
»Gute Augen«, sagte er, »gute Rasse, ein braver, intakter, sauberer Mann. Er durfte um sie werben, durfte sie anschauen, ihrer zu begehren, — sie zum christlichen Weib zu begehren, wie wir Theologen sagen, mit berechtigtem Stolz darauf, daß wir dem Teufel die fleischliche Vermischung weggepascht haben, indem wir ein Sakrament, das Sakrament der christlichen Ehe draus machten. Sehr komisch eigentlich, diese Kaperung des Natürlich-Sündhaften für das Sakrosankte durch die bloße Voranstellung des Wortes >christlich<, — wodurch sich ja im Grunde nichts ändert. Aber man muß zugeben, daß die Domestizierung des Naturbösen, des Geschlechts, durch die christliche Ehe ein gescheiter Notbehelf war.«
»Gern höre ich es nicht«, erwiderte ich, »daß du die Natur dem Bösen vermachst. Der Humanismus, der alte und neue, nennt das die Verleumdung der Quellen des Lebens.«
»Mein Lieber, da gibt es nicht viel zu verleumden.«
»Man gerät«, sagte ich unbeirrt, »damit in die Rolle des Verneiners der Werke, man wird zum Anwalt des Nichts. Wer an den Teufel glaubt, der gehört ihm schon.«
Er lachte kurz auf.
»Du verstehst keinen Spaß. Ich habe doch als Theolog und also notwendig wie ein Theolog gesprochen.«
»Laß das gut sein!« sagte ich ebenfalls lachend.
»Du pflegst deine Scherze ernster zu meinen als deinen Ernst.«
Wir führten dies Gespräch auf der Gemeindebank unter den Ahornen auf der Höhe des Zionsberges, im herbstlich-nachmittäglichen Sonnenschein. Tatsache war, daß ich damals selbst schon auf Freiersfüßen ging, wenn auch die Hochzeit und selbst die öffentliche Verlobung noch bis zu meiner festen Anstel

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lung zu warten hatten, und daß ich ihm von Helenen und meinem vorhabenden Schritt zu erzählen wünschte. Seine Betrachtungen erleichterten es mir nicht gerade.
»Und sollen sein ein Fleisch«, fing er wieder an. »Ist es nicht ein kurioser Segen? Pastor Schröder hat sich gottlob das Zitat geschenkt. So angesichts des bräutlichen Paars ist es eher peinlich zu hören. Ist aber nur allzu gut gemeint und genau das, was ich Domestizierung nenne. Offenbar soll damit das Element der Sünde, der Sinnlichkeit, der bösen Lust überhaupt aus der Ehe wegeskamotiert werden, — denn Lust ist ja wohl nur bei zweierlei Fleisch, nicht bei einem, und daß sie ein Fleisch sein sollen, ist demnach ein friedlicher Unsinn. Andererseits kann man sich nicht genug darüber wundern, daß ein Fleisch Lust hat zum andern — es ist ja ein Phänomen, — nun ja, das vollkommen exzeptionelle Phänomen der Liebe. Natürlich sind Sinnlichkeit und Liebe auf keine Weise zu trennen. Man entschuldigt die Liebe von dem Vorwurf der Sinnlichkeit am besten, indem man umgekehrt das Liebeselement nachweist in der Sinnlichkeit. Die Lust zu fremdem Fleisch bedeutet eine Überwindung sonst vorhandener Widerstände, die auf der Fremdheit von Ich und Du, des Eigenen und des Anderen beruhen. Das Fleisch — um den christlichen Terminus beizubehalten — ist normalerweise nur sich selber nicht widerwärtig. Mit fremdem will es nichts zu tun haben. Wird auf einmal das fremde zum Objekt der Begierde und Lust, so ist das Verhältnis von Ich und Du in einer Weise alteriert, für die >Sinnlichkeit< nur ein leeres Wort ist. Man kommt nicht ohne den Begriff der Liebe aus, auch wenn angeblich nichts Seelisches dabei im Spiele ist. Jede sinnliche Handlung bedeutet ja Zärtlichkeit, ist Geben im Nehmen der Lust, Glück durch Beglückung, Liebeserweisung. >Ein Fleisch< sind Liebende nie gewesen, und die Verordnung will mit der Lust aus der Ehe die Liebe vertreiben.«
Ich war eigentümlich ergriffen und verwirrt von seinen Worten und hütete mich, ihn von der Seite anzusehen, obwohl ich dazu versucht war. Was man jedesmal empfand, wenn er von voluptuösen Dingen sprach, habe ich weiter oben angedeutet.

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Er war aber nie so aus sich herausgegangen, und es kam mir vor, als läge in seiner Redeweise etwas fremdartig Explizites, eine leise Taktlosigkeit gegen sich selbst und also auch gegen den Hörer, die mich beunruhigte, zusammen mit der Vorstellung, daß er dies alles mit von der Migräne getrübten Augen gesagt hatte. Dabei war der Sinn seiner Äußerung mir ja durchaus sympathisch.
»Gut gebrüllt, Löwe!« sagte ich so aufgeräumt wie möglich. »Das nenne ich zu den Werken stehen! Nein, mit dem Teufel hast du nichts zu schaffen. Du bist dir doch klar darüber, daß du eben weit mehr als Humanist denn als Theolog gesprochen hast?«
»Sagen wir: als Psycholog«, erwiderte er. »Ein neutraler Mittelstand. Aber es sind das, glaub' ich, die wahrheitsliebendsten Leute.«
»Und wie wäre es«, schlug ich vor, »wenn wir einmal ganz schlicht persönlich und bürgerlich sprächen? Ich wollte dir mitteilen, daß ich im Begriffe bin .. .«
Ich sagte ihm, wozu ich im Begriffe war, erzählte ihm von Helenen, wie ich sie kennengelernt, wie wir uns gefunden. Wenn ich seine Gratulation dadurch herzlicher gestalten könne, sagte ich, so möge er versichert sein, daß ich ihn von der Teilnahme an den >Tänzen und Bräuchen< meines Hochzeitsfestes im voraus dispensierte.
Er war sehr erheitert.
»Wundervoll!« rief er. »Guter Jüngling, du willst dich ehelich verheiraten. Was für eine rechtschaffene Idee! Dergleichen kommt immer als Überraschung, obgleich so gar nichts Überraschendes dabei ist. Nimm meinen Segen! But, if thou marry hang me by the neck, if horns that year miscarry!«
»Come, come, you talk greasily«, zitierte ich aus derselben Szene. »Wenn du das Mädchen kenntest und den Geist unseres Bündnisses, so wüßtest du, daß für meine Ruhe nichts zu befürchten, sondern daß im Gegenteil alles auf die Gründung von Ruhe und Frieden, eines gesetzten und ungestörten Glückes abgesehen ist.«

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»Ich zweifle nicht daran«, sagte er, »und zweifle nicht am Gelingen.«
Einen Augenblick schien er versucht, mir die Hand zu drükken, stand aber ab davon. Das Gespräch ruhte eine Weile und wandte sich, als wir zum Heimweg aufbrachen, wieder dem Hauptgegenstand, der geplanten Oper zu, nämlich der Szene im vierten Akt, mit deren Text wir gescherzt hatten, und die zu denen gehörte, welche ich unbedingt weglassen wollte. Ihr Wortgeplänkel war recht anstößig und dabei dramaturgisch entbehrlich. Zusammenziehungen waren auf jeden Fall unvermeidlich. Ein Lustspiel darf nicht vier Stunden dauern, — das war und blieb der Haupteinwand gegen die >Meistersinger<. Aber Adrian schien gerade die »Old sayings« der Rosaline und des Boyet, das »Thou can'st not hit it, hit it, hit it« etc. für die Kontrapunktik der Ouvertüre vorgesehen zu haben und feilschte überhaupt um jede Episode, obgleich er lachen mußte, als ich sagte, daß er mich an Kretzschmars Beißel und seinen naiven Eifer erinnere, die halbe Welt unter Musik zu setzen. Übrigens leugnete er, sich durch den Vergleich geniert zu fühlen. Von der humoristischen Hochachtung, die er schon beim ersten Hörensagen für den wunderlichen Neubeginner und Gesetzgeber der Musik empfunden habe, sei immer etwas in ihm hängengeblieben. Absurd zu sagen, aber er habe nie ganz aufgehört, an ihn zu denken, und denke neuerdings öfter an ihn als je.
»Erinnere-dich nur«, sagte er, »wie ich damals gleich seine tyrannische Kinderei mit den Herren- und Dienertönen gegen deinen Vorwurf des albernen Rationalismus verteidigte. Was mir instinktiv daran gefiel, war selbst etwas Instinktives, und mit dem Geist der Musik naiv Übereinstimmendes: der Wille, der sich auf komische Art" darin andeutete, irgend etwas wie einen strengen Satz zu konstituieren. Auf anderer, weniger kindlicher Ebene hätten wir seinesgleichen heute so nötig, wie seine Schäfchen damals ihn nötig hatten,—einen Systemherrn brauchten wir, einen Schulmeister des Objektiven und der Organisation, genial genug, das Wiederherstellende, ja das Archaische mit dem Revolutionären zu verbinden. Man sollte...«

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Er mußte lachen.
»Ich spreche schon ganz wie Schildknapp. Man sollte! Was sollte man nicht alles!«
»Was du da sagst«, warf ich ein, »von dem archaisch-revolutionären Schulmeister, hat etwas sehr Deutsches.«
»Ich nehme an«, erwiderte er, »daß du das Wort nicht zum Lobe, sondern eben nur kritisch charakterisierender Weise brauchst, wie es sich gehört. Es könnte aber außerdem etwas zeitlich Notwendiges ausdrücken, etwas Remedurverheißendes in einer Zeit der zerstörten Konventionen und der Auflösung aller objektiven Verbindlichkeiten, kurzum einer Freiheit, die anfängt, sich als Meltau auf das Talent zu legen und Züge der Sterilität zu zeigen.«
Ich erschrak bei diesem Wort. Schwer zu sagen, warum, aber es hatte in seinem Munde, überhaupt im Zusammenhange mit ihm, etwas Apprehensives für mich, etwas, worin Bangigkeit sich eigentümlich mit Ehrerbietung mischte. Dies rührte daher, daß in seiner Nähe Sterilität, drohende Lähmung und Unterbindung der Produktivität nur als etwas beinahe Positives und Stolzes, nur zusammen mit hoher und reiner Geistigkeit zu denken war.
»Es wäre tragisch«, sagte ich, »wenn Unfruchtbarkeit je das Ergebnis der Freiheit sein sollte. Es ist doch immer die Hoffnung auf die Entbindung produktiver Kräfte, um derentwillen Freiheit erobert wird!«
»Wahr«, erwiderte er. »Und sie leistet auch eine Weile, was man sich von ihr versprach. Aber Freiheit ist ja ein anderes Wort für Subjektivität, und eines Tages hält die es nicht mehr mit sich aus, irgendwann verzweifelt sie an der Möglichkeit, von sich aus schöpferisch zu sein, und sucht Schutz und Sicherheit beim Objektiven. Die Freiheit neigt immer zum dialektischen Umschlag. Sie erkennt sich selbst sehr bald in der Gebundenheit, erfüllt sich in der Unterordnung unter Gesetz, Regel, Zwang, System — erfüllt sich darin, das will sagen: hört darum nicht auf, Freiheit zu sein.«
»Ihrer Meinung nach«, lachte ich. »Soviel sie weiß! Aber in

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Wirklichkeit ist sie doch dann nicht Freiheit mehr, sowenig wie die aus der Revolution geborene Diktatur noch Freiheit ist.«
»Bist du dessen sicher?« fragte er. »Übrigens ist das ein politisch Lied. In der Kunst jedenfalls verschränken das Subjektive und Objektive sich bis zur Ununterscheidbarkeit, eines geht aus dem andern hervor und nimmt den Charakter des anderen an, das Subjektive schlägt sich als Objektives nieder und wird durch das Genie wieder zur Spontaneität erweckt, — >dynamisiert<, wie wir sagen; es redet auf einmal die Sprache des Subjektiven. Die heute zerstörten musikalischen Konventionen waren nicht allezeit gar so objektiv, so äußerlich auferlegt. Sie waren Verfestigungen lebendiger Erfahrungen und erfüllten als solche lange eine Aufgabe von vitaler Wichtigkeit: die Aufgabe der Organisation. Organisation ist alles. Ohne sie gibt es überhaupt nichts, am wenigsten Kunst. Und nun war es die ästhetische Subjektivität, die sich der Aufgabe annahm; sie machte sich anheischig, das Werk aus sich heraus, in Freiheit, zu organisieren.«
»Du denkst an Beethoven.«
»An ihn und an das technische Prinzip, durch das die herrische Subjektivität sich der musikalischen Organisation bemächtigte, also die Durchführung. Die Durchführung war ein kleiner Teil der Sonate gewesen, eine bescheidene Freistatt subjektiver Beleuchtung und Dynamik. Mit Beethoven wird sie universell, wird zum Zentrum der gesamten Form, die, auch wo sie als Konvention vorgegeben bleibt, vom Subjektiven absorbiert und in Freiheit neu erzeugt wird. Die Variation, also etwas Archaisches, ein Residuum, wird zum Mittel spontaner Neuschöpfung der Form. Die variative Durchführung breitet sich über die ganze Sonate aus. Sie tut das bei Brahms, als thematische Arbeit, noch durchgreifender und umfassender. Nimm ihn als Beispiel dafür, wie Subjektivität in Objektivität sich wandelt! Bei ihm entäußert sich die Musik aller konventionellen Floskeln, Formeln und Rückstände und erzeugt sozusagen die Einheit des Werks jeden Augenblick neu, aus Freiheit. Aber gerade damit wird die Freiheit zum Prinzip allseitiger

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Ökonomie, das der Musik nichts Zufälliges läßt und noch die äußerste Mannigfaltigkeit aus identisch festgehaltenen Materialien entwickelt. Wo es nichts Unthematisches mehr gibt, nichts, was sich nicht als Ableitung eines immer Gleichen ausweisen könnte, da läßt sich kaum noch von freiem Satze sprechen...«
»Aber auch nicht von strengem im alten Sinn.«
»Alt oder neu, ich werde dir sagen, was ich unter strengem Satz verstehe. Ich meine damit die vollständige Integrierung aller musikalischen Dimensionen, ihre Indifferenz gegeneinander kraft vollkommener Organisation.«
»Ich verstehe nicht ganz. « —
»Die Musik ist ein Wildwuchse«, sagte er. »Ihre verschiedenen Elemente, Melodik, Harmonik, Kontrapunkt, Form und Instrumentation haben sich historisch planlos und unabhängig voneinander entwickelt, Immer wenn ein isoliertes Materialbereich geschichtlich vorwärtsgebracht und höher gestuft wurde, blieben andere zurück und sprachen in der Einheit des Werkes dem Entwicklungsstand Hohn, der durch die fortgeschrittenen behauptet wurde. Nimm etwa die Rolle, die der Kontrapunkt in der Romantik spielte. Er ist dort bloße Dreingabe zum homophonen Satz. Entweder ist er eine äußerliche Kombination homophon gedachter Themen oder die nichts als ausschmückende Umkleidung des harmonischen Chorals mit Scheinstimmen. Aber wahrer Kontrapunkt verlangt nach der Simultaneität selbständiger Stimmen. Ein melodisch-harmonisch angelegter Kontrapunkt, wie der spätromantische, ist keiner... Was ich meine ist: Je weiter die einzelnen Materialbereiche entwickelt und manche sogar verschmolzen werden, wie in der Romantik Instrumentalklang und Harmonie, desto anziehender und gebietender wird die Idee einer rationalen Durchorganisation des gesamten musikalischen Materials, die aufräumte mit anachronistischen Mißverhältnissen und verhinderte, daß ein Element zur bloßen Funktion der anderen wird, wie zur romantischen Zeit die Melodik zur Funktion der Harmonik wurde. Es gälte alle Dimensionen gleich zu entwickeln und alle so auseinander hervorzubringen, daß sie konvergieren. Auf die universale Einheit der musikalischen Dimensionen käme es an. Ganz zuletzt geht es um die Aufhebung des Gegensatzes von polyphonem Fugenstil und homophonem Sonatenwesen.«
»Siehst du einen Weg dazu?«
»Siehst du einen Weg dazu?«
»Weißt du«, fragte er dagegen, »wo ich einem strengen Satz am nächsten war?«
Ich wartete. Er sprach bis zur Schwerverständlichkeit leise und zwischen den Zähnen, wie er zu tun pflegte, wenn er Kopfschmerzen hatte.
»Einmal im Brentano-Cyklus«, sagte er, »im >O lieb Mädel Das ist ganz aus einer Grundgestalt, einer vielfach variablen Intervallreihe, den fünf Tönen h-e-a-e-es abgeleitet, Horizontale und Vertikale sind davon bestimmt und beherrscht, soweit das eben bei einem Grundmotiv von so beschränkter Notenzahl möglich ist. Es ist wie ein Wort, ein Schlüsselwort, dessen Zeichen überall in dem Lied zu finden sind und es gänzlich determinieren möchten. Es ist aber ein zu kurzes Wort und in sich zu wenig beweglich. Der Tonraum, den es bietet, ist zu beschränkt. Man müßte von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halb ton-Alphabets größere Wörter bilden, Wörter von zwölf Buchstaben, bestimmte Kombinationen und Interrelationen der zwölf Halbtöne, Reihenbildungen, aus denen das Stück, der einzelne Satz oder ein ganzes mehrsätziges Werk strikt abgeleitet werden müßte. Jeder Ton der gesamten Komposition, melodisch und harmonisch, müßte sich über seine Beziehung zu dieser vorbestimmten Grundreihe auszuweisen haben. Keiner dürfte wiederkehren, ehe alle anderen erschienen sind. Keiner dürfte auftreten, der nicht in der

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Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte. Es gäbe keine freie Note mehr. Das würde ich strengen Satz nennen.«
»Ein frappierender Gedanke«, sagte ich. »Rationale Durchorganisation dürfte man das schon nennen. Eine außerordentliche Geschlossenheit und Stimmigkeit, eine Art von astronomischer Gesetzmäßigkeit und Richtigkeit wäre damit gewonnen. Aber, wenn ich's mir vorstelle, — das unveränderliche Abspielen einer solchen Intervallreihe, wenn auch noch so wechselnd gesetzt und rhythmisiert, würde wohl unvermeidlich eine arge Verdürftigung und Stagnation der Musik erzeugen.«
»Wahrscheinlich«, antwortete er mit einem Lächeln, das anzeigte, daß er auf das Bedenken vorbereitet gewesen war. Es war das Lächeln, das die Ähnlichkeit mit seiner Mutter stark hervortreten ließ, aber in einer mir vertrauten mühsamen Art hervorgebracht, wie es ihm eben unter Migränedruck gelingen wollte.
»Es geht auch so einfach nicht. Man müßte alle Techniken der Variation, auch die als künstlich verschrienen, ins System aufnehmen, also das Mittel, das einmal der Durchführung zur Herrschaft über die Sonate verhalf. Ich frage mich, wozu ich so lange unter Kretzschmar die alten kontrapunktischen Praktiken geübt und so viel Notenpapier mit Umkehrungsfugen, Krebsen und Umkehrungen des Krebses vollgeschrieben habe. Nun also, all das wäre zur sinnreichen Modifizierung des Zwölftönewortes nutzbar zu machen. Außer als Grundreihe könnte es so Verwendung finden, daß jedes seiner Intervalle durch das in der Gegenrichtung ersetzt wird. Ferner könnte man die Gestalt mit dem letzten Ton beginnen und mit dem ersten schließen lassen, dann auch diese Form wieder in sich umkehren. Da hast du vier Modi, die sich ihrerseits auf alle zwölf verschiedenen Ausgangstöne der chromatischen Skala transponieren lassen, so daß die Reihe also in achtundvierzig verschiedenen Formen für eine Komposition zur Verfügung steht, und was sonst noxh für Variationsscherze sich anbieten mögen. Eine Komposition kann auch zwei oder mehrere Reihen als

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Ausgangsmaterial benutzen, nach Art der Doppel- und Tripelfuge. Das Entscheidende ist, daß jeder Ton darin, ohne jede Ausnahme, seinen Stellenwert hat in der Reihe oder einer ihrer Ableitungen. Das würde gewährleisten, was ich die Indifferenz von Harmonik und Melodik nenne.«
»Ein magisches Quadrat«, sagte ich. »Aber hast du Hoffnung, daß man das alles auch hören wird?«
»Hören?« erwiderte er. »Erinnerst du dich an einen gewissen gemeinnützigen Vortrag, der uns einmal gehalten wurde, und aus dem hervorging, daß man in der Musik durchaus nicht alles hören muß? Wenn du unter >Hören< die genaue Realisierung der Mittel im einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternensystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesetzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man's nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.«
»Sehr merkwürdig«, sagte ich, »wie du die Sache beschreibst, läuft sie auf eine Art von Komponieren vor dem Komponieren hinaus. Die ganze Material-Disposition und -Organisation müßte ja fertig sein, wenn die eigentliche Arbeit beginnen soll, und es fragt sich nur, welches die eigentliche ist. Denn diese Zubereitung des Materials geschähe ja durch Variation, und die Produktivität der Variation, die man das eigentliche Komponieren nennen könnte, wäre ins Material zurückverlegt — samt der Freiheit des Komponisten. Wenn er ans Werk ginge, wäre er nicht mehr frei.«
»Gebunden durch selbstbereiteten Ordnungszwang, also frei.«
»Nun ja, die Dialektik der Freiheit ist unergründlich. Aber als Gestalter der Harmonik wäre er kaum frei zu nennen. Bliebe die Akkordbildung nicht dem Geratewohl, dem blinden Verhängnis überlassen?«
»Sage lieber: der Konstellation. Die polyphone Würde jedes akkordbildenden Tons wäre durch die Konstellation gewährleistet. Die geschichtlichen Ergebnisse, die Emanzipation der

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Dissonanz von ihrer Auflösung, das Absolutwerden der Dissonanz, wie es sich schon an manchen Stellen des späten WagnerSatzes findet, würde jeden Zusammenklang rechtfertigen, der sich vor dem System legitimieren kann.«
»Und wenn die Konstellation das Banale ergäbe, die Konsonanz, Dreiklangharmonik, das Abgenutzte, den verminderten Septimenakkord?«
»Das wäre eine Erneuerung des Verbrauchten durch die Konstellation.«
»Ich sehe da ein wiederherstellendes Element in deiner Utopie. Sie ist sehr radikal, aber sie lockert das Verbot, das doch eigentlich schon über die Konsonanz verhängt war. Das Zurückgehen auf die altertümlichen Formen der Variation ist ein ähnliches Merkmal.«
»Interessantere Lebenserscheinungen«, erwiderte er, »haben wohl immer dies Doppelgesicht von Vergangenheit und Zukunft, wohl immer sind sie progressiv und regressiv in einem. Sie zeigen die Zweideutigkeit des Lebens selbst.«
»Ist das nicht eine Verallgemeinerung?«
»Wovon?«
»Von häuslichen nationalen Erfahrungen?«
»Oh, keine Indiskretionen. Und keine Selbstgratulation! Alles, was ich sagen will, ist, daß deine Einwände — wenn sie als Einwände gemeint sind — nicht zählen würden gegen die Erfüllung des uralten Verlangens, was immer klingt, ordnend zu erfassen und das magische Wesen der Musik in menschliche Vernunft aufzulösen.«
»Du willst mich bei meiner Humanistenehre nehmen«, sagte ich. »Menschliche Vernunft! Und dabei, entschuldige, ist Konstellation« dein drittes Wort. Es gehört aber doch schon mehr der Astrologie. Die Rationalität, nach der du rufst, hat viel von Aberglauben, — vom Glauben an das ungreifbar und vag Dämonische, das im Glücksspiel, im Kartenschlagen und Loseschütteln, in der Zeichendeutung sein Wesen treibt. Umgekehrt wie du sagst, scheint dein System mir eher danach angetan, die menschliche Vernunft in Magie aufzulösen.«

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Er führte die geschlossene Hand an die Schläfe.
»Vernunft und Magie«, sagte er, »begegnen sich wohl und werden eins in dem, was man Weisheit, Einweihung nennt, im Glauben an die Sterne, die Zahlen...«
Ich antwortete nicht mehr, da ich sah, daß er Schmerzen hatte. Auch schien mir alles, was er gesagt hatte, das Gepräge der Schmerzen zu tragen, in ihrem Zeichen zu stehen, so geistvoll und bedenkenswert es gewesen sein mochte. Er selbst schien unserem Gespräch nicht weiter nachzuhängen; sein gleichgültiges Seufzen und Summen im Fortschlendern deutete darauf hin. Ich aber tat es natürlich, verdutzt und innerlich kopfschüttelnd, übrigens aber mit der stillen Überlegung, daß Gedanken zwar möglicherweise charakterisiert, aber keineswegs entwertet werden dadurch, daß sie mit Schmerzen zusammenhängen.
Wir sprachen wenig auf der verbleibenden Strecke; des Heimwegs. Ich erinnere mich, daß wir einige Augenblicke an der Kuhmulde haltmachten; wir taten ein paar Schritte seitwärts vom Feldwege und blickten, den Schein der sich schon neigenden Sonne im Gesicht, auf das Wasser. Es war klar; man sah, daß nur in der Nähe des Ufers der Grund flach war. Schnell fiel er schon in geringer Entfernung davon ins Dunkle ab. Bekanntlich war der Weiher in der Mitte sehr tief.
»Kalt«, sagte Adrian mit dem Kopfe hindeutend; »viel zu kalt jetzt zum Baden.« — »Kalt«, wiederholte er einen Augenblick später, diesmal mit merklichem Zusammenschaudern, und wandte sich zum Gehen.
Noch an diesem Abend mußte ich um meiner dienstlichen Pflichten willen nach Kaisersaschern zurückkehren. Er selbst verzögerte seine Abreise nach München, das er sich zum Wohnsitz ersehen, noch um einige Tage. Ich sehe ihn seinem Vater — zum letzten Mal, er wußte es nicht — zum Abschied die Hand drücken, sehe seine Mutter ihn küssen und vielleicht auf dieselbe Art, wie damals in der Wohnstube beim Gespräch mit Kretzschmar, seinen Kopf an ihre Schulter lehnen. Er sollte und wollte ihr nicht wiederkehren. Sie kam zu ihm.


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XXIII

»Wer's nicht anpacken will, kann's nicht fortschieben«, schrieb er mir, Kumpf parodierend, ein paar Wochen später aus der bayerischen Hauptstadt, zur Anzeige, daß er die Komposition von >Love's Labour's Lost< begonnen habe, und um auf die rasche Zustellung der restlichen Textbearbeitung zu dringen. Er brauche den Überblick, schrieb er, und wünsche zur Herstellung mancher musikalischen Verknüpfung und Beziehung gelegentlich auf spätere Teile vorzugreifen.
Er wohnte in der Rambergstraße, nahe der Akademie, als Untermieter einer Senatorswitwe aus Bremen, namens Rodde, die dort in einem noch neuen Hause mit ihren beiden Töchtern eine Wohnung zu ebener Erde innehatte. Das nach der stillen Straße gelegene Zimmer, gleich rechts neben der Entreetür, das man ihm abtrat, sagte ihm wegen seiner Reinlichkeit und sachlich-familiären Einrichtung zu, und bald hatte er es sich mit seiner persönlichen Habe, seinen Büchern und Noten vollends gerecht gemacht. Ein allenfalls etwas unsinniges Dekorationsstück bildete der umfangreiche, in Nußholz gerahmte Stich an der linken Seitenwand, welcher, Relikt eines verschollenen Enthusiasmus, Giacomo Meyerbeer am Klavier, eingebungsvoll erhobenen Blicks in die Tasten greifend und umschwebt von den Gestalten seiner Opern, darstellte. Indessen gefiel dem jungen Mieter die Apotheose nicht einmal so übel, und überdies wandte er ihr, wenn er im Korbstuhl an seinem Arbeitstisch, einem einfachen grün gedeckten Ausziehtisch, saß, den Rücken zu. So ließ er sie an ihrem Ort.
Ein kleines Harmonium, das ihn an alte Tage erinnern mochte, stand in dem Zimmer und war ihm dienlich. Da aber die Senatorin sich meistens in einem rückwärtigen, gegen das Hausgärtchen gelegenen Zimmer aufhielt und auch die Töchter vormittags gleichfalls unsichtbar blieben, so stand ihm auch der Flügel im Salon, ein etwas abgespielter, aber weichtöniger Bechstein, zu freier Verfügung. Dieser Salon nun, ausgestattet mit

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gesteppten Fauteuils, bronzierten Kandelabern, vergoldeten Gitterstühlchen, einem Sofa-Tisch mit Brokatdecke und einem reich gerahmten, stark nachgedunkelten Ölgemälde von 1850, welches das Goldene Hörn mit dem Blick auf Galata darstellte — kurz, mit Dingen, die sich als Reste eines einst wohlhäbigen bürgerlichen Haushalts zu erkennen gaben —, war abends nicht selten der Schauplatz einer Geselligkeit in kleinem Kreise, zu der auch Adrian sich, anfangs widerstrebend, dann gewohnheitsmäßig hinzuziehen ließ, um schließlich, wie die Umstände es mit sich brachten, ein wenig die Rolle des Haussohnes dabei zu spielen. Es war künstlerische oder halbkünstlerische Welt, die sich da zusammenfand, eine sozusagen stubenreine Boheme, gesittet und dabei frei, locker, amüsant genug, um die Erwartungen zu erfüllen, die Frau Senator Rodde bestimmt hatten, ihren Wohnsitz von Bremen nach der süddeutschen Hauptstadt zu verlegen. Ihre Bewandtnisse waren leicht zu durchschauen. Dunkeläugig, das braune, zierlich gekräuselte Haar nur wenig ergraut, von damenhafter Haltung, elfenbeinfarbenem Teint und angenehmen, noch ziemlich wohlerhaltenen Gesichtszügen, hatte sie ein Leben lang als gefeiertes Mitglied einer patrizischen Gesellschaft repräsentiert, einem dienstbotenreichen und verpflichtungsvollen Haushalt vorgestanden. Nach dem Tode ihres Gatten (dessen ernstes Portrait, im Amtsornat, ebenfalls den Salon schmückte), bei stark herabgesetzten Verhältnissen und wohl nicht ganz zu bewahrender Stellung in dem gewohnten Milieu, waren Wünsche einer unerschöpften und wahrscheinlich nie recht befriedigten Lebenslust in ihr frei geworden, die auf ein interessanteres Nachspiel ihres Lebens in menschlich wärmerer Sphäre abgezielt hatten. Ihre Gesellschaften gab sie, so wollte sie es wahrhaben, im Interesse ihrer Töchter, vorwiegend aber doch, wie ziemlich deutlich war, um selbst zu genießen und sich den Hof machen zu lassen. Man unterhielt sie am besten durch kleine, nicht zu weitgehende Schlüpfrigkeiten, Anspielungen auf die gemütlich-unbedenklichen Sitten der Kunststadt, Anekdoten von Kellnerinnen, Modellen, Malern,

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die ihr ein hohes und zierlich-sinnliches Lachen bei geschlossenem Munde entlockten.
Augenscheinlich liebten ihre Töchter, Ines und Clarissa, dies Lachen nicht; sie tauschten kalt mißbilligende Blicke dabei, die alle Reizbarkeit erwachsener Kinder gegen das UnerledigtMenschliche im Wesen der Mutter erkennen ließen. Dabei war wenigstens im Falle der Jüngeren, Clarissa's, die Entwurzelung aus dem Bürgerlichen bewußt, gewollt und betont. Die hochgewachsene Blondine mit dem großen, kosmetisch geweißten Gesicht, der gerundeten Unterlippe und dem wenig entwickelten Kinn bereitete sich auf die dramatische Laufbahn vor und nahm Unterricht bei dem Heldenvater des Hof- und Nationaltheaters. Sie trug ihr goldgelbes Haar in gewagter Frisur unter Hüten von Radgröße und liebte exzentrische Federboas. Übrigens ertrug ihre imposante Gestalt diese Dinge sehr wohl und absorbierte ihre Auffälligkeit. Eine Neigung zum Skurril-Makabren belustigte die ihr huldigende Herrenwelt. Ihr gehörte ein schwefelgelber Kater namens Isaak, den sie Trauer tragen ließ um den verstorbenen Papst, indem sie ihm eine schwarze Atlasschleife an den Schwanz band. Das Zeichen des Totenkopfes wiederholte sich in ihrem Zimmer, es war sowohl als wirkliches zähnebleckendes Skelettpräparat als auch in Form eines bronzenen Briefbeschwerers vorhanden, der das hohläugige Symbol der Vergänglichkeit und der >Genesung< auf einem Folianten liegend darstellte. Dieser trug in griechischen Lettern den Namen des Hippokrates. Das Buch war hohl, seine glatte Unterseite von vier kleinen, nur sehr sorgfältig mit einem feinen Instrument zu lösenden Schräubchen gehalten. Als später Clarissa sich mit dem Gift, das in der Höhlung verschlossen war, das Leben genommen hatte, überließ mir Frau Senator Rodde den Gegenstand zum Andenken, und ich bewahre ihn noch.
Auch Ines, die ältere Schwester, war zu einer tragischen Tat bestimmt. Sie vertrat —soll ich sagen: jedoch? —das erhaltende Element in der kleinen Familie, lebte im Protest gegen die Entwurzelung, das Süddeutsche, die Kunststadt, die Boheme,

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die Abendgesellschaften ihrer Mutter, rückwärts gewandt mit Betonung zum Alten, Väterlichen, Bürgerlich-Strengen und Würdigen. Doch hatte man den Eindruck, daß dieser Konservatismus eine Schutzvorrichtung war gegen Spannungen und Gefährdungen ihres Wesens, auf die sie doch auch wieder ein intellektuelles Gewicht legte. Sie war zierlicher von Gestalt als Clarissa, mit der sie sich sehr wohl vertrug, während sie die Mutter still und deutlich ablehnte. Schweres aschblondes Haar belastete ihr Haupt, das sie bei gedehntem Halse und gespitzt lächelndem Munde schräg vorgeschoben trug. Die Nase war etwas höckerig, der Blick ihrer blassen Augen fast von den Lidern verhängt, matt, zart und unvertrauend, ein Blick des Wissens und der Trauer, wenn auch nicht ohne einen Versuch der Schalkhaftigkeit. Ihre Erziehung war nicht mehr als hochkorrekt gewesen; zwei Jahre hatte sie in einem vornehmen, vom Hofe protegierten Karlsruher Mädchenpensionat verbracht. Sie befleißigte sich keiner Kunst oder Wissenschaft, sondern legte Wert darauf, sich als Haustochter in der Wirtschaft zu betätigen, las aber viel, schrieb außerordentlich wohlstilisierte Briefe mach Hause<, in die Vergangenheit, an ihre Pensionsvorsteherin, an ehemalige Freundinnen und dichtete unterderhand. Ihre Schwester ließ mich eines Tages ein Poem von ihr, betitelt >Der Bergmann<, sehen, dessen erste Strophe mir gegenwärtig ist. Sie lautete:

Ich bin ein Bergmann in der Seele Schacht
Und steige still und furchtlos dunkelwärts
Und seh' des Leidens kostbar Edelerz
Mit scheuem Schimmer leuchten durch die Nacht.

Ich habe das Weitere vergessen. Nur die Schlußzeile ist mir noch geblieben:

Und nie verlang' ich mehr empor zum Glück.

Soviel für jetzt von den Töchtern, zu denen Adrian in hausgenössisch freundschaftliche Beziehungen trat. Sie schätzten ihn nämlich beide und beeinflußten auch ihre Mutter dahin,

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ihn wertzuhalten, obgleich sie ihn wenig künstlerisch fand. Die Gäste des Hauses angehend, so mochte es so sein, daß eine wechselnde Auswahl von ihnen, darunter auch Adrian oder, wie es hieß, »unser Mieter, Herr Dr. Leverkühn«, schon zum Abendessen in das mit einem für den Raum viel zu monumentalen und überreich geschnitzten Eichenbuffet geschmückte Speisezimmer der Roddes gebeten waren; die anderen fanden sich um neun Uhr oder später zum Musizieren, Teetrinken und Plaudern ein. Es waren Kollegen und Kolleginnen Clarissa's, ein oder der andere feurige junge Mann mit Zungen-R und Fräulein mit gut vornsitzenden Stimmen; sodann ein Ehepaar Knöterich, — der Mann, Konrad Knöterich, autochthon münchnerisch, dem Ansehen nach einem alten Germanen, Sugambier oder Ubier gleich — es fehlte nur obenauf der gedrehte Haarschopf —, von unbestimmt künstlerischer Beschäftigung — er wäre wohl eigentlich Maler gewesen, dilettierte aber im Instrumentenbau und spielte recht wild und ungenau das Cello, wobei er heftig durch seine Adlernase schnob —, die Frau, Natalia, brünett, mit Ohrringen und schwarzen, in die Wangen sich biegenden Ringellöckchen, von spanisch-exotischem Einschlag und ebenfalls malerisch tätig; dann ein Gelehrter, Dr. Kranich, Numismatiker und Konservator des Münzkabinetts, klar, fest und heiter-verständig von Redeweise, jedoch bei asthmatisch belegter Stimme; ferner zwei befreundete Maler und Mitglieder der Sezession, Leo Zink und Baptist Spengler, — Österreicher der eine, aus der Gegend von Bozen, und Spaßmacher seiner gesellschaftlichen Technik nach, ein einschmeichelnder Clown, der unaufhörlich in sanft schleppender Sprache sich selbst und seine überlange Nase ironisierte, ein etwas faunischer Typ, die Frauen mit dem wirklich sehr komischen Blick seiner dicht beieinanderliegenden Rundaugen zum Lachen reizend, was immer ein guter Anfang ist, — der andere, Spengler, aus Mitteldeutschland gebürtig, mit sehr starkem blondem Schnurrbart, ein skeptischer Weltmann, vermögend, wenig arbeitend, hypochondrisch, belesen, stets lächelnd im Gespräch und rasch mit den Augen blinzelnd. Ines Rodde mißtraute ihm

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höchlichst, — inwiefern, sagte sie weiter nicht, sprach aber zu Adrian von ihm als einem versteckten Menschen und heimlichen Schleicher. Dieser gestand, daß Baptist Spengler etwas intelligent Beruhigendes für ihn habe, und er unterhielt sich gern mit ihm, — gab aber viel weniger den Werbungen eines weiteren Gastes nach, der sich um seine Sprödigkeit zutraulich bemühte. Es war Rudolf Schwerdtfeger, ein begabter junger Geiger, Mitglied des Zapfenstößer-Orchesters, das neben der Hofkapelle eine bedeutende Rolle im musikalischen Leben der Stadt spielte, und in welchem er unter den ersten Violinen arbeitete. In Dresden geboren, aber seiner Herkunft nach eher niederdeutsch, ein Blondkopf, von mittlerer, netter Statur, besaß er den Schliff, die einnehmende Gewandtheit sächsischer Zivilisation und war, ebenso gutmütig wie gefallsüchtig, ein eifriger Salonbesucher, der jeden freien Abend in mindestens einer, meistens aber zwei bis drei Gesellschaften verbrachte, dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen Mädchen sowohl wie reiferen Frauen, selig hingegeben. Leo Zink und er standen auf kühlem, zuweilen häkligem Fuß, — ich habe oft bemerkt, daß die Liebenswürdigen sich untereinander wenig mögen, und daß dies ebensowohl auf männliche Eroberer wie auf schöne Frauen zutrifft. Für mein Teil hatte ich nichts gegen Schwerdtfeger, ja mochte ihn aufrichtig gern, und sein früher, tragischer Tod, der für mich noch mit besonderen, unheimlichen Schauern umkleidet war, erschütterte mich in tiefster Seele. Wie deutlich sehe ich den jungen Menschen noch vor mir mit seiner knabenhaften Manier, eine Schulter in den Kleidern zurechtzurücken und dabei einen Mundwinkel kurz grimassierend nach unten zu ziehen; mit seiner weiteren naiven Gewohnheit, jemanden im Gespräch gespannt und gleichsam entrüstet anzusehen: seine stahlblauen Augen wühlten dabei förmlich in dem Gesicht des anderen, indem sie sich bald auf das eine, bald auf das andere Auge desselben einstellten, indes seine Lippen aufgeworfen waren. Was hatte er nicht auch für gute Eigenschaften, ganz abgesehen von seinem Talent, das man in seine Liebenswürdigkeit einrechnen mochte. Freimut, Anständigkeit, Vorurteilslosigkeit,

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künstlerisch neidlose Gleichgültigkeit gegen Geld und Gut, kurz, eine gewisse Reinheit,die auch aus dem Blick seiner — ich wiederhole es — schön stahlblauen Augen in dem allenfalls etwas bulldoggenhaft oder möpslich gebildeten, aber jugendlich anziehenden Gesicht strahlte, waren ihm eigen. Oft musizierte er mit der Senatorin, die keine üble Pianistin war, — wobei er nun wieder jenem Knöterich ins Gehege kam, den es verlangte, sein Cello zu fegen, da doch die Gesellschaft es weit mehr auf Rudolfs Vorträge abgesehen hatte. Sein Spiel war sauber und kultiviert, nicht großen Tons, aber von süßem Wohllaut und technisch nicht wenig brillant. Selten hat man gewisse Sachen von Vivaldi, Vieuxtemps und Spohr, die c-Moll-Sonate von Grieg, aber selbst auch die Kreutzer-Sonate und Stücke von Cesar Franck untadeliger gehört. Dabei war er schlichten Sinnes, von Literatur nicht berührt, jedoch besorgt um die gute Meinung geistig hochstehender Menschen, — nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil er ernstlich Wert auf den Umgang mit ihnen legte und sich durch ihn zu heben, zu vervollkommnen wünschte. Auf Adrian hatte er es gleich abgesehen, machte ihm den Hof, indem er geradezu die Damen darüber vernachlässigte, bat um sein Urteil, wollte von ihm begleitet sein, was aber Adrian damals stets ablehnte, zeigte sich begierig nach musikalischem und außer-musikalischem Gespräch mit ihm und war — ein Zeichen ungewöhnlicher Treuherzigkeit, aber auch von unbekümmertem Verständnis und einer natürlichen Kultur — durch keine Kühle, Zurückhaltung, Fremdheit zu ernüchtern, einzuschüchtern und abzustoßen. Einmal, als Adrian wegen Kopfschmerzen und völliger gesellschaftlicher Unlust der Senatorin abgesagt hatte und auf seinem Zimmer geblieben war, erschien plötzlich Schwerdtfeger bei ihm, in seinem Cutaway und seiner schwarzen Plastron-Krawatte, um ihn, angeblich im Auftrage mehrerer oder aller Gäste, zu überreden, doch zur Gesellschaft zu stoßen. Es sei so langweilig ohne ihn... Das hatte etwas Verblüffendes, denn Adrian war ja keineswegs ein belebender Gesellschafter. Auch weiß ich nicht, ob er sich damals gewinnen ließ. Allein trotz der Vermutung,

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daß er nur den Gegenstand abgab für ein ganz allgemeines Bedürfnis, gewinnend zu wirken, konnte er sich eines gewissen glücklichen Erstaunens über solche unverwüstliche Zutunlichkeit nicht enthalten. —
Damit habe ich den Personenbestand des Rodde'schen Salons, lauter Erscheinungen, deren Bekanntschaft, nebst derjenigen vieler anderer Mitglieder der Münchener Gesellschaft, ich als Freisinger Professor später selber machte, ziemlich vollständig aufgeführt. Wer über ein kleines noch hinzukam, war Rüdiger Schildknapp, — er, der nach Adrians Beispiel gefunden hatte, daß man, statt in Leipzig, in München leben sollte, und dem die Entschlußkraft zuteil geworden war, diese Ratsamkeit Tat werden zu lassen. Der Verleger seiner Übersetzungen aus älterer englischer Literatur hatte ja hier seinen Sitz, was von praktischem Wert für Rüdiger war; und außerdem hatte er wohl den Umgang mit Adrian entbehrt, den er denn auch sogleich wieder mit seinen Vatergeschichten und seinem »Besichtigen Sie jenes!« zum Lachen brachte. Er hatte nicht weit von der Wohnung des Freundes, im dritten Stock eines Hauses in der Amalienstraße, ein Zimmer genommen, und dort saß er nun, ausnehmend luftbedürftig von Natur, den ganzen Winter bei offenem Fenster, in Mantel und Plaid gehüllt, an seinem Tisch und rang, halb haßerfüllt und halb in leidenschaftlicher Verfallenheit, von Schwierigkeiten umgeben und Zigaretten verdampfend, um den genauen deutschen Gegenwert für englische Wörter, Phrasen und Rhythmen. Er pflegte mit Adrian zu Mittag zu essen, im Hoftheater-Restaurant oder in einer der Keller-Gaststätten der inneren Stadt, hatte aber bald, durch Leipziger Verbindungen, Zugang zu Privathäusern gefunden und es erreicht, daß, von abendlichen Einladungen zu schweigen, da und dort auch mittags ein Gedeck für ihn auflag, — etwa nachdem er mit der von seiner herrenmäßigen Armut bezauberten Hausfrau Shopping gegangen war. So war es bei seinem Verleger, Inhaber der Firma Radbruch & Co. in der Fürstenstraße; so bei den Schlaginhaufens, einem älteren, vermögenden und kinderlosen Ehepaar, welches, der Mann von schwäbischer Herkunft

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und Privatgelehrter, die Frau aus Münchener Familie, in der Brienner Straße eine etwas düstere, aber prächtige Wohnung innehatte. Ihr säulengeschmückter Salon war der Treffpunkt einer das Künstlerische und das Aristokratische umfassenden Gesellschaft, wobei es der Hausfrau, einer geborenen von Plausig, das liebste war, wenn beide Elemente sich in ein und derselben Person vereinigten, wie in der des Generalintendanten der Königlichen Schauspiele, Exzellenz von Riedesel, der dort verkehrte. — Ferner speiste Schildknapp bei dem Industriellen Bullinger, einem reichen Papierfabrikanten, der in der Widenmayerstraße am Fluß die Bel-Etage des von ihm errichteten Mietshauses bewohnte; in der Familie eines Direktors der Pschorrbräu-Aktiengesellschaft und noch an anderen Orten.
Bei Schlaginhaufens hatte Rüdiger auch Adrian eingeführt, der dort denn also, ein einsilbiger Fremdling, mit geadelten Malergrößen, der Wagner-Heroine Tanja Orlanda, auch noch mit Felix Mottl, bayerischen Hofdamen, dem >Urenkel Schillers^ Herrn von Gleichen-Rußwurm, der kulturgeschichtliche Bücher schrieb, und mit solchen Schriftstellern, die überhaupt nichts schrieben, sondern sich nur als Sprechliteraten gesellschaftlich interessant verausgabten, oberflächlich und folgenlos zusammentraf. Allerdings war es auch hier, wo er zuerst die Bekanntschaft Jeannette Scheurls machte, einer vertrauenswürdigen Person von eigentümlichem Charme, gute zehn Jahre älter als er, Tochter eines verstorbenen bayerischen Verwaltungsbeamten und einer Pariserin, — einer gelähmt im Stuhl verharrenden, aber geistig energischen alten Dame, die sich niemals die Mühe gegeben hatte, Deutsch zu lernen: mit Recht, da ihr im Glücke phraseologischer Konvention auf Schienen laufendes Französisch geradezu für Geld und Stand aufkam. In der Nähe des Botanischen Gartens bewohnte Madame Scheurl mit ihren drei Töchtern, von denen Jeannette die Älteste, ein recht beschränktes Appartement, in dessen vollständig pariserisch anmutendem kleinem Salon sie außerordentlich beliebte musikalische Tee-Empfänge gab. Hier überfüllten die Standard-Stimmen von Kammersängern und -Sängerinnen die

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engen Räume zum Bersten. Oft hielten blaue Hofkutschen vor dem bescheidenen Hause.
Jeannette angehend, so war sie Verfasserin, Romandichterin. Zwischen den Sprachen aufgewachsen, schrieb sie in einem reizend inkorrekten Privatidiom damenhafte und originelle Gesellschaftsstudien, die des psychologischen und musikalischen Reizes nicht entbehrten und unbedingt zur höheren Literatur zählten. Auf Adrian war sie sofort aufmerksam geworden und hielt sich zu ihm, der sich denn auch in ihrer Nähe, ihrem Gespräch geborgen fühlte. Von mondäner Häßlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht, darin sich das Bäuerliche mit dem Aristokratischen mischte, ganz ähnlich wie in ihrer Rede das bayerisch Dialekthafte mit dem Französischen, war sie außerordentlich intelligent und zugleich gehüllt in die naiv nachfragende Ahnungslosigkeit des alternden Mädchens. Ihr Geist hatte etwas Flatterndes, drollig Konfuses, worüber sie selbst aufs herzlichste lachte, — keineswegs in der Art, wie Leo Zink sich durch Selbstverspottung insinuierte, sondern ganz reinen und amüsablen Herzens. Zu alldem war sie sehr musikalisch, Pianistin, für Chopin entflammt, um Schubert literarisch bemüht, befreundet mit mehr als einem zeitgenössischen Namensträger im Reich der Musik, und ein befriedigender Austausch über Mozarts Polyphonie und sein Verhältnis zu Bach war der erste gewesen, de1" zwischen ihr und Adrian gepflogen worden. Er war und blieb ihr durch viele Jahre vertrauensvoll zugetan.
Übrigens wird niemand erwarten, daß die Stadt, die er sich zum Aufenthalt gewählt, ihn wirklich in ihre Atmosphäre aufnahm, daß sie ihn je zu dem Ihren machte. Ihre Schönheit, die monumentale und bergbachdurchrauschte Dörflichkeit des Stadtbildes unter föhnblauem Alpenhimmel mochte auch seinem Auge wohltun, die Bequemlichkeit ihrer Sitten, die etwas von permanenter Maskenfreiheit hatte, auch ihm das Dasein leichter machen. Ihr Geist — sit venia verbo! —, ihre töricht harmlose Lebensstimmung, die sinnlich-dekorative und karnevalistische Kunstgesinnung dieses selbstvergnügten Capua

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mußte einem tiefen und strengen Menschen wie ihm in der Seele fremd bleiben, — es war dies Stadtwesen ganz der rechte Gegenstand für den Blick, den ich seit Jahr und Tag an ihm kannte, den verschleierten, kalten und sinnend entfernten, dem das lächelnde Sichabwenden folgte.
Wovon ich spreche, ist das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemütskrankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen sollten, — diese perspektivenschöne Hauptstadt, deren politische Problematik sich auf den launigen Gegensatz zwischen einem halb separatistischen Volkskatholizismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte, — München mit seinen Wachtparade-Konzerten in der Feldherrnhalle, seinen Kunstläden, Dekorationsgeschäftspalästen und Saison-Ausstellungen, seinen Bauernbällen im Fasching, seiner Märzenbier-Dicktrunkenheit, der wochenlangen Monstre-Kirmes seiner Oktoberwiese, wo eine trotzig-fidele Volkhaftigkeit, korrumpiert ja doch längst von modernem Massenbetrieb, ihre Saturnalien feierte; München mit seiner stehengebliebenen Wagnerei, seinen esoterischen Koterien, die hinter dem Siegestor ästhetische Abendfeiern zelebrierten, seiner in öffentliches Wohlwollen gebetteten und grundbehaglichen Boheme. Adrian sah das alles an, wandelte darin, kostete davon während der neun Monate, die er für diesmal in Oberbayern verbrachte, einen Herbst, einen Winter, ein Frühjahr hindurch. Auf Künstlerfesten, die er mit Schildknapp besuchte, im Illusionsdämmer stilvoll dekorierter Säle, traf er mit Zugehörigen des Roddeschen Kreises, den jungen Schauspielern, den Knöterichs, Dr. Kranich, Zink und Spengler, den Töchtern des Hauses selbst wieder zusammen, saß mit Clarissa und Ines, dazu mit Rüdiger, Spengler und Kranich, auch wohl mit Jeannette Scheurl an einem Tische zusammen, von welchem Schwerdtfeger — als Bauernbursch gekleidet oder in der Tracht des florentinischen fünfzehnten Jahrhunderts, die seinen hübschen Beinen zustatten kam und ihn Botticelli's Jünglingsportrait mit der roten

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Mütze nicht unähnlich machte —, in Festlust aufgelöst und des Bedürfnisses, sich geistig zu heben, nun einmal gänzlich vergessen, die Rodde'schen Mädchen »in netter Weise« zum Tanze holte. »In netter Weise« war seine Vorzugsredensart; er hielt darauf, daß alles in Nettigkeit geschähe und unnette Unterlassungen vermieden würden. Er hatte viele Verpflichtungen und dringende Flirt-Interessen im Saal, aber es wäre ihm wenig nett erschienen, die Damen der Rambergstraße, mit denen er auf eher geschwisterlichem Fuße stand, ganz zu vernachlässigen, und diese Nettigkeitsbeflissenheit war auch so sichtbar in seiner geschäftigen Annäherung, daß Clarissa hochmütig sagte:
»Lieber Gott, Rudolf, wenn Sie nur nicht eine so strahlende Erlösermiene aufsetzen wollten, sobald Sie kommen! Ich versichere Sie, wir haben genug getanzt und brauchen Sie gar nicht.«
»Brauchen?« erwiderte er lustig entrüstet mit seiner etwas gaumigen Stimme.
»Und die Bedürfnisse meines Herzens sollen wohl überhaupt nicht gelten?«
»Keinen Pfifferling«, sagte sie. »Außerdem bin ich zu groß für Sie.«
Und sie ging mit ihm, das geringe Kinn, dem es an der Vertiefung unter der runden Lippe fehlte, stolz erhoben. Oder es war Ines, die er gebeten hatte, und die ihm verhängten Blicks und mit gespitztem Munde zum Tanze folgte. Übrigens war er nett nicht nur gegen die Schwestern. Er kontrollierte seine Vergeßlichkeit. Plötzlich, besonders wenn jene es abgelehnt hatten zu tanzen, konnte er nachdenklich werden und sich an den Tisch setzen, zu Adrian und Baptist Spengler, der immer im Domino war und Rotwein trank. Blinzelnd, ein Grübchen in der Wange über dem starken Schnurrbart, zitierte er eben das Goncourt'sche Tagebuch oder die Briefe des Abbe Galiani, und mit jenem Ausdruck, entrüstet geradezu vor Aufmerksamkeit, blickte Schwerdtfeger bohrend in das Gesicht des Plaudernden. Er unterhielt sich mit Adrian über das Programm des nächsten Zapfenstößer-Konzerts, verlangte, als ob es keine

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dringlicheren Interessen und Verpflichtungen an allen Enden gäbe, nach der Erweiterung und Erläuterung von etwas, was Adrian kürzlich bei Roddes über Musik, über den Zustand der Oper oder dergleichen gesagt hatte, und widmete sich ihm. Er nahm seinen Arm und schlenderte mit ihm am Rande des Festgedränges um den Saal, indem er sich des karnevalistischen Du gegen ihn bediente, unbekümmert darum, daß jener nicht darauf einging. Jeannette Scheurl hat mir später berichtet, daß, als Adrian einst von solchem Wandel an den Tisch zurückkehrte, Ines Rodde zu ihm sagte:
»Sie sollten ihm den Gefallen nicht tun. Er möchte alles haben.«
»Vielleicht möchte auch Herr Leverkühn alles haben«, bemerkte Clarissa, das Kinn in die Hand gestützt.
Adrian zuckte die Achseln.
»Was er möchte«, erwiderte er, »ist, daß ich ein Violinkonzert für ihn schreibe, mit dem er sich in der Provinz hören lassen kann.«
»Tun Sie das nicht!« sagte wieder Clarissa. »Es würden Ihnen nichts als Artigkeiten einfallen, wenn Sie sich dabei auf ihn bezögen.«
»Sie denken zu hoch von meiner Biegsamkeit«, gab er zurück und hatte das meckernde Gelächter Baptist Spenglers auf seiner Seite.
Aber genug von Adrians Teilnahme am Münchener Lebensgenuß! Fahrten in die notorisch wundervolle, wenn auch vom Fremdenbetrieb etwas ridikülisierte Umgebung zu machen, hatte er in Gesellschaft Schildknapps und meist auf dessen Drängen schon im Winter begonnen und hart glänzende Schneetage mit ihm in Ettal, Oberammergau, Mittenwald verbracht. Als der Frühling kam, mehrten sich sogar diese Ausflüge, sie galten den berühmten Seen, den Theaterschlössern des volkstümlichen Wahnsinnigen, und öfters fuhr man zu Rade (denn Adrian liebte das Fahrrad als Mittel unabhängiger Wanderung) aufs Geratewohl ins grünende Land hinein und nächtigte, wie es sich traf, im Bedeutenden oder Unscheinbaren. Ich gedenke

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dessen, weil Adrian auf eben diese Weise schon damals die Bekanntschaft des Ortes machte, den er sich später zum persönlichen Lebensrahmen erwählen sollte: Pfeifferings bei Waldshut und des Hofes der Schweigestills.
Das Städtchen Waldshut, ohne Reiz und Sehenswürdigkeit übrigens, liegt an der Bahnlinie Garmisch-Partenkirchen, eine Stunde von München, und die nächste Station, nur zehn Minuten weiter, ist Pfeiffering oder Pfeffering, wo aber Schnellzüge nicht halten. Sie lassen den Zwiebelturm der Kirche Pfeiffermgs beiseite liegen, der sich aus der hier noch anspruchslosen Landschaft erhebt. Der Besuch Adrians und Rüdigers an dem Fleck war eine reine Improvisation und ganz flüchtig für diesmal. Sie übernachteten nicht einmal bei Schweigestills, denn beide hatten am nächsten Morgen zu arbeiten und wollten vor Abend mit dem Zuge von Waldshut nach München zurückkehren. Sie hatten im Wirtshaus am Hauptplatz des Städtchens zu Mittag gegessen, und da ihnen der Fahrplan mehrere Stunden ließ, fuhren sie auf der baumbestandenen Landstraße weiter nach Pfeiffering, führten ihre Räder durchs Dorf, ließen sich von einem Kinde den Namen des nahen Weihers, des Klammerweihers, sagen, warfen einen Blick auf die baumgekrönte Anhöhe >Rohmbühel< und baten unter dem Bellen des Kettenhundes, den eine barfüßige Magd mit seinem Namen »Kaschperl« berief, um ein Glas Limonade unter dem mit einem geistlichen Wappen geschmückten Tor des Gutshauses, — weniger von Durstes wegen, als weil ihnen das massive und charaktervolle Bauernbarock des Gebäudes gleich in die Augen gestochen hatte.
Ich weiß nicht, wieweit Adrian damals etwas >merkte<, ob er sofort oder erst allmählich, nachträglich und in erinnerndem Abstand, gewisse Verhältnisse, in eine andere, aber nicht ferne Tonart transponiert, wiedererkannte. Ich neige zu dem Glauben, daß ihm die Entdeckung zunächst unbewußt blieb, und daß sie ihm später erst, vielleicht im Traum, überraschend aufging. Jedenfalls äußerte er zu Schildknapp keine Silbe, wie er ja auch gegen mich der sonderbaren Entsprechung niemals

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gedacht hat. Aber selbstverständlich kann ich mich irren. Weiher und Hügel, der riesige alte Baum im Hof — allerdings eine Ulme — mit seiner grüngestrichenen Rundbank und weitere, noch hinzukommende Einzelheiten mögen auf den ersten Blick frappierend gewirkt haben; kein Traum mag nötig gewesen sein, ihm die Augen zu öffnen, und daß er nichts sagte, beweist ganz gewiß nicht das geringste.
Es war Frau Else Schweigestill, die den Besuchern im Haustor stattlich entgegentrat, sie freundlich anhörte und ihnen in hohen Gläsern mit langgestielten Löffeln die Limonade mischte. Sie kredenzte sie ihnen in einer fast saalartigen, gewölbten guten Stube links an der Diele, einer Art von Bauernsalon mit gewaltigem Tisch, Fensternischen, die die Dicke der Mauern erkennen ließen, und der geflügelten Nike von Samothrake in Gips oben auf dem buntbemalten Spind. Auch ein braunes Klavier stand in dem Saal. Er werde nicht von der Familie benutzt, erklärte Frau Schweigestill, indem sie sich zu ihren Gästen setzte; der diene ein kleineres Zimmer schräg gegenüber, gleich bei der Haustür, zum abendlichen Aufenthalt. Das Haus biete viel überflüssigen Raum; weiterhin an dieser Seite gebe es noch ein ansehnliches Gelaß, die sogenannte Abtsstube, wohl so genannt, weil es dem Vorsteher der Augustiner-Mönche, die hier einst gewirtschaftet, als Studio gedient habe. Daß der Hof ein Klostergut gewesen war, bestätigte sie damit. Seit drei Generationen saßen die Schweigestills darauf.
Adrian erwähnte, daß er selbst vom Lande stamme, allerdings schon lange in Städten lebe, erkundigte sich, wieviel Grund das Gut umfasse, und erfuhr, daß es rund vierzig Tagwerk Äcker und Wiesen nebst einem Walde seien. Auch die an dem freien Platz gegenüber dem Hof gelegenen niederen Gebäude mit den Kastanien davor gehörten zu dem Besitztum. Ehemals hätten dienende Brüder dort gewohnt, jetzt ständen sie fast immer leer und seien auch kaum zum Wohnen eingerichtet. Vorvorigen Sommer habe ein Kunstmaler aus München sich dort eingemietet, der in der Umgegend, dem Waldshuter Moor und so weiter, habe landschaftern wollen und auch

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mehrere hübsche Ansichten, allerdings etwas traurig, grau in grau gemalt, zustande gebracht habe. Drei davon seien im Glaspalast ausgestellt gewesen, wo sie sie selbst wiedergesehen, und eine habe Direktor Stiglmayer von der Bayerischen Wechselbank käuflich erworben. Die Herren seien wohl auch Kunstmaler?
Sie mochte auf jenen Mieter nur zu sprechen gekommen sein, um die Vermutung zu äußern und herauszubekommen, mit wem sie es ungefähr zu tun habe. Als sie erfuhr, daß es sich um einen Schriftsteller und einen Musiker handelte, hob sie respektvoll die Brauen und meinte, das sei seltener und interessanter, Kunstmaler gebe es wie Gänseblumen. Die Herren seien ihr auch gleich recht ernst vorgekommen, wo doch die Kunstmaler meistens ein lockeres, sorgloses Völkchen seien, ohne viel Sinn für den Ernst des Lebens, — sie meine nicht den praktischen Ernst, das Geldverdienen und diese Dinge, sondern wenn sie Ernst sage, meine sie eher das Schwere des Lebens, seine dunklen Seiten. Übrigens wolle sie der Gattung der Kunstmaler nicht unrecht tun, denn ihr Mieter von damals, zum Beispiel, habe schon gleich eine Ausnahme von der Vergnügtheit gemacht und sei ein sehr stiller, verschlossener Mann gewesen, eher von schwerem Mut, — danach hätten ja auch seine Bilder, die Moorstimmungen und einsamen Waldwiesen im Nebel, ausgesehen, ja man dürfe sich wundern, daß Direktor Stiglmayer sich eines davon, und gerade das allerdüsterste, zum Kaufe ausersehen habe: er müsse, obgleich Finanzmann, selbst einen Stich ins Melancholische haben.
Aufrecht, den braunen, nur leicht melierten Scheitel glatt und fest angezogen, so daß man die weiße Kopfhaut sah, in ihrer gewürfelten Wirtschaftsschürze, eine ovale Brosche am runden Halsausschnitt, saß sie bei ihnen, die kleinen, wohlgeformten und tüchtigen Hände, deren rechte den glatten Ehereif trug, auf der Tischplatte zusammengefügt.
Sie habe die Künstler gern, sagte sie in ihrer mit »halt« und »fei« und »Gellen S' ja?« dialekthaft gefärbten, aber doch recht geläuterten Sprechweise, denn sie seien Leute von Verständnis,

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und Verständnis sei im Leben das Allerbeste und Wichtigste, — die Lustigkeit der Kunstmaler beruhe im Grunde wohl auch darauf, es gebe eben eine lustige und eine ernste Art des Verständnisses, und noch nicht heraus sei, welcher der Vorzug gebühre. Vielleicht sei das passendste etwas Drittes: ein ruhiges Verständnis. Künstler müßten natürlich in der Stadt leben, weil dort die Kultur statthabe, mit der sie es zu tun hätten; eigentlich aber gehörten sie mit Bauersleuten, die in der Natur und darum dem Verständnis näher lebten, viel richtiger zusammen als mit den Stadtbürgern, deren Verständnis entweder verkümmert sei, oder die es um der bürgerlichen Ordnung willen unterdrücken müßten, was aber eben auf Verkümmerung hinauslaufe. Sie wolle aber auch gegen die Stadtleute nicht ungerecht sein; immer gebe es Ausnahmen, vielleicht heimliche Ausnahmen, und Direktor Stiglmayer, um ihn wieder zu nennen, habe durch den Ankauf jenes schwermütigen Bildes viel Verständnis, und zwar nicht nur künstlerisches, bewiesen.
Hierauf bot sie ihren Gästen Kaffee und Pfundskuchen an, aber Schildknapp und Adrian wollten die ihnen verbleibende Zeit lieber dazu benutzen, einen Blick auf Haus und Hof zu werfen, wenn sie so freundlich sein wolle, sie ihnen zu zeigen.
»Gern«, sagte sie. »Nur schad', daß mein Max« (das war Herr Schweigestill) »draußen ist auf dem Feld mit Gereon, das ist unser Sohn. Sie wollten eine neue Düngerstreu-Maschine ausprobieren, die der Gereon angeschafft hat. Müssen die Herren halt vorliebnehmen mit mir.«
Das könne man nicht vorliebnehmen nennen, antworteten sie und gingen mit ihr durch das gediegene Haus, sahen gleich vorn die Familienwohnstube an, wo der Pfeifenknastergeruch, den man überall spürte, am eingesessensten war; und weiterhin dann die Abtsstube, einen sympathischen Raum, nicht gar groß und hinter dem Stil der Außenarchitektur des Hauses etwas zurück, im Charakter eher von 1600 als von 1700, getäfelt, mit teppichlosem Bretterboden und einer gepreßten Ledertapete unter der Balkendecke, mit Heiligenbildern an den

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Wänden der flachgewölbten Fensternische und in Bleiringe gefaßten Scheiben, in welche Vierecke aus bunter Glasmalerei eingelassen waren; mit einer Wandnische, in der ein kupferner Wasserkessel über einem ebensolchen Becken hing, und einem Wandschrank, der mit eisernen Spangen und Schlössern beschlagen war. Es gab eine Eckbank, mit Lederkissen belegt, und einen schweren eichenen Tisch nicht weit vom Fenster, kastenartig gebaut, mit tiefen Schubladen unter der polierten Platte. Sie zeigte ein vertieftes Mittelstück, einen höheren Rand, und ein geschnitztes Studienpult war ihr aufgesetzt. Darüber schwebte von der Balkendecke ein riesiger Kronleuchter, in dem noch Reste von Wachskerzen staken, ein unregelmäßig ausladendes, in Hörner, Geweihschaufeln und sonstige phantastische Bildungen nach allen Seiten endendes Dekorationsstück der Renaissance.
Die Besucher lobten die Abtsstube aufrichtig. Schildknapp meinte sogar mit nachdenklichem Kopfnicken, daß man sich hier niederlassen, hier leben sollte, aber Frau Schweigestill hatte Zweifel, ob es für einen Schriftsteller nicht zu einsam sein würde, zu fern von Leben und Kultur. Auch die Treppe hinauf, in den Oberstock, führte sie ihre Gäste, um ihnen ein paar von den zahlreichen Schlafzimmern zu zeigen, die sich dort an dem geweißten, moderig riechenden Korridor aneinanderreihten. Sie waren mit Bettstellen und Kästen im Geschmack des bunten Spindes im Saal ausgestattet, und nur in einigen war aufgebettet: turmhoch nach Bauerngeschmack, mit plustrigen Federdeckbetten. »Wie viele Schlafzimmer!« sagten die beiden. Ja, die stünden meistens fast alle leer, erwiderte die Wirtin. Vorübergehend nur sei eines oder das andere bewohnt gewesen. Zwei Jahre lang, noch bis vorigen Herbst, habe eine Baronin von Handschuchsheim hier gelebt und sei durch das Haus gewandelt, eine Dame, deren Gedanken, wie Frau Schweigestill sich ausdrückte, nicht recht mit denen der übrigen Welt hätten übereinstimmen wollen, und die vor dieser Unstimmigkeit hier Schutz gesucht habe. Sie selbst sei recht gut mit ihr ausgekommen, habe sich gern mit ihr unterhalten, und manchmal sei es

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ihr gelungen, sie über ihre abweichenden Ideen selbst zum Lachen zu bringen. Aber leider seien diese doch eben weder zu beseitigen noch im Wachstum aufzuhalten gewesen, so daß man die liebe Baronin schließlich in sachgemäße Pflege habe geben müssen.
Hiervon erzählte Frau Schweigestill schon beim Wiederzurücklegen der Treppe und während man auf den Hof hinaustrat, um auch in die Ställe noch einen Blick zu tun. Ein andermal, sagte sie, noch früher, sei eines der vielen Schlafzimmer von einem Fräulein der besten Gesellschaftskreise besetzt gewesen, die hier ihr Kind zur Welt gebracht habe, — da sie mit Künstlern rede, könne sie ja die Dinge, wenn auch nicht die Personen, bei Namen nennen. Der Vater des Fräuleins habe dem hohen Richterstande angehört, droben in Bayreuth, und habe sich ein elektrisches Automobil angeschafft, das sei der Anfang aller Heimsuchung gewesen. Denn auch einen Chauffeur habe er dazu gemietet, der ihn zu Amte habe fahren müssen, und dieser junge Mann, gar nichts Besonderes, nur gerade schmuck in seiner Litzen-Livree, habe es dem Fräulein bis zur Selbstvergessenheit angetan. Sie habe ein Kind von ihm empfangen, und wie das klar und deutlich geworden sei, habe es Ausbrüche von Wut und Verzweiflung, von Händeringen und Haareraufen, von Fluch, Jammer und Schimpf bei den Eltern gegeben, wie man es gar nicht für möglich halten sollte. Verständnis habe da eben nicht obgewaltet, weder ländliches noch künstlerisches, sondern nur wilde stadtbürgerliche Angst um die Gesellschaftsehre, und das Fräulein habe sich ganz richtig vor ihren Eltern am Boden gewunden, flehend und schluchzend unter ihren verfluchenden Fäusten, und sei schließlich gleichzeitig mit ihrer Mutter ohnmächtig geworden. Der Gerichtspräsident aber habe sich eines Tages hier eingefunden und mit ihr, Frau Schweigestill, geredet: ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und goldener Brille, von Gram ganz niedergebeugt. Sie hätten es abgeredet, daß das Fräulein hier in der Stille niederkommen und danach, immer unter dem Vorwande der Blutarmut, noch eine Zeit hier verbringen sollte. Und als der

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kleine hohe Beamte sich schon zum Gehen gewandt hatte, sei er noch einmal umgekehrt und habe ihr, Tränen hinter seinen goldgerahmten Gläsern, nochmals die Hand gedrückt mit den Worten: »Ich danke Ihnen, liebe Frau, für Ihr wohltuendes Verständnis!« Er habe aber damit das Verständnis gemeint für die tiefgebeugten Eltern, nicht das für das Fräulein. Dieses sei denn auch eingetroffen, ein armes Ding, das immer den Mund offengehalten habe bei emporgezogenen Augenbrauen; und während sie hier ihre Stunde erwartet, habe sie ihr, der Schweigestill, viel anvertraut, durchaus geständig wegen ihrer Schuld und ohne vorzugeben, daß sie verführt worden sei, — im Gegenteil, Carl, der Chauffeur, habe sogar gesagt : »Es tut nicht gut, Fräulein, lassen wir's lieber!« Aber es sei stärker gewesen als sie, und immer sei sie bereit gewesen, es mit dem Tode zu büßen, wie sie auch tun werde, und die Bereitschaft zum Tode, so habe ihr geschienen, die komme auf für alles. Sie sei auch recht tapfer gewesen zu ihrer Stunde und habe ihr Kind, ein Mädchen, zur Welt gebracht mit Hilfe des guten Doktor Kürbis, des Kreisarztes hier, dem es ganz einerlei sei, wie ein Kind zustandekomme, wenn nur sonst alles in Ordnung sei und man es nicht mit Querlage zu tun habe. Aber recht schwach halt, trotz Landluft und guter Pflege, sei das Fräulein geblieben nach der Entbindung, habe auch nie darauf verzichtet, den Mund offenzuhalten und die Brauen emporzuziehen, wodurch ihre Wangen noch magerer erschienen seien, und als nach einer Weile ihr kleiner, hochgestellter Vater sie abgeholt habe, hätten bei ihrem Anblick wieder Tränen hinter seiner Goldbrille geblinkt. Das Kind sei zu den Grauen Fräulein in Bamberg gekommen, aber die Mutter sei fortan auch nur noch ein graues Fräulein gewesen: mit einem Kanarienvogel und einer Schildkröte, die ihr die Eltern aus Barmherzigkeit geschenkt, sei sie in ihrer Stube an Auszehrung dahingekümmert, wozu wohl der Keim schon immer in ihr gelegen habe. Schließlich habe man sie noch nach Davos geschickt, aber das scheine ihr den Rest gegeben zu haben, denn dort sei sie beinahe sofort gestorben, — nach Wunsch und Willen; und wenn

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sie recht gehabt habe mit ihrer Meinung, daß mit der Bereitschaft zum Tode alles im voraus beglichen sei, dann sei sie quitt gewesen und habe das Ihre dahin gehabt.
Man besuchte den Kuhstall, sah bei den Rössern ein und tat einen Blick in den Schweinekoben, während die Wirtin von dem Fräulein erzählte, das sie beherbergt. Auch zu den Hühnern ging man und zu den Bienen hinter dem Hause, und dann fragten die Freunde nach ihrer Zeche, die aber für Null erklärt wurde. Sie dankten für alles und radelten nach Waldshut zurück, ihren Zug zu gewinnen. Daß der Tag nicht verloren gewesen und Pfeiffering ein bemerkenswerter Flecken sei, darin stimmten sie überein.
Adrians Seele bewahrte das Bild dieser örtlichkeit, ohne daß es vorläufig seine Entschlüsse bestimmt hätte. Er wollte fort, aber weiter fort als bloß eine Eisenbahnstunde gegen die Berge. Von der Musik zu >Love's Labour's Lost< war damals die Klavierskizze der exponierenden Szenen geschrieben; aber dieArbeit stockte; die parodistische Künstlichkeit des Stils war schwer durchzuhalten, sie bedingte eine stets sich erneuernde Exzentrizität der Laune und machte den Wunsch nach Fernluft, tieferer Fremde der Umgebung rege. Unruhe beherrschte ihn. Seines Familienzimmers in der Rambergstraße, das ihm nur unsichere Einsamkeit bot, und in das plötzlich jemand eintreten mochte, um ihn zur Gesellschaft zu rufen, war er müde. »Ich suche«, schrieb er mir, »frage innerlich in der Welt herum und lausche auf Weisung nach einem Ort, wo ich mich recht vor der Welt vergraben und ungestört mit meinem Leben, meinem Schicksal Zwiesprache halten könnte . . .« Seltsame, ominöse Worte! Soll mir nicht kalt werden in der Magengrube, mir die Schreibhand nicht zittern bei dem Gedanken, für welche Zwiesprache, welche Begegnung und Abrede er, bewußt oder unbewußt, den Schauplatz suchte?
Es war Italien, für das er sich entschloß, und wohin er, zu touristisch ungewöhnlicher Jahreszeit, just als der Sommer kam, gegen Ende Juni, aufbrach. Rüdiger Schildknapp hatte er zum Mitkommen beredet.


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XXIV

Als ich in den großen Ferien 1912, noch von Kaisersaschern aus, mit meiner jungen Gattin Adrian und Schildknapp in dem sabinischen Bergnest besuchte, das sie sich zum Aufenthalt gewählt hatten, war es schon der zweite Sommer, den die Freunde dort verlebten: Sie hatten den Winter in Rom zugebracht und im Mai, als die Wärme wuchs, das Gebirge und dasselbe gastliche Haus wieder aufgesucht, wo sie voriges Jahr während eines Aufenthalts von drei Monaten sich heimisch zu fühlen gelernt hatten.
Der Ort war Palestrina, die Geburtsstätte des Komponisten, Praeneste mit ihrem antiken Namen und als Penestrino, Trutzburg der Fürsten Colonna, von Dante im 27. Gesänge des >Inferno< erwähnt, — eine pittoresk am Berge lehnende Siedlung, in welche vom unteren Kirchplatz eine von den Häusern beschattete, nicht eben reinliche Treppengasse hineinführte. Eine Sorte kleiner schwarzer Schweine lief darauf herum, und leicht konnte von den breitbepackten Eseln einer, die dort ebenfalls auf und ab schritten, mit seiner ausladenden Last den unachtsamen Fußgänger an die Häuserwand drücken. Über die Ortschaft hinaus führte die Straße als Bergsteig weiter, an einem Kapuzinerklöster vorbei auf den Gipfel des Hügels zu der nur noch in geringen Trümmern vorhandenen Akropolis, bei der auch die Ruinen eines antiken Theaters gelegen waren. Helene und ich stiegen während unseres kurzen Aufenthalts mehrmals zu diesen würdigen Resten hinauf, während Adrian, der ja »nichts sehen wollte«, in Monaten nie über den schattigen Garten der Kapuziner, seinen Lieblingsaufenthalt, hinausgelangt war.
Das Haus Manardi, Adrians und Rüdigers Herberge, war wohl das stattlichste am Platze und bot, obgleich die Familie sechs Köpfe zählte, auch uns Hospitanten noch mühelos Unterkunft. An der Stufengasse gelegen, war es ein massiver und ernster, fast palazzo- oder kastellartiger Bau, den ich auf das

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zweite Drittel des siebzehnten Jahrhunderts schätzte, mit kargem Gesimseschmuck unter dem flachen und wenig vorspringenden Schindeldach, kleinen Fenstern und einem im Geschmack des Früh-Barock dekorierten Haustor, in dessen Bretterverschalung die eigentliche, mit einer Bimmelglocke versehene Eingangstür geschnitten war. Unseren Freunden hatte man ein geradezu weitläufiges Bereich zu ebener Erde eingeräumt, bestehend aus einem zweifenstrigen Wohnraum von saalmäßigen Proportionen, mit steinernem Fußboden, wie alle Zimmer des Hauses, verschattet, kühl, ein wenig dunkel und sehr einfach mit Strohstühlen und Roßhaarsofas möbliert,, aber in der Tat so ausgedehnt, daß zwei Personen dort, ungestört der eine vom anderen, durch beträchtliche Räume getrennt, ihren Beschäftigungen nachgehen konnten. Daran stießen die geräumigen, wenn auch gleichfalls sehr schlicht ausgestatteten Schlafzimmer, von denen uns Gästen ein ebensolches drittes eröffnet wurde.
Das Familieneßzimmer nebst anstoßender Küche, die viel größer war als jenes, und in der man Freunde aus dem Städtchen empfing, mit düster gewaltigem Rauchfang und vollgehängt mit märchenhaften Schöpflöffeln sowie Tranchiergabeln und -messern, die einem Oger hätten gehören können, die Borte angefüllt mit Kupfergerät, Tiegeln, Schüsseln, Platten, Terrinen und Mörsern, lagen im Oberstock, und hier waltete Signora Manardi, von den Ihren Nella genannt — ich glaube, sie hieß Peronella —, eine stattliche Matrone römischen Typs, mit gewölbter Oberlippe, — nicht sehr brünett, nur kastanienbraun die guten Augen und der silbrig durchwirkte, glatt und fest gezogene Scheitel, ländlich schlicht und tüchtig die ebenmäßig füllige Erscheinung, — oft sah man sie die kleinen, aber arbeitsgewohnten Hände mit dem doppelten Witwenreif an der rechten in die rüstigen, vom Schürzenbund fest umspannten Hüften stemmen.
Aus ihrer Ehe war ihr eine junge Tochter geblieben, Amelia, dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ein leicht zum Närrischen geneigtes Kind, das die Gewohnheit hatte, bei Tische den Löffel

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oder die Gabel vor ihren Augen hin und her zu bewegen und dabei irgendein Wort, das ihr im Sinn hängengeblieben, mit fragender Betonung wiederholt vor sich hin zu sprechen. So hatte vor Jahr und Tag eine vornehme russische Familie bei Manardis logiert, deren Oberhaupt, der Graf oder Fürst, ein Gespensterseher gewesen war und den Hausbewohnern von Zeit zu Zeit unruhige Nächte bereitet hatte, indem er nach wandelnden Geistern, die ihn in seinem Schlafzimmer heimgesucht, mit der Pistole geschossen hatte. Aus dieser begreiflicherweise lebendig gebliebenen Erinnerung erklärte es sich, daß Amelia oft und beharrlich ihren Löffel befragte: »Spiriti? Spiriti?« Aber Geringeres schon vermochte sie tiefsinnig zu fixieren. Es war vorgekommen, daß ein deutscher Tourist das Wort >Melone<, im italienischen männlichen Geschlechts, nach deutschem Muster als weiblich behandelt hatte, und nun saß das Kind, mit dem Kopfe wackelnd und mit den betrübten Augen den Bewegungen des Löffels folgend, und murmelte: »La melona? La melona?« Signora Peronella und ihre Brüder übersahen und überhörten dies Betragen als etwas Altgewohntes und lächelten nur etwa dem Gast, wenn sie sein Befremden sahen, mehr gerührt und zärtlich als entschuldigend, ja fast glücklich zu, so, als handelte es sich um etwas Liebliches. Auch Helene und ich hatten uns bald an Amelia's dumpfe Betrachtungen bei Tische gewöhnt. Adrian und Schildknapp nahmen sie schon überhaupt nicht mehr wahr.
Die Brüder der Hausfrau, von denen ich sprach, und zwischen denen sie dem Alter nach ungefähr die Mitte hielt, waren: der Advokat Ercolano Manardi, meist kurz und mit Genugtuung l'avvocato genannt, der Stolz der sonst ländlich schlichten und ungelehrten Familie, ein Mann von Sechzig, mit struppigem grauem Schnurrbart und heiser heulender Stimme, die mühsam ansetzte wie die eines Esels, — und Sor Alfonso, der Jüngere, etwa Mitte Vierzig, von den Seinen vertraulich >Alfo< angeredet, ein Landmann, den wir, von unserem Nachmittagsspaziergang in die Campagna nach Hause zurückkehrend, auf seinem kleinen Langohr, die Füße beinahe am Boden, unter

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einem Sonnenschirm und die blaue Schutzbrille auf der Nase, von seinen Feldern heimreiten sahen. Der Advokat übte allem Anschein nach seinen Beruf nicht mehr aus, sondern las nur noch die Zeitung, — dies allerdings unausgesetzt, wobei er sich an heißen Tagen erlaubte, in seinem Zimmer bei offener Tür in Unterhosen zu sitzen. Er zog sich dadurch die Mißbilligung Sor Alfo's zu, der fand, daß der Rechtsgelehrte — »quest' uomo« sagte er bei solcher Gelegenheit — sich zuviel damit herausnähme. Laut tadelte er, hinter dem Rücken des Bruders, die herausfordernde Lizenz und ließ sich nicht umstimmen durch die begütigenden Worte der Schwester, die vorbrachte, daß die Vollblütigkeit des Advokaten und die Gefahr, in der er schwebe, durch die Hitze einen apoplektischen Anfall zu erleiden, ihm eine leichte Bekleidung zur Notwendigkeit mache. Dann solle quest'uomo wenigstens die Tür geschlossen halten, versetzte Alfo, statt sich in so überbequemem Zustand den Blicken der Seinen und der distinti forestieri auszusetzen. Höhere Bildung rechtfertige nicht eine so anmaßende Nachlässigkeit. Es war klar, daß eine gewisse Animosität des Contadino gegen das studierte Familienmitglied sich hier unter einem allerdings gut gewählten Vorwande Luft machte, obgleich — oder eben weil — Sor Alfo die Bewunderung aller Manardis für den Advokaten, in dem sie eine Art Staatsmann sahen, in tiefster Seele teilte. Es gingen aber auch die Weltansichten der Brüder vielfach auseinander, denn der Advokat war von eher konservativer, würdig-devoter Gesinnung, Alfonso dagegen ein Freigeist, libero pensatore und Kritikus, aufsässig gesinnt gegen Kirche, Königtum und governo, die er sämtlich als schwer durchsetzt von skandalöser Verderbnis schilderte. »Ha capito, ehe saeco di birbaccione?« »Hast du verstanden, was für ein Sack voll Spitzbüberei?« pflegte er seine Anklagen zu schließen, — viel mundfertiger als der Advokat, der sich nach wenigen Ansätzen krächzenden Protestes ärgerlich hinter seine Zeitung zurückzog.
Noch ein Vetter der drei Geschwister, ein Bruder von Frau Nella's verstorbenem Gatten, Dario Manardi, ein sanfter und graubärtiger, am Stocke gehender Mann von ländlichem Typ,

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lebte mit seiner unscheinbaren und kränklichen Gattin in dem Familienhaus. Diese aber führten ihren eigenen Tisch, während uns sieben, die Brüder, Amelia, die beiden Dauergäste und das Besucher-Paar, Signora Peronella mit einer Freigebigkeit, die zu dem bescheidenen Pensionspreis in keinem Verhältnis stand, aus ihrer romantischen Küche verpflegte, — unermüdlich in Angeboten. Denn, wenn wir schon eine gehaltvolle Minestra, Singvögelchen mit Polenta, Scaloppini in Marsala, ein Hammelgericht oder Wildschwein mit süßer Zukost, auch viel Salat, Käse und Früchte genossen und unsere Freunde zum schwarzen Kaffee ihre Regie-Zigaretten angezündet hatten, so konnte sie im Ton eines anregenden Vorschlags und guten Einfalls fragen: »Signori, jetzt — ein wenig Fisch?« — Ein purpurner Landwein, den der Advokat unter Krächzen in großen Schlucken wie Wasser trank, ein Gewächs, zu heiß eigentlich, um sich als täglich zweimaliges Tafelgetränk zu empfehlen, und zu schade wiederum, ihn zu verwässern, diente uns, unseren Durst zu stillen. Ihm zuzusprechen, ermahnte uns die Padrona mit den Worten: »Trinkt! Trinkt! Fa sangue il vino.« Doch verwies ihr Alfonso diese Lehre als Aberglauben.
Die Nachmittage führten uns auf schönen Spaziergängen, bei denen manch herzliches Lachen über Rüdiger Schildknapps angelsächsische Spaße erscholl, talwärts, auf von Maulbeerbüschen gesäumten Wegen, ein Stück in das wohlbestellte Land hinaus, mit seinen Ölbäumen und Weingirlanden, seinen in Gütchen aufgeteilten Fruchtfeldern, von Mauern eingefaßt, in denen fast monumentale Eingangstore sich eröffneten. Muß ich sagen, wie sehr mich, den das Wiederzusammensein mit Adrian ohnedies bewegte, der klassische Himmel, an dem während der Wochen unseres Aufenthaltes kein Wölkchen erschien, die antikische Stimmung wieder beglückte, die über dem Lande lag und je und je, in einem Brunnenrand, einer malerischen Hirtengestalt, in dem dämonischen Pan-Haupt eines Ziegenbocks bildhaft wurde? Es versteht sich, daß Adrian nur mit lächelndem Kopfnicken, nicht ohne Ironie, das Entzücken meines Humanistenherzens teilte. Diese Künstler geben wenig acht auf eine

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umgebende Gegenwart, die zu der Arbeitswelt, in der sie leben, nicht in direkter Beziehung steht, und in der sie folglich nicht mehr als einen indifferenten, der Produktion mehr oder weniger günstigen Lebensrahmen sehen. — Wir blickten gegen den Sonnenuntergang, wenn wir zum Städtchen zurückkehrten, und eine ähnliche Pracht des Abendhimmels habe ich nie gesehen. Eine ölig dick aufgetragene Goldschicht schwamm, von Karmesin umgeben, am westlichen Horizont, — durchaus phänomenal und so schön, daß der Anblick die Seele wohl mit einem gewissen Übermut erfüllen konnte. Dennoch war es mir leise unlieb, wenn Schildknapp, auf die wundervolle Darbietung hinweisend, sein »Besichtigen Sie jenes!« rief und Adrian in das dankbare Lachen ausbrach, das Rüdigers Humoristica ihm immer entlockten. Denn mir schien, daß er die Gelegenheit wahrnahm, über meine und Helenens Ergriffenheit und über die Herrlichkeit der Naturerscheinung selber gleich mit zu lachen.
Des Klostergartens über dem Städtchen, zu dem unsere Freunde jeden Morgen mit ihren Mappen hinaufstiegen, um an getrennten Plätzen zu arbeiten, gedachte ich schon. Sie hatten bei den Mönchen um die Erlaubnis nachgesucht, sich dort aufzuhalten, und milde war sie ihnen gewährt worden. Auch wir begleiteten sie öfters in den würzig duftenden Schatten des gärtnerisch wenig geordneten, von bröckelnder Mauer eingefaßten Areals hinauf, um sie an Ort und Stelle diskret ihren Beschäftigungen zu überlassen und, unsichtbar ihnen beiden, die selber einander unsichtbar waren, isoliert von Oleander-, Lorbeer- und Ginstergesträuch, auf eigene Hand den wachsend heißen Vormittag zu verbringen: Helene mit ihrer Häkelarbeit und ich, indem ich, befriedigt und gespannt von dem Bewußtsein, daß Adrian nahebei die Komposition seiner Oper vorwärtstrieb, in einem Buche las.
Auf dem recht verstimmten Tafelklavier im Wohnsaal der Freunde spielte er uns einmal während unseres Aufenthalts — leider nur einmal — aus den vollendeten und meist auch schon für ein ausgesuchtes Orchester instrumentierten Teilen der »angenehmen, launischen Komödie, > Verlorene Liebesmüh<

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genannt«, wie das Stück im Jahre 1598 geheißen hatte, charakteristische Stellen und ein paar geschlossene Szenenzusammenhänge vor: den ersten Akt, einschließlich des Auftritts in Armado's Hause, und mehreres Spätere, das er stückweise antizipiert hatte: besonders die Monologe Birons, auf die er es von jeher besonders abgesehen gehabt hatte, — denjenigen in Versen sowohl, am Ende des dritten Aufzugs, wie auch den rhythmisch ungebundenen im vierten — they have pitch'd a toil, I am toiling in a pitch, pitch, that defiles —, der in seiner immer im Komischen, Grotesken sich haltenden und dennoch echten und tiefen Verzweiflung des Ritters über seine Verfallenheit an die verdächtige black beauty, in seiner wütend ausgelassenen Selbstverhöhnung — By the Lord, this love is as mad as Ajax: it kills sheep, it kills me, I a sheep — musikalisch noch besser als der erste gelungen war. Dies teils aus dem Grunde, weil die geschwinde und abgerissene, wortwitzig kurz ausgestoßene Prosa dem Komponisten Akzenterfindungen von ganz besonderer Skurrilität eingegeben hatte, teils aber auch, weil in der Musik das bedeutend Wiederkehrende und schon Vertraute, die geistreiche oder tiefsinnige Anmahnung immer das Sprechend-Eindrucksvollste ist, und weil in dem zweiten Monolog sich Elemente des ersten auf köstliche Art wieder in Erinnerung brachten. Das galt vor allem für die erbitterte Selbstbeschimpfung des Herzens wegen seiner Vernarrtheit in den »bleichen Kobold mit den samtenen Brauen, statt Augen zwei Pechkugeln im Gesicht« und wiederum ganz besonders von dem musikalischen Bilde dieser verdammten, geliebten Pechaugen: einem dunkel blitzenden, aus dem Klange des Cellos und der Flöte gemischten, halb lyrisch-leidenschaftlichen und halb grotesken Melisma, das in der Prosa an der Stelle »O, but her eye, — by this light, but for her eye I would not love her« auf eine wild karikierte Weise wiederkehrt, wobei des Auges Dunkelheit durch die Tonlage noch vertieft, der Lichtblitz darin diesmal aber sogar der kleinen Flöte zugeteilt ist.
Es kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß die sonderbar insistente und dabei unnötige, dramatisch wenig gerechtfertigte

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Charakterisierung der Rosaline als eines verbuhlten, treulosen, gefährlichen Weibsstückes, — eine Kennzeichnung, die ihr nur durch Birons Reden zuteil wird, während sie in der Wirklichkeit der Komödie nichts weiter als keck und witzig ist, — es ist ja kein Zweifel, daß diese Charakterisierung einem zwanghaften, um Kunstfehler unbekümmerten Drange des Dichters entspringt, persönliche Erfahrungen unterzubringen und sich, passe es oder nicht, dichterisch dafür zu rächen. Rosaline, wie der Verliebte nicht müde wird, sie zu schildern, ist die dunkle Dame der zweiten Sonettenreihe, die Ehrendame der Elisabeth, Shakespeare's Geliebte, die ihn mit dem schönen jungen Freunde betrog; und das »Stück Reimerei und Schwermut«, mit dem Biron zu jenem Prosa-Monolog auf der Bühne erscheint — »Well, she has one o' my sonnets already« —, ist eines von denen, die Shakespeare an diese schwarzbleiche Schöne richtete. Wie kommt auch Rosaline dazu, auf den scharf züngigen und durchaus fidelen Biron des Stückes ihre Weisheit anzuwenden:

Der Jugend Blut brennt nicht mit solcher Glut,
Als Ernst, einmal empört zur Sinneswut?

Er ist ja jung und gar nicht >ernst< und keineswegs die Person, die Anlaß zu der Betrachtung geben könnte, wie kläglich es ist, wenn Weise zu Narren werden und all ihre Geisteskraft daransetzen, der Albernheit den Schein des Wertes zu verleihen. Biron fällt im Munde Rosaline's und ihrer Freundinnen völlig aus der Rolle; er ist nicht Biron mehr, sondern Shakespeare in seinem unseligen Verhältnis zur dunklen Dame; und Adrian, der die Sonette, dies grundsonderbare Trio von Dichter, Freund und Geliebter, in einer englischen Taschenausgabe immer bei sich hatte, war bei seinem Werk von Anfang an bestrebt gewesen, den Charakter seines Biron jener ihm teueren Dialogstelle anzupassen und ihm eine Musik zu geben, die ihn — in gehöriger Relation zu dem karikierenden Stil des Ganzen — als >ernst< und geistig bedeutend, wahrhaft als das Opfer einer beschämenden Leidenschaft kennzeichnet.
Das war schön, und ich lobte es sehr. Übrigens, wie viel

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Grund zum Lobe und zu freudiger Verblüffung gab es nicht auch sonst bei dem, was er uns spielte! Es ließe sich im Ernst darauf anwenden, was der gelehrte Silbenstecher Holofernes von sich selber sagt:
»Dies ist eine Gabe, die ich besitze, einfach, einfach! ein närrisch extravaganter Sinn, voll von Formen, Figuren, Gestalten, Gegenständen, Ideen, Erscheinungen, Erregungen, Wandlungen. Diese werden empfangen in dem Uterus des Gedächtnisses, genährt im Mutterleibe der pia mater, und geboren durch die reif ende Kraft der Gelegenheit.« Delivered upon the mellowing of occasion. Wundervoll! Bei ganz nebensächlicher, spaßhafter Gelegenheit gibt da der Dichter eine unübertrefflich volle Beschreibung des Künstlergeistes, und unwillkürlich bezog man sie auf den Geist, der hier am Werke war, Shakespeare's satirisches Jugendwerk in die Sphäre der Musik zu übertragen.
Soll ich dabei die leise persönliche Kränkung oder Bekümmerung ganz verschweigen, welche die Verspottung der antiken Studien mir zufügte, die in dem Stück als asketische Preziosität erscheinen? An der Karikatur des Humanismus war nicht Adrian schuld, sondern Shakespeare, und von ihm ist auch die verschrobene Ideenordnung vorgegeben, in der die Begriffe >Bildung< und >Barbarei< eine so sonderbare Rolle spielen. Jene ist geistiges Mönchstum, eine Leben und Natur aufs tiefste verachtende, gelehrte Überfeinerung, welche in Leben und Natur eben, in Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Gefühl das Barbarische sieht. Selbst Biron, der bei den preziösen Verschworenen des Akademoshains gute Worte einlegt für das Natürliche, gibt zu, daß er »für Barbarei mehr gesprochen habe als für den Engel Weisheit«. Dieser Engel wird zwar lächerlich gemacht, aber doch wieder nur durch das Lächerliche; denn die >Barbarei<, in die die Verbündeten zurückfallen, die sonettenselige Verliebtheit, die ihnen zur Strafe für ihr falsches Bündnis auferlegt wird, ist ebenfalls geistreich stilisierte Karikatur, Liebespersiflage, und nur zu gut sorgten Adrians Klänge dafür, daß das Gefühl am Ende nicht besser dastand als seine vermessene Abschwörung. Gerade die Musik, meinte ich, wäre

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ihrer innersten Natur nach berufen gewesen, die Führerin abzugeben aus der Sphäre absurder Künstlichkeit hinaus ins Freie, in die Welt der Natur und Menschlichkeit. Allein sie enthielt sich dessen. Das, was der Ritter Biron »barbarism« nennt, das Spontane und Natürliche also eben, feierte in ihr keine Triumphe.
Es war eine in artistischer Beziehung höchst bewundernswerte Musik, die mein Freund da wob. Er hatte, allen Massenaufwand verschmähend, die Partitur ursprünglich nur für das klassische Beethoven'sche Orchester ausschreiben wollen und allein um der Figur des komisch-pompösen Spaniers Armado willen ein zweites Paar Hörner, drei Posaunen und eine Baßtuba in sein Orchester aufgenommen. Aber alles war streng kammermusikalischen Stils, von filigranhafter Arbeit, eine kluge Groteske in Tönen, kombinatorisch-humoristisch, an Einfällen eines feinen Übermuts reich, und ein Musikliebhaber, der, müde der romantischen Demokratie und der moralischen Volksharanguierung, nach einer Kunst um der Kunst willen, einer ehrgeizlosen oder doch nur im exklusivsten Sinne ehrgeizigen Kunst für Künstler und Kenner verlangt hätte, würde sein Entzücken haben finden müssen in dieser selbstzentrierten und vollkommen kühlen Esoterik, — die nun aber, als Esoterik, im Geist des Stückes auf alle Weise sich selbst verspottete und parodistisch übertrieb, was einen Tropfen Traurigkeit, ein Gran Hoffnungslosigkeit in das Entzücken mischte.
Ja, Bewunderung und Traurigkeit gingen beim Anschauen dieser Musik ganz eigentümlich ineinander. »Wie schön!« sagte sich das Herz — das meine wenigstens sagte sich so — »— Und wie traurig!« Denn die Bewunderung galt einem witzig-melancholischen Kunststück, einer heroisch zu nennenden intellektuellen Leistung, einer knappen Not, die sich als übermütige Travestie gebärdete, und die ich nicht anders zu kennzeichnen weiß, als indem ich sie ein nie entspanntes und spannend halsbrecherisches Spielen der Kunst am Rande der Unmöglichkeit nenne. Dies eben stimmte traurig. Aber Bewunderung und Trauer, Bewunderung und Sorge, ist das nicht beinahe die Definition der Liebe? Schmerzlich gespannte Liebe zu ihm und

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dem Seinen war es, mit dem ich Adrians Vorführung lauschte. Ich vermochte nicht viel zu sagen; Schildknapp, der immer ein sehr gutes, empfängliches Publikum abgab, kommentierte das Gebotene viel schlagfertiger und intelligenter als ich, — der ich noch nachher, beim Pranzo, benommen und in mich gekehrt am Tische der Manardis saß, von Gefühlen bewegt, denen die Musik, die wir gehört, sich so völlig verschloß. »Bevi! Bevi!« sagte dazu die Padrona. »Fa sangue il vino!« Und Amelia bewegte den Löffel vor ihren Augen hin und her, indem sie murmelte: »Spiriti? . . . Spiriti? .. .«
Dieser Abend war schon einer der letzten, die wir, mein gutes Weib und ich, in dem originellen Lebensrahmen der Freunde verbrachten. Wenige Tage später mußten wir, nach einem Aufenthalt von drei Wochen, uns wieder daraus lösen, um die Heimreise nach Deutschland anzutreten, während jene dem idyllischen Gleichmaß ihres Daseins zwischen Klostergarten, Familientafel, ölig golden gerandeter Campagna und steinernem Wohnsaal, wo sie mit Lesen im Lampenschein den Abend verbrachten, noch monatelang, bis in den Herbst hinein, treu blieben. So hatten sie's voriges Jahr schon den ganzen Sommer gehalten, und auch ihre Lebensweise in der Stadt, den Winter hin, hatte sich nicht wesentlich von dieser hier unterschieden. Sie wohnten in der Via Torre Argentina nahe dem Teatro Costanzi und dem Pantheon, drei Treppen hoch bei einer Vermieterin, die ihnen Frühstück und Kollation bereitete. In einer benachbarten Trattoria nahmen sie die Hauptmahlzeit zu einem monatlichen Pauschalpreise. Die Rolle des Klostergartens von Palestrina spielte in Rom die Villa Doria Panfili, wo sie an warmen Frühlings- und Herbsttagen bei einem schön gestalteten Brunnen, an den von Zeit zu Zeit eine Kuh oder ein frei weidendes Pferd zum Trinken trat, ihren Arbeiten nachhingen. Adrian fehlte selten bei den Nachmittagskonzerten der Munizipalkapelle auf der Piazza Colonna. Gelegentlich gehörte der Abend der Oper. In der Regel verbrachte man ihn mit Dominospiel bei einem Glase heißen Orangenpunsches in einem stillen Kaffeehauswinkel.

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Sie pflogen keinerlei weiteren Umgang — oder so gut wie keinen, ihre Abgeschlossenheit war in Rom fast so vollkommen wie auf dem Lande. Das deutsche Element mieden sie gänzlich,— Schildknapp zumal ergriff unfehlbar die Flucht, sobald ein Laut der Muttersprache an sein Ohr schlug: Er war ja imstande, aus einem Omnibus, einem Eisenbahnwagen wieder auszusteigen, wenn sich »Germans« darin vorfanden. Aber auch einheimische Bekanntschaften zu machen, bot ihre einsiedlerische, oder denn also zweisiedlerische, Lebensweise kaum Gelegenheit. Zweimal während des Winters waren sie zu einer Kunst und Künstler begönnernden Dame unbestimmter Herkunft geladen: Madame de Coniar, an die Rüdiger Schildknapp eine Münchener Empfehlung hatte. In ihrer mit Widmungsphotographien in Plüsch- und Silberrahmen geschmückten Wohnung am Corso trafen sie mit einem Gemenge internationalen Artistentums, Theatervolk, Malern und Musikern, Polen, Ungarn, Franzosen und auch Italienern, zusammen, dessen Einzelerscheinungen sie alsbald wieder aus den Augen verloren. Zuweilen trennte sich Schildknapp von Adrian, um mit jungen Engländern, die Sympathie ihm in die Arme getrieben, Malvasierkneipen aufzusuchen, nach Tivoli auszufliegen oder bei den Trappisten von Quattro Fontane Eukalyptusschnaps zu trinken und zur Erholung von den verzehrenden Schwierigkeiten der Übersetzungskunst Nonsense mit ihnen zu reden.
Kurzum, in der Stadt wie in der Abgeschiedenheit des Gebirgsstädtchens führten die beiden das Welt und Menschen vermeidende Leben gänzlich von den Sorgen ihrer Arbeit beanspruchter Menschen. So wenigstens kann man es ausdrücken. Und soll ich nun sagen, daß der Abschied vom Hause Manardi für mich persönlich, so ungern ich, wie immer, von Adrians Seite ging, doch auch wieder mit einem gewissen heimlichen Erleichterungsgefühl verbunden war? Es auszusprechen kommt der Verpflichtung gleich, das Gefühl auch zu begründen, und schwerlich wird sich das tun lassen, ohne daß ich mir selbst und anderen dabei in einem etwas lächerlichen Lichte erschiene. Die Wahrheit ist: in einem bestimmten Punkte, in puncto puncti,

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wie junge Leute gerne sagen, bildete ich unter den Hausgenossen eine etwas komische Ausnahme; ich fiel sozusagen aus dem Rahmen: nämlich in meiner Eigenschaft und Lebensweise als Ehemann, welcher dem, was wir halb entschuldigend, halb verherrlichend >Natur< nennen, seinen Tribut entrichtete. Niemand tat das sonst in dem Haus-Kastell an der Treppengasse. Unsere treffliche Wirtin, Frau Peronella, war langjährige Witwe, ihre Tochter Amelia ein etwas unkluges Kind. Die Brüder Manardi, der Advokat wie der Landmann, erschienen als verhärtete Junggesellen, ja von beiden Männern mochte man sich wohl vorstellen, daß sie nie ein Weib berührt hatten. Da war noch Vetter Dario, grau und mild, mit einer sehr kleinen, kränkelnden Frau, ein Paar, das sich gewiß nur im caritativsten Sinn des Wortes etwas zuliebe tat. Und da waren endlich Adrian und Rüdiger Schildknapp, die Monat auf Monat in dem friedlich-strengen Zirkel, mit dem wir vertraut geworden, ausharrten, nicht anders es haltend als die Mönche des oberen Klosters. Sollte das für mich, den gemeinen Mann, nicht etwas Beschämendes und Bedrückendes haben?
Von Schildknapps besonderem Verhältnis zur weiten Welt der Glücksmöglichkeiten und von seinem Hange, mit diesem Schatz zu geizen, indem er mit sich selber geizte, habe ich oben gesprochen. Ich sah darin den Schlüssel zu seiner Lebensweise, es diente mir zur Erklärung für die mir schwer verständliche Tatsache, daß er sie zustande brachte. Anders war es mit Adrian, — obgleich ich mir bewußt war, daß die Gemeinschaft der Keuschheit das Fundament ihrer Freundschaft, oder, wenn das ein zu weitgehendes Wort ist, ihres Zusammenlebens bildete. Ich vermute, daß es mir nicht gelungen ist, dem Leser eine gewisse Eifersucht auf das Verhältnis des Schlesiers zu Adrian zu verbergen; so möge er denn auch verstehen, daß es dieses Gemeinsame, das Bindemittel der Enthaltsamkeit war, dem letzten Endes jene Eifersucht galt.
Lebte Schildknapp, wenn ich so sagen darf, als Roue des Potentiellen, so führte Adrian — ich konnte nicht daran zweifeln — seit jener Reise nach Graz, beziehungsweise nach Preßburg,

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das Leben eines Heiligen, — wie er es bis dahin getan hatte. Ich erbebte nun aber "bei dem Gedanken, daß seine Keuschheit seitdem, seit jener Umarmung, seit seiner vorübergehenden Erkrankung und dem Verlust seiner Ärzte während derselben, nicht mehr dem Ethos der Reinheit, sondern dem Pathos der Unreinheit entsprang.
Immer hatte in seinem Wesen etwas vom >Noli me tangere< gelegen, — ich kannte das; seine Abneigung gegen die allzu große physische Nähe von Menschen, das Einander-in-denDunstkreis-Geraten, die körperliche Berührung, war mir wohlvertraut. Er war im eigentlichen Sinn des Wortes ein Mensch der >Abneigung<, des Ausweichens, der Zurückhaltung, der Distanzierung. Physische Herzlichkeiten erschienen ganz unvereinbar mit seiner Natur; schon sein Händedruck war selten und wurde mit einer gewissen Eile vollzogen. Deutlicher als je trat diese ganze Eigenheit während unseres neuerlichen Zusammenseins hervor, und dabei war mir, ich kann kaum sagen, warum, als hätte das >Rühre mich nicht an!<, das >Drei Schritte vom Leibe!< gewissermaßen seinen Sinn verändert, als werde damit nicht sowohl eine Zumutung zurückgewiesen, als eine umgekehrte Zumutung gescheut und vermieden, — womit denn auch offenbar die Enthaltung vom Weibe zusammenhing.
Nur einer so dringlich beobachtenden Freundschaft wie der meinen konnte ein solcher Bedeutungswechsel der Dinge fühlbar oder ahnbar werden, und Gott sei davor, daß die Wahrnehmung mir die Freude an Adrians Nähe beeinträchtigt hätte! Was mit ihm vorging, konnte mich erschüttern, mich aber niemals von ihm entfernen. Es gibt Menschen, mit denen zu leben nicht leicht, und die zu lassen unmöglich ist.


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