Demokratie: Die Rückkehr des Feindes
Ein Essay von Armin Nassehi
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine macht fassungslos – und ähnlich fassungslos sind auch die Kommentare, die es nicht für möglich gehalten haben, dass Putin tatsächlich das wahr macht, worauf seine militärische Vorbereitung und semantische Aufrüstung sehr deutlich hingewiesen haben. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, ließ am Tag des Angriffs vernehmen, das Heer, überhaupt die Bundeswehr sei angesichts der Bedrohung "völlig blank" – und das bringt die Gemütslage, nicht allein bezogen aufs Militärische, ziemlich gut auf den Begriff. Der Aggression Russlands gegenüber scheinen wir völlig blank zu sein, keineswegs nur militärisch, sondern auch intellektuell und konzeptionell.
Neben strategischen und sicherheitspolitischen Überlegungen ist deshalb auch die Frage, warum diese autoritäre Bedrohung von außen für das demokratische Selbstverständnis offenbar gar keine Herausforderung war. Sieht man sich die öffentliche politische Kommunikation in unserem Land an, dann hört man dort oft die Kakofonie einer zugrunde gehenden Demokratie. Während der Pandemie sind die Straßen voll von Leuten, die von einer "Diktatur" faseln, wirklich schwierige und notwendigerweise diskutable Pandemiemaßnahmen werden als bewusster Test für die Einschränkung von Freiheit diskutiert, ja Freiheit wird überhaupt mit bloßem Individualismus und Egoismus gleichgesetzt, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben (oder haben zu wollen), wie sehr der Diskurs um die liberale Demokratie historisch darum gerungen hat, Selbstbestimmung und soziale Erwartungen, subjektive Rechte und soziale Ordnung miteinander zu versöhnen.
Einige erste Kommentare zum russischen Einmarsch in die Ukraine können die Faszination für die Aggression kaum im Zaum halten – sie preisen genüsslich die Virilität und die Nervenstärke, auch die strategische Rationalität Putins, der den schwachen Westen herausfordert und ihn vorführt, auf die Dekadenz des Westens wird hingewiesen und darauf, dass endlich all die woken Empfindlichkeiten vorgeführt werden. Von endlich wiedererstarkter Männlichkeit war sogar die Rede. Auf der anderen Seite sind wohl viele in meiner Generation, die in den 1980ern auf Sitzdemos gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben und das vorherige Antigewalttraining für eine sicherheitspolitische Aktion gehalten haben. Biografisch schäme ich mich für kaum etwas mehr, als mit Anfang 20 bei solcher Verblendung mitgemacht zu haben. Viele sind da immer noch von einem besonderen Russland-Tick geprägt, besonders in der SPD, deren jetzige Trägergeneration aus diesem Milieu stammt. Da ist auch eine heimliche Faszination für den starken Mann, der autoritär sein darf, weil er eben kein US-Amerikaner ist. Kaum ein sacrificium intellectus ist zu abstrus. Auch nicht die alte Geschichte von der angeblichen Bedrohung durch die Osterweiterung der Nato – die offensichtlich ein Segen ist, denn dadurch wird die Offensive Moskaus wohl kurz hinter Lwiw zum Stillstand kommen und nicht erst bei Słubice. Für die Ukraine ist das freilich nur ein schwacher Trost.
Die Sicherheitsexpertin Constanze Stelzenmüller hat in einer TV-Diskussion einen sehr klugen Satz gesagt: Das einzige, wovon sich Putin bedroht fühlt, ist die Ausbreitung der Demokratie – von innen und von außen. Das ist wahrscheinlich der militärstrategisch und politisch zutreffendste Satz, den man zur jetzigen Situation sagen kann. Putin weiß, was für eine Bedrohung die Demokratie ist – aber weiß es auch die Demokratie selbst?
Hier bestehen einige Zweifel. Selbstverständlich wird immer wieder über die westlichen Werte, über den Wert der Demokratie und des liberalen Rechtsstaates und pluralistische Lebensformen gesprochen, aber das sind geradezu drehbuchhafte Reaktionen, letztlich alternativlos und damit informationsfrei. Wirklich politisiert ist dieses Verständnis der Demokratie nicht, wie der Bundespräsident nach seiner Wiederwahl in einer beeindruckenden Rede betont hat. In der Pandemie ließ sich sehr deutlich beobachten, dass das Verhältnis des politischen Publikums dem Staat und der Politik gegenüber vor allem ein Anspruchsverhältnis für Versorgung, für angemessene Entscheidungen und für angemessene Problemlösung bei Störungen.
Bleiben diese Lösungen aus oder stellen sie sich nicht sofort sichtbar ein, wird schnell das gesamte "System" infrage gestellt. In der Pandemie, in der Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden mussten, in der die Wirkung von Maßnahmen zeitverzögert erfolgte, in der viele Fehler gemacht worden sind und die auch die Grenzen politischer Steuerung geradezu überdeutlich vorgeführt hat, wurde etwas sichtbar, was die westliche Demokratie schon länger kennt: Sie selbst wird gar nicht politisch wahrgenommen, sondern eher als eine Art Dienstleister, dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Wenn sie nicht stimmen, wird dann dem gesamten Anbieter das Vertrauen entzogen – und dann ist der Vorwurf einer "Diktatur" oder eines willkürlichen Umgangs mit Eingriffen nicht fern. Und solche Dinge hört man nicht nur auf Demonstrationen von Spinnern, sondern bis in den Kampagnen- und Haltungsjournalismus einschlägiger Zeitungen.
Putins Geschichtsphilosophie
Man wird die Demokratie nicht retten, wenn man sie nur mit Wertformeln und pathetischem Timbre beschwört. Und hier setzt ein nicht normatives, sondern soziologisches Argument an: Was wir als westliche Form der Demokratie kennen, ist letztlich nur auf einem gesellschaftlichen Komplexitätsniveau möglich (und nötig), auf dem die Gesellschaftsstruktur Lücken für die Gestaltung lässt und in dem Entscheidungsprozesse prinzipiell ergebnisoffen sind. Diese Lücken sind selbst nicht das Ergebnis eines politischen Programms, sondern eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Komplexität der modernen Gesellschaft liegt gerade in der Unterbestimmtheit ihrer ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, ästhetischen Formen – und in der Unterbestimmtheit des Menschen, der in der Lage sein muss, für eigene Entscheidungen zurechnungsfähig zu werden, und deshalb Bildung braucht. Unterbestimmtheit meint: Wenig ist prinzipiell festgelegt – und deshalb wird die Gesellschaft innovationsoffen und risikobereit, lösungsorientiert und grundsätzlich ergebnisoffen.
Eine solche Gesellschaft setzt Ergebnisoffenheit voraus, wird dadurch fehleranfällig, ermöglicht Regierungswechsel, braucht konkurrierende Angebote und muss sich vor einem Publikum bewähren. Allerdings wird in einer Gesellschaft nicht alles demokratisch-politisch entschieden. Aber auch in den anderen Bereichen setzen sich mit zunehmender Komplexität Erfahrungen der Ergebnisoffenheit durch: Nicht umsonst geht die politische Form der Demokratie stets mit marktwirtschaftlichen Ökonomien, einem positiven Recht, kreativer Kunst, einem starken Bildungsverständnis und selbstkritischer Wissenschaft einher. Diese unterschiedlichen Logiken geraten in Konflikt miteinander und sind schwer zu steuern. Aber es entsteht eine Gesellschaft, deren Dynamik vor allem dadurch geprägt ist, dass sie auf völlige Bestimmung ihrer Möglichkeiten verzichten muss – und deshalb Freiheit in ihr Selbstverständnis einbauen muss. Auch die autoritäre Form der Bekämpfung jeglicher Freiheit reagiert auf dieses strukturelle Freiheitsproblem. So viel Dialektik muss sein.
Die Demokratie kann nur verstehen, wer diese prinzipielle Ergebnisoffenheit, aber auch Begrenztheit des Politischen begreift. Die Demokratien selbst scheinen das aber immer weniger zu tun, weil sie sich einfach voraussetzen und ihre eigenen Grundlagen dadurch selten politisieren. Putin dagegen versteht die Demokratie. Er sieht, wie gefährlich die Ergebnisoffenheit von Prozessen ist, wie bedrohlich der Algorithmus der freien Wahl ist und die kybernetische Rückkopplungsschleife der öffentlichen Meinung werden kann, wie stark solche Prozesse die absolute Herrschaft begrenzen und das Durchregieren verunmöglichen.
Putins Strategie ist der Versuch, alle Ergebnisoffenheit einzuschränken und die Lücken der Unterbestimmtheit zu schließen. Es ist der Versuch, die Gesellschaft dazu zu bringen, aus einem Guss regiert werden zu können, und auch wie aus einem Guss zu reagieren. Nicht umsonst bedient er sich des klassischen Ideals des autoritären Nationalismus, dessen Form einer imagined community (Benedict Anderson) alle innergesellschaftlichen Differenzen zu überwinden trachtet. Putins geschichtsphilosophische Begründung seiner Strategie ist kein Zufall. Der Münchner Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel bringt es so auf den Punkt: "Im Wesentlichen ist die Argumentation Putins von einer Geschichtsauffassung geleitet, die von Kollektiven mit unveränderlicher Identität geprägt werden. Der eigentliche Akteur in der Geschichte ist bei Putin das Volk, dem bestimmte unverrückbare Eigenschaften eigen sind, nämlich die Sprache und Religion." Schulze Wessel sieht hier eine Kontinuität zu Stalins objektivistischer Auffassung der Nation und zu alten imperialen russischen Geschichtsnarrativen.
Diese haben eine außerordentlich moderne Funktion. Nicht zufällig sind es solche narrativen Baldachine, die für die Selbstlegitimation imperialer, explizit nicht demokratischer Herrschaftsformen konstitutiv sind. Was Putin die Kontinuität der russischen Identität ist, ist China heute ein neokonfuzianisches Verständnis, die alle Lücken der Gesellschaft dem Narrativ einer gemeinschaftsstiftenden Zugehörigkeitsideologie unterwirft. Man lese dringend das Buch Alles unter dem Himmel des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang, der dieses Narrativ mit einer expliziten Kritik der westlichen Demokratie verbindet, die angeblich an den Problemen scheitert, die es ohne sie nicht gäbe: am Widerspruch und an der Konkurrenz von Ideen. Man könnte auch sagen: an der Ergebnisoffenheit.
Der Staat schrumpft zum Dienstleister
Für Putin ist die größte Bedrohung die ergebnisoffene Demokratie, für die Demokratie ist die größte Bedrohung die Fähigkeit Russlands und Chinas zur Brutalität – einer Brutalität, deren Legitimation eben nicht im Ausgleich von Unterschiedlichem, sondern in der identitären Idee der gesellschaftlich-politischen Einheit liegt, die das Individuelle hasst wie der Teufel das Weihwasser. Im Falle Russlands wird darin auch deutlich, wie impotent am Ende eine Ökonomie und eine politische Form wird, wenn sie ganz auf die Potenziale der Ergebnisoffenheit und der Selbstkorrektur verzichtet. Für eine Ökonomie, die fast ausschließlich auf der Erschließung fossiler, also bald endlicher Energieträger basiert, braucht es auch keine Ergebnisoffenheit, weil sie am Ende impotent bleiben muss. In diesen Tagen sollte man sich an Helmut Schmidts Charakterisierung der Sowjetunion als "Obervolta mit Atomraketen" erinnern – Obervolta heißt heute Burkina Faso, das ist der einzige Unterschied.
Ulrich Beck hat 1993, kurz nach der Erfahrung des Zusammenbruchs der Sowjetunion einen interessanten Essay über die "feindlose Demokratie" und den "feindlosen Staat" geschrieben. Liest man ihn heute erneut, wirkt dieser fast 30 Jahre alte Text geradezu hellseherisch. Er argumentiert, dass der Systemantagonismus zwischen West und Ost die Demokratie einerseits unterscheidbar gemacht, andererseits die atomare Hochrüstung die Gesellschaft geradezu entmilitarisiert habe. Es entstand also ein identitätsbildender Antagonismus, der die Demokratie zugleich benennbar werden ließ, aber auch von der unmittelbaren Militarisierung emanzipiert hat – was gerade in Deutschland besonders extrem zu beobachten ist, bis heute. Es kommt aber noch ein drittes Argument hinzu: Die Individualisierung von Lebensformen habe, so Beck, zugleich den Ernstfall aufgehoben, der Staat schrumpfte zum Versorgungsstaat und Sicherheitsfragen waren weit weg. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der westliche Staat dann ein feindloser Staat, der sich nicht einmal mehr von Alternativen unterscheiden konnte.
Vielleicht hat man deshalb so lange geglaubt, man könne mit Obervolta mit Atomraketen auf Augenhöhe diskutieren, man könne sich eine russische Gesellschaft vorstellen, in die man Lücken einbauen kann, als habe man es mit einem ähnlich denkenden Gegenüber zu tun, das seine Legitimation vor allem durch Zuspruch und Unterstützung der eigenen Bevölkerung beziehen müsse. Vor diesem Hintergrund wären Gasgeschäfte vernünftig gewesen, weil man denken könnte, dass sie Wechselseitigkeit und Augenhöhe, Vertrauen und Abhängigkeiten produzieren. Aber das Gegenüber muss andere Probleme lösen: Es muss jegliche Form der Entwicklung und der Veränderung, des Selbstbewusstseins der Bevölkerung und des Wettstreits um bessere Lösungen unterbinden. Es kennt Kooperation nur als Form der Erpressung. Dieses Gegenüber ist der Feind der Ergebnisoffenheit, der Feind der Demokratie.
Spätestens seit der Nacht auf den 24. Februar 2022 ist die westliche Demokratie keine feindlose Demokratie mehr. Spätestens an diesem Tag gibt es einen Feind, der womöglich dazu beitragen kann, die Idee der Demokratie und der Ergebnisoffenheit gesellschaftlicher Prozesse sowie das Aushalten von Unterbestimmtheit als Freiheit und als politisches Programm wieder zu etablieren. Dieser Feind muss ein Feind genannt werden, weil er das ganz andere dieser gesellschaftlichen Möglichkeiten ist. Und dieser Feind ist auch Feind, weil er in seinem Inneren all jene, die in die Lücken der Ergebnisoffenheit stoßen und in Alternativen denken, wegsperrt, umbringt, erpresst. Man denke nur an den Fall Nawalny oder an die unfassbar mutigen Menschen, die sich derzeit einen Protest gegen den Angriffskrieg trauen.
Wir konnten uns lange den Luxus leisten, Kritik innerhalb der Demokratie als Feindschaft gegen die Demokratie zu inszenieren – das reicht von der Wahl eines Antidemokraten zum Präsidenten des Mutterlandes der Demokratie bis hin zur leichtfertigen Behauptung, die Demokratie per se habe versagt, wenn einem das Lösungsangebot nicht passt. Jetzt wird ein sich schon lange abzeichnender äußerer Feind sichtbar, der womöglich dazu beitragen kann, die Demokratie selbst zu politisieren. Bei aller Schrecklichkeit ist das vielleicht der einzige positive Aspekt der jüngsten Ereignisse. Wir haben wieder einen Feind, der den Blick auf uns selbst lenkt. Nehmen wir ihn intellektuell an.
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