„Kurios, kurios ...“

Gedanken und Bemerkungen

Demokratie: Die Rückkehr des Feindes

Ein Essay von Armin Nassehi

zeit.de - 2022-02-25

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine macht fassungslos – und ähnlich fassungslos sind auch die Kommentare, die es nicht für möglich gehalten haben, dass Putin tatsächlich das wahr macht, worauf seine militärische Vorbereitung und semantische Aufrüstung sehr deutlich hingewiesen haben. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, ließ am Tag des Angriffs vernehmen, das Heer, überhaupt die Bundeswehr sei angesichts der Bedrohung "völlig blank" – und das bringt die Gemütslage, nicht allein bezogen aufs Militärische, ziemlich gut auf den Begriff. Der Aggression Russlands gegenüber scheinen wir völlig blank zu sein, keineswegs nur militärisch, sondern auch intellektuell und konzeptionell.

Neben strategischen und sicherheitspolitischen Überlegungen ist deshalb auch die Frage, warum diese autoritäre Bedrohung von außen für das demokratische Selbstverständnis offenbar gar keine Herausforderung war. Sieht man sich die öffentliche politische Kommunikation in unserem Land an, dann hört man dort oft die Kakofonie einer zugrunde gehenden Demokratie. Während der Pandemie sind die Straßen voll von Leuten, die von einer "Diktatur" faseln, wirklich schwierige und notwendigerweise diskutable Pandemiemaßnahmen werden als bewusster Test für die Einschränkung von Freiheit diskutiert, ja Freiheit wird überhaupt mit bloßem Individualismus und Egoismus gleichgesetzt, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben (oder haben zu wollen), wie sehr der Diskurs um die liberale Demokratie historisch darum gerungen hat, Selbstbestimmung und soziale Erwartungen, subjektive Rechte und soziale Ordnung miteinander zu versöhnen.

Einige erste Kommentare zum russischen Einmarsch in die Ukraine können die Faszination für die Aggression kaum im Zaum halten – sie preisen genüsslich die Virilität und die Nervenstärke, auch die strategische Rationalität Putins, der den schwachen Westen herausfordert und ihn vorführt, auf die Dekadenz des Westens wird hingewiesen und darauf, dass endlich all die woken Empfindlichkeiten vorgeführt werden. Von endlich wiedererstarkter Männlichkeit war sogar die Rede. Auf der anderen Seite sind wohl viele in meiner Generation, die in den 1980ern auf Sitzdemos gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben und das vorherige Antigewalttraining für eine sicherheitspolitische Aktion gehalten haben. Biografisch schäme ich mich für kaum etwas mehr, als mit Anfang 20 bei solcher Verblendung mitgemacht zu haben. Viele sind da immer noch von einem besonderen Russland-Tick geprägt, besonders in der SPD, deren jetzige Trägergeneration aus diesem Milieu stammt. Da ist auch eine heimliche Faszination für den starken Mann, der autoritär sein darf, weil er eben kein US-Amerikaner ist. Kaum ein sacrificium intellectus ist zu abstrus. Auch nicht die alte Geschichte von der angeblichen Bedrohung durch die Osterweiterung der Nato – die offensichtlich ein Segen ist, denn dadurch wird die Offensive Moskaus wohl kurz hinter Lwiw zum Stillstand kommen und nicht erst bei Słubice. Für die Ukraine ist das freilich nur ein schwacher Trost.

Die Sicherheitsexpertin Constanze Stelzenmüller hat in einer TV-Diskussion einen sehr klugen Satz gesagt: Das einzige, wovon sich Putin bedroht fühlt, ist die Ausbreitung der Demokratie – von innen und von außen. Das ist wahrscheinlich der militärstrategisch und politisch zutreffendste Satz, den man zur jetzigen Situation sagen kann. Putin weiß, was für eine Bedrohung die Demokratie ist – aber weiß es auch die Demokratie selbst?

Hier bestehen einige Zweifel. Selbstverständlich wird immer wieder über die westlichen Werte, über den Wert der Demokratie und des liberalen Rechtsstaates und pluralistische Lebensformen gesprochen, aber das sind geradezu drehbuchhafte Reaktionen, letztlich alternativlos und damit informationsfrei. Wirklich politisiert ist dieses Verständnis der Demokratie nicht, wie der Bundespräsident nach seiner Wiederwahl in einer beeindruckenden Rede betont hat. In der Pandemie ließ sich sehr deutlich beobachten, dass das Verhältnis des politischen Publikums dem Staat und der Politik gegenüber vor allem ein Anspruchsverhältnis für Versorgung, für angemessene Entscheidungen und für angemessene Problemlösung bei Störungen.

Bleiben diese Lösungen aus oder stellen sie sich nicht sofort sichtbar ein, wird schnell das gesamte "System" infrage gestellt. In der Pandemie, in der Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden mussten, in der die Wirkung von Maßnahmen zeitverzögert erfolgte, in der viele Fehler gemacht worden sind und die auch die Grenzen politischer Steuerung geradezu überdeutlich vorgeführt hat, wurde etwas sichtbar, was die westliche Demokratie schon länger kennt: Sie selbst wird gar nicht politisch wahrgenommen, sondern eher als eine Art Dienstleister, dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Wenn sie nicht stimmen, wird dann dem gesamten Anbieter das Vertrauen entzogen – und dann ist der Vorwurf einer "Diktatur" oder eines willkürlichen Umgangs mit Eingriffen nicht fern. Und solche Dinge hört man nicht nur auf Demonstrationen von Spinnern, sondern bis in den Kampagnen- und Haltungsjournalismus einschlägiger Zeitungen. Putins Geschichtsphilosophie

Man wird die Demokratie nicht retten, wenn man sie nur mit Wertformeln und pathetischem Timbre beschwört. Und hier setzt ein nicht normatives, sondern soziologisches Argument an: Was wir als westliche Form der Demokratie kennen, ist letztlich nur auf einem gesellschaftlichen Komplexitätsniveau möglich (und nötig), auf dem die Gesellschaftsstruktur Lücken für die Gestaltung lässt und in dem Entscheidungsprozesse prinzipiell ergebnisoffen sind. Diese Lücken sind selbst nicht das Ergebnis eines politischen Programms, sondern eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Komplexität der modernen Gesellschaft liegt gerade in der Unterbestimmtheit ihrer ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, ästhetischen Formen – und in der Unterbestimmtheit des Menschen, der in der Lage sein muss, für eigene Entscheidungen zurechnungsfähig zu werden, und deshalb Bildung braucht. Unterbestimmtheit meint: Wenig ist prinzipiell festgelegt – und deshalb wird die Gesellschaft innovationsoffen und risikobereit, lösungsorientiert und grundsätzlich ergebnisoffen.

Eine solche Gesellschaft setzt Ergebnisoffenheit voraus, wird dadurch fehleranfällig, ermöglicht Regierungswechsel, braucht konkurrierende Angebote und muss sich vor einem Publikum bewähren. Allerdings wird in einer Gesellschaft nicht alles demokratisch-politisch entschieden. Aber auch in den anderen Bereichen setzen sich mit zunehmender Komplexität Erfahrungen der Ergebnisoffenheit durch: Nicht umsonst geht die politische Form der Demokratie stets mit marktwirtschaftlichen Ökonomien, einem positiven Recht, kreativer Kunst, einem starken Bildungsverständnis und selbstkritischer Wissenschaft einher. Diese unterschiedlichen Logiken geraten in Konflikt miteinander und sind schwer zu steuern. Aber es entsteht eine Gesellschaft, deren Dynamik vor allem dadurch geprägt ist, dass sie auf völlige Bestimmung ihrer Möglichkeiten verzichten muss – und deshalb Freiheit in ihr Selbstverständnis einbauen muss. Auch die autoritäre Form der Bekämpfung jeglicher Freiheit reagiert auf dieses strukturelle Freiheitsproblem. So viel Dialektik muss sein.

Die Demokratie kann nur verstehen, wer diese prinzipielle Ergebnisoffenheit, aber auch Begrenztheit des Politischen begreift. Die Demokratien selbst scheinen das aber immer weniger zu tun, weil sie sich einfach voraussetzen und ihre eigenen Grundlagen dadurch selten politisieren. Putin dagegen versteht die Demokratie. Er sieht, wie gefährlich die Ergebnisoffenheit von Prozessen ist, wie bedrohlich der Algorithmus der freien Wahl ist und die kybernetische Rückkopplungsschleife der öffentlichen Meinung werden kann, wie stark solche Prozesse die absolute Herrschaft begrenzen und das Durchregieren verunmöglichen.

Putins Strategie ist der Versuch, alle Ergebnisoffenheit einzuschränken und die Lücken der Unterbestimmtheit zu schließen. Es ist der Versuch, die Gesellschaft dazu zu bringen, aus einem Guss regiert werden zu können, und auch wie aus einem Guss zu reagieren. Nicht umsonst bedient er sich des klassischen Ideals des autoritären Nationalismus, dessen Form einer imagined community (Benedict Anderson) alle innergesellschaftlichen Differenzen zu überwinden trachtet. Putins geschichtsphilosophische Begründung seiner Strategie ist kein Zufall. Der Münchner Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel bringt es so auf den Punkt: "Im Wesentlichen ist die Argumentation Putins von einer Geschichtsauffassung geleitet, die von Kollektiven mit unveränderlicher Identität geprägt werden. Der eigentliche Akteur in der Geschichte ist bei Putin das Volk, dem bestimmte unverrückbare Eigenschaften eigen sind, nämlich die Sprache und Religion." Schulze Wessel sieht hier eine Kontinuität zu Stalins objektivistischer Auffassung der Nation und zu alten imperialen russischen Geschichtsnarrativen.

Diese haben eine außerordentlich moderne Funktion. Nicht zufällig sind es solche narrativen Baldachine, die für die Selbstlegitimation imperialer, explizit nicht demokratischer Herrschaftsformen konstitutiv sind. Was Putin die Kontinuität der russischen Identität ist, ist China heute ein neokonfuzianisches Verständnis, die alle Lücken der Gesellschaft dem Narrativ einer gemeinschaftsstiftenden Zugehörigkeitsideologie unterwirft. Man lese dringend das Buch Alles unter dem Himmel des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang, der dieses Narrativ mit einer expliziten Kritik der westlichen Demokratie verbindet, die angeblich an den Problemen scheitert, die es ohne sie nicht gäbe: am Widerspruch und an der Konkurrenz von Ideen. Man könnte auch sagen: an der Ergebnisoffenheit.

Der Staat schrumpft zum Dienstleister
Für Putin ist die größte Bedrohung die ergebnisoffene Demokratie, für die Demokratie ist die größte Bedrohung die Fähigkeit Russlands und Chinas zur Brutalität – einer Brutalität, deren Legitimation eben nicht im Ausgleich von Unterschiedlichem, sondern in der identitären Idee der gesellschaftlich-politischen Einheit liegt, die das Individuelle hasst wie der Teufel das Weihwasser. Im Falle Russlands wird darin auch deutlich, wie impotent am Ende eine Ökonomie und eine politische Form wird, wenn sie ganz auf die Potenziale der Ergebnisoffenheit und der Selbstkorrektur verzichtet. Für eine Ökonomie, die fast ausschließlich auf der Erschließung fossiler, also bald endlicher Energieträger basiert, braucht es auch keine Ergebnisoffenheit, weil sie am Ende impotent bleiben muss. In diesen Tagen sollte man sich an Helmut Schmidts Charakterisierung der Sowjetunion als "Obervolta mit Atomraketen" erinnern – Obervolta heißt heute Burkina Faso, das ist der einzige Unterschied.

Ulrich Beck hat 1993, kurz nach der Erfahrung des Zusammenbruchs der Sowjetunion einen interessanten Essay über die "feindlose Demokratie" und den "feindlosen Staat" geschrieben. Liest man ihn heute erneut, wirkt dieser fast 30 Jahre alte Text geradezu hellseherisch. Er argumentiert, dass der Systemantagonismus zwischen West und Ost die Demokratie einerseits unterscheidbar gemacht, andererseits die atomare Hochrüstung die Gesellschaft geradezu entmilitarisiert habe. Es entstand also ein identitätsbildender Antagonismus, der die Demokratie zugleich benennbar werden ließ, aber auch von der unmittelbaren Militarisierung emanzipiert hat – was gerade in Deutschland besonders extrem zu beobachten ist, bis heute. Es kommt aber noch ein drittes Argument hinzu: Die Individualisierung von Lebensformen habe, so Beck, zugleich den Ernstfall aufgehoben, der Staat schrumpfte zum Versorgungsstaat und Sicherheitsfragen waren weit weg. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der westliche Staat dann ein feindloser Staat, der sich nicht einmal mehr von Alternativen unterscheiden konnte.

Vielleicht hat man deshalb so lange geglaubt, man könne mit Obervolta mit Atomraketen auf Augenhöhe diskutieren, man könne sich eine russische Gesellschaft vorstellen, in die man Lücken einbauen kann, als habe man es mit einem ähnlich denkenden Gegenüber zu tun, das seine Legitimation vor allem durch Zuspruch und Unterstützung der eigenen Bevölkerung beziehen müsse. Vor diesem Hintergrund wären Gasgeschäfte vernünftig gewesen, weil man denken könnte, dass sie Wechselseitigkeit und Augenhöhe, Vertrauen und Abhängigkeiten produzieren. Aber das Gegenüber muss andere Probleme lösen: Es muss jegliche Form der Entwicklung und der Veränderung, des Selbstbewusstseins der Bevölkerung und des Wettstreits um bessere Lösungen unterbinden. Es kennt Kooperation nur als Form der Erpressung. Dieses Gegenüber ist der Feind der Ergebnisoffenheit, der Feind der Demokratie.

Spätestens seit der Nacht auf den 24. Februar 2022 ist die westliche Demokratie keine feindlose Demokratie mehr. Spätestens an diesem Tag gibt es einen Feind, der womöglich dazu beitragen kann, die Idee der Demokratie und der Ergebnisoffenheit gesellschaftlicher Prozesse sowie das Aushalten von Unterbestimmtheit als Freiheit und als politisches Programm wieder zu etablieren. Dieser Feind muss ein Feind genannt werden, weil er das ganz andere dieser gesellschaftlichen Möglichkeiten ist. Und dieser Feind ist auch Feind, weil er in seinem Inneren all jene, die in die Lücken der Ergebnisoffenheit stoßen und in Alternativen denken, wegsperrt, umbringt, erpresst. Man denke nur an den Fall Nawalny oder an die unfassbar mutigen Menschen, die sich derzeit einen Protest gegen den Angriffskrieg trauen.

Wir konnten uns lange den Luxus leisten, Kritik innerhalb der Demokratie als Feindschaft gegen die Demokratie zu inszenieren – das reicht von der Wahl eines Antidemokraten zum Präsidenten des Mutterlandes der Demokratie bis hin zur leichtfertigen Behauptung, die Demokratie per se habe versagt, wenn einem das Lösungsangebot nicht passt. Jetzt wird ein sich schon lange abzeichnender äußerer Feind sichtbar, der womöglich dazu beitragen kann, die Demokratie selbst zu politisieren. Bei aller Schrecklichkeit ist das vielleicht der einzige positive Aspekt der jüngsten Ereignisse. Wir haben wieder einen Feind, der den Blick auf uns selbst lenkt. Nehmen wir ihn intellektuell an.
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Der feindlose Staat

Von Ulrich Beck

Zeit.de 1992-10-23

Wer für diese Zeit eine Erklärung hat, ist verdächtig. Wir erleben eine bis zur Denkhemmung irritierende Zeit. Doch möchte ich fragen: Was haben die friedliche Revolution in der DDR, der Zerfall der Sowjetunion, das jugoslawische Drama, die Reformation der Bundeswehr und der Nato sowie das billigende Zuschauen, die passive Mittäterschaft einer dumpfen Mehrheit angesichts brutaler Ausschreitungen gegen die Menschenrechte in Deutschland miteinander zu tun? Meine Antwort: Dies sind Symptome eines neuartigen Phänomens — des ser Staat, eher ein Staat auf der Suche nach dem verlorenen Feind.

Der deutsche Verteidigungsminister Volker Ruhe hat vor kurzem gesagt: "Deutschland ist von Freunden umzingelt Umzingelt trifft hervorragend, weil ein Land — entstanden aus der alten BRD und der DDR, die beide auf Feindbildern im Ost West Gegensatz aufgebaut worden sind — diese neue Feindlosigkeit als tiefe Verunsicherung erfahren muß. Moskau will in die Nato eintreten. Die Volksarmee tut bei der Bundeswehr Dienst. Kommunisten verkünden den Kapitalismus. Sicher, gleichzeitig schockieren Nachrichten von Bürgerkriegen, frei herumvagabundierenden Atomwaffen, von Heeren ohne Staaten, Neustaaten mit unklaren Grenzen, die Heere zwischen sich aufteilen. Aber dies sind die Folgen des Zusammenbruchs einer Weltordnung. Diese tiefen Beunruhigungen können nicht verdecken: Mindestens Westeuropa steht im Äußeren ohne Feinde da. Das ist historisch beispiellos.

Alle Staaten führten, wie der britische Soziologe Michael Mann nachgerechnet hat, im Schnitt in der Hälfte ihrer Zeit Krieg. Die Spannweite liegt zwischen einem Drittel (Preußen) und zwei Dritteln (Spanien von 1476 an). Das 18. Jahrhundert war außerordentlich kriegerisch, das 19. Jahrhundert ungewöhnlich friedlich. Das 20. übertrifft an Kriegsgreuel alle vorangegangenen Jahrhunderte. Und nun dieser Größte Anzunehmende Glücksfall: die Entstehung des feindlosen Staates in Europa. Welche Widersprüche brechen mit diesem abrupten Übergang von der Frontstaaten- zur feindlosen Demokratie hervor? Drei Theorien stecken den Horizont ab:

Diese besagt: Die friedliche Eroberung der Weltmärkte ist allen anderen Eroberungen überlegen. Früher eroberten die kriegerischen Völker die handeltreibenden, heute ist es umgekehrt. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist das jüngste Beispiel.

Dagegen verweisen zweitens Theorien des miliKrieg und Welthandel bis in die Gegenwart. Die Industrie hat vom Krieg profitiert und der Krieg von der Industrie. Die Weltkriege brachen bekanntlich zwischen hochentwickelten Industriestaaten aus. Und die sogenannten kriegerischen Staaten des Mittelalters waren geradezu friedlich, wenn man den horrenden Militäretat in den — wie Schumpeter sagt — "essentiell unkriegerischen" Staaten der Moderne zum Maßstab nimmt. Doch diese weitverbreitete Theorie, daß Krieg, Militär, Aufrüstung integrale Notwendigkeit des Kapitalismus sind, übersieht, was Martin Shaw den militärischen Sozialismus, den "Sozialismus des totalen Krieges" nennt: Die Sowjetunion und Osteuropa sind wesentlich in der Folge des Ersten und Zweiten Weltkrieges kommunistisch geworden, nicht etwa (wie die Marxsche Theorie vermuten ließ) durch die Industrialisierung in den einzelnen Ländern. Die Waffe und nicht das Argument, der Soldat und nicht der Proletarier haben den Sieg des Realsozialismus begründet. Ich möchte drittens die Theorie der militärisch Argumente aus beiden, aber relativiert und verknüpft sie. Dazu vorweg drei Thesen:

(1) Demokratisierung und Militarisierung erfolgen im 19. Jahrhundert in etwa parallel. Feindbilder integrieren gerade auch die moderne Gesellschaft, begrenzen die Demokratie und ermächtigen staatliches Handeln.
(2) Der Kalte Krieg war ein System der Denationalisierung der Nationalstaaten. Die atomare Hochrüstung ermöglichte eine Entmilitarisierung der Gesellschaft.
(3) Im feindlosen Staat brechen die Widersprüche zwischen Militär und Demokratie hervor. Die wohlfahrtsstaatliche Individualisierung — zu Ende gedacht — hebt den Ernstfall auf. Damit gewinnt die frühbürgerliche Theorie jetzt in der Form eines unfreiwillig pazifistischen Kapitalismus neue theoretische und politische Bedeutung.

Der Aufbruch in die Moderne: Die Abschaffung ständischer Herrschaftsformen, die Ersetzung einer gottgewollten durch eine menschengewollte Ordnung — Parlament, Gewaltenteilung, abwählbare Regierung —, alle diese Errungenschaften werden im 19. Jahrhundert zusammen mit der Ausweitung des Waffendienstes für alle Bürger durchgesetzt. Das allgemeine Wahlrecht und die allgemeine Wehrpflicht (beides für Männer) sind Zwillinge, kommen annähernd zusammen auf die Welt. Ebenso geht der Aufbau der Industrie Hand in Hand mit der Industrialisierung der Kriegsführung. Waffenproduktion wird Massenproduktion. Die Schaffung von Verkehrssystemen dient beidem: dem zivilen und dem militärischen Kalkül. Die Widersprüche zwischen politischer und militärischer Mobilisierung werden bis zur Unkenntlichkeit aufgehoben durch die interne Präsenz einer externen Instanz: Feindbildern.

In allen bisherigen Demokratien gibt es zwei Arten von Autorität: Die eine geht vom Volke, die andere geht vom Feinde aus. Feindbilder integrieren. Feindbilder ermächtigen. Feindbilder haben höchste Konfliktpriorität. Sie erlauben es, alle anderen gesellschaftlichen Gegensätze zu überspielen, zusammenzuzwingen. Feindbilder stellen sozusagen eine alternative Energiequelle für den mit der Entfaltung der Moderne knapp werdenden Rohstoff Konsens dar. Alle Demokratien sind militärisch halbierte Demokratien. Der militärische Konsens begrenzt den demokratischen Konsens und umgekehrt: Die durchgesetzte Demokratie hebt die Ernstfallbereitschaft auf. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, das Experiment der Moderne: das Eintreten in die Achterbahn der Neuerungen, ohne Feindbilder zu bestehen. Tatsächlich hat sich aber in Europa dieses Ineinander von Demokratisierung, Industrialisierung und Militarisierung ein- und abgespielt. Der Zusammenhang zwischen Nationalismus und politischer Emanzipation wird verständlich, wenn man die Machtkonzentration des Staates, seine Überinstanzenlosigkeit, sprich: nationale Selbstherrlichkeit und Willkür, in Beziehung setzt zu der Aufhebung der alten Gesellschaftsordnung auf Dauer, die genau dadurch vollzogen wird. So entsteht der integrative Zentralstaat, der das Gewaltmonopol ausübt, seine Dauerarmee und Bürokratie durch Steuern finanziert und innerhalb seiner Grenzen ein einheitliches Recht und Erziehungssystem schafft.

Die Dialektik von militärischer Bedrohung und Abwehr rechtfertigt den Aufbau eines Machtapparats — in der Mehrfachbedeutung: als innenpolitische Konsensmobilisierung (unverblümter gesagt als Peitsche, die die brodelnden industriellen Klassenkonflikte zu zähmen erlaubt) und als Schauspiel der Kriegsvorbereitung und Kriegsfiihrung. Drohende Kriege haben die Welt primärer Industrialisierung stabilisiert.

Außerordentlich wichtig ist dieses Merkmal: Feindbildern wohnt die Kraft zur Selbstbestätigung inne. Feindschaft erzeugt Feindschaft. Feindbilder sticheln, grenzen ab, kränken, bereiten Gewalt vor, erzeugen Angst, bis eintritt, wovon sie reden: Nachbarn, Menschen anderer Zungen und Kulturen werden erst zu Fremden, dann zu Feinden. Feindbilder haben die fürchterliche Kraft zur Selbstverwirklichung, weil sie eine Mechanik von Abwehr und Gegenwehr in Gang setzen, die in der Vorwegnahme der Angst allen Ängsten immer neue Nahrung gibt.

Ein Vergleich mit der modernen Liebesbeziehung drängt sich auf. Wie die enttraditionalisierte Liebe, die auch keine Entscheidungsinstanz über sich kennt und anerkennt, ist auch Feindschaft in hohem Maße deutungsanfällig. Schon Kommunikationsstörungen können im Konfliktfall verheerende Folgen haben. Doch der Unterschied zwischen den privaten Ehe- und zwischenstaatlichen Kriegen ist der, daß Staaten ihr Handeln zirkulär rechtfertigen können. Sie treten und trumpfen mit allen Insignien der Legitimität auf. Sie haben immer ihr Recht, ihr Parlament, meist auch ihre Öffentlichkeit auf ihrer Seite. Gerechtigkeit und Macht sind, wie schon die Sophisten wußten, in diesem zynischen Sinne bedeutungsgleich. Deswegen ist die Rolle der Eliten und der Massenmedien bei der sozialen Konstruktion oder Destruktion von Feinden so wichtig. Feindbilder sind intellektuelle Waffen, Meta Waffen: Worte, in deren Horizont Gewalt selbstverständlich wird. Der Kalte Krieg war ein Gottesgeschenk. Er gab einer Welt, die in das Atomzeitalter hineingeschlittert war, eine Ordnung, eine Ordnung des Schreckens zwar, die es aber erlaubte, innere Krisen auf externe Ursachen: Feinde, abzuwälzen. Der Kalte Krieg verwirklichte ein Stück geteilter, auf Feindbildern aufgebauter Weltgesellschaft. Bitte keine KalterKriegs Nostalgie! Aber die Frage muß erlaubt sein, wie dieses Uhrwerk, nach dem die Welt tickte, funktionierte.

Der sowjetische Imperialismus war auch ein Freundschaftsakt für den Westen. Zum einen stellte er einen klassischen Unruheherd in Europa kalt. Wie sehr die kommunistische Diktatur hier dem Westen das Leben erleichterte, wird heute deutlich, wo weder die EG noch die Uno in der Lage sind, die kriegerischen Konflikte im zerbrochenen Jugoslawien zu beenden. Der Sowjetimperialismus leistete das, was der Westen gar nicht mehr leisten kann.

Zum anderen wurde auf diese Weise Sozialismus als Imperialismus vorgeführt: ein Experiment der selbstorganisierten Selbstwiderlegung. Daß der Westen antikommunistisch wurde, ist ein Geschenk des östlichen Kommunismus. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in den hochentwickelten Industriestaaten starke sozialistische und kommunistische Bewegungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Osten zu einem einzigen Beweis dafür, daß der Kapitalismus notwendig ist. Ein Beweis, der im und durch den Kapitalismus mit seinen Krisen und Auflösungstendenzen nie schlüssig erbracht werden konnte.

Die sowjetischen Raketen haben den Westen erzeugt. Die Soziologie hat bislang weitgehend unter der Annahme geforscht, daß staatliche Grenzen auch kausale Grenzen sind. Der Kalte Krieg dagegen ist nur als grenzübergreifende Kausalität zu begreifen. Innere Merkmale des Westens — Besonderheiten der Parteienlandschaft, der Sozialstruktur, des Rechts, der Einstellung der Bürger in ganz verschiedenartigen Ländern — sind auch ein Produkt der östlichen Bedrohung und ihrer innen- und außenpolitischen Inszenierung. Am Beispiel der Selbstverwestlichung linker Oppositionsparteien läßt sich dies verdeutlichen: Die SPD ist erst nach ihrem Godesberger Eid auf das westliche Bündnissystem und seine wirtschaftlichen Spielregeln "staatsfähig" geworden. Erst unter westlichen Segeln konnte die Ostpolitik Fahrt gewinnen.

Der Westen war ein System der Halbsouveränität, der Selbstbegrenzung, Selbstentmächtigung nationaler Souveränitäten, nicht durch Eroberungen — wie der Osten —, aber auch nicht nur durch Verträge und Märkte, sondern durch die Allgegenwart der auch innenpolitisch dar- und hergestellten kommunistischen Gefahr. Genau gegen diesen Blockzwang, Blockkonsens sind (im Westen wje im Osten mit gegensätzlichen Entfaltungschancen) die neuen sozialen Bewegungen entstanden. Sie sind Kinder des Kalten Krieges.

So hat der Kalte Krieg dem instabilen Europa seine Ordnung aufgepreßt — die jetzt zur Makulatur geworden ist. Es gibt kein europäisches Sicherheitssystem mehr, da es die Vertragspartner nicht mehr gibt, die die Vereinbarungen geschlossen haben, auch die politischen Territorien nicht, auf die sie sich bezogen, und die Interessen nicht, die sie zum Ausgleich bringen sollten. Es wird sich erst noch zeigen müssen, ob Verträge, europäische Institutionen, Märkte, die "Internationale der Demokratien" ohne die Gemeinsamkeit des Feindes hinreichend bindend wirken können, um die zentrifugalen Kräfte der Weltwirtschaft, nationale Egoismen und geschichtliche Wahlverwandtschaften und Wahlfeindschaften zu zügeln. So paradox es klingen mag: Die atomare Hochrüstung ermöglichte eine Entmilitarisierung der Gesellschaft. Technologie ersetzte Arbeitskraft. Die elektronische Kriegsführung wird Spezialistensache. Die Hochbewaffnung verschlingt Ressourcen: Geld, Technologie, Wissen, aber ermöglicht eine Demobilisierung, sogar Zivilisierung der Gesellschaft. So können Militarisierung und Demokratisierung zugleich vorangetrieben werden.

Ich möchte in diesem Zusammenhang die Individualisierungstheorie neu interpretieren: Ebenso wie Klassenkulturen und die Kernfamilie löst die Individualisierungsdynamik des Wohlfahrtsstaates auch die letzte Bastion der Großgruppengesellschaft: die Feindbildgesellschaft, auf. Jeder hat seinen Feind, aber gerade deswegen nicht mehr den einen gemeinsamen, integrierenden Feind. Meine These lautet: Individualisierung hebt den Ernstfall Schmitts). Mit fortschreitender Individualisierung trifft zum ersten Mal in der Geschichte der Satz zu: Staaten, die bellen, beißen nicht.

"Individualisierung" meint vieles nicht, von dem viele zur besseren Widerlegung meinen, daß es dies meint: Atomisierung, Autonomisierung, Vereinsamung — auch wenn in den Großstädten die Einpersonenhaushalte inzwischen über fünfzig Prozent liegen. Individualisierung meint erstens die Auflösung, zweitens die yl&lösung traditionaler kollektiver Lebensformen durch solche, in denen die einzelnen auch innerhalb von Kleinfamilien ihre Biographie selbst durchhalten und zusammenflickschustern müssen.

Gerade die Suche, Sucht nach kollektiven Identitäten, die wir jetzt erleben, widerspricht nicht, sondern ist ein Produkt der ins Anomische durchschlagenden Individualisierung. Einerseits drehen sich die Menschen unter dem Diktat der Marktverhältnisse um die Achse ihres eigenen Lebens. Andererseits romantisieren die einen Familie, die anderen beschwören den Untergang, entdecken die Esoterik, die Identität des Überschaubaren, führen einen verbissenen Kampf gegen Giftteufel oder bekennen mit aggressiver Lust: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.

Aktuell gewendet: Man hört jetzt oft, eine Berufsarmee entlaste von den Legitimationsproblemen, die der Einsatz der Bundeswehr jenseits der eigenen Grenzen erzeugt. Das dürfte eine Illusion sein. Man stelle sich das vor: Die alte Bundeswehr hat alle Konsensvorteile auf ihrer Seite. Verteidigung, also Notwehr gegen einen sichtbaren, ausgewiesenen "Erzfeind". Mit dem Einsatz außerhalb der Landesgrenzen ist alle Fraglosigkeit der Verteidigung dahin. Hier müssen Angriffe — auch wenn sie im Rahmen von "Friedensmissionen" (Orwell läßt grüßen) stattfinden — im Kreuzfeuer der Kritik gerechtfertigt werden. Dies setzt voraus, daß die Handelspartner von gestern glaubwürdig in die Rolle des Bösen eingepaßt werden können. Wobei die Ziele eines solchen Unternehmens immer vielschichtig und bestreitbar bleiben. Das Ganze in einem Land, das — wenn die Umfragen nicht täuschen — eine grüne Republik, genauer: eine grüne Großschweiz werden will. Und in einer Welt, die auf dem atomaren Pulverfaß lebt. Wenn Sie mich fragen: Das ist genau der Größte Anzunehmende Dissensfall, auf Dauer gestellt.

Verglichen damit war die alte Bundesfteimwehr ein Konsensbiotop, eine Quelle für Konsens sogar, an der sich andere laben konnten. Die neue BundesH>eIfwehr wird genau das Gegenteil sein: eine Quelle für unstillbaren Streit. Die Zustimmung der Parteien zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung ist das eine. Das andere Problem lautet: Ist eine Bundesweitwehr überhaupt zustimmungsfähig? Die Prognose der Individualisierungstheorie lautet: nein. Jeder Einsatz wird das ganze Land einer inneren Zerreißprobe aussetzen.

Der Ost West Gegensatz war eine einzige Zementierung des Politischen: Die Rollen lagen fest, die Gegensätze regierten in alles hinein. Die im westlichen Denken erarbeitete und ausgewalzte These vom "Ende der Politik" ist die These vom Ende der Politik im Kalten Krieg. Nun aber kommt es zur unfreiwilligen Renaissance des Politischen nach dem bewiesenen Ende desselben aus den Trümmern der alten Weltordnung. Ein Zeitalter, das sich mit besten Gründen aus der Handlung verabschiedet hatte, schlittert neu und grundsätzlich ins Politische hinüber. Das Spektrum der Möglichkeiten, die sich keineswegs ausschließen, kann in fünf Szenarien nur angedeutet werden.

Feindlosigkeit heißt nicht Feindbildlosigkeit, im Gegenteil entsteht damit umgekehrt ein unstillbarer Bedarf nach neuen Feindbildern. Daß nach dem Ende des Kalten Krieges überall blutige Konflikte aufbrechen: wer kann das leugnen. Auffällig ist jedoch, daß gerade in einem Land, das sich zum ersten Mal in seiner kriegerischen Geschichte "von Freunden umzingelt" sieht, ein so reger Handel mit allen möglichen und unmöglichen Feindbildern unter eifriger Beteiligung von Intellektuellen aller Gesinnungsgattungen blüht. Der Trend läuft vom konkreten zum austauschbaren Feind: erstens der mobile Feind; hier treten an die Stelle des Großfeindes Wechselrahmen für Feindbilder auf Zeit (islamischer Fundamentalismus, Dritte Welt, Irak, Serbien und so weiter). Befinden sich hier Regierungen oder Religionen im Fadenkreuz, so werden diese beim abstrakten Feind durch diffuse Summengruppen (Asylanten, Fremde) ersetzt oder sogar durch allgemeine Anomien der Moderne (Drogenhandel, organisierte Gewaltkriminalität). Schließlich kann eine augenblickliche Feindlücke auch durch prinzipielles Nachdenken geschlossen werden, beispielsweise dadurch, daß Feindschaft als unüberwindlich dargestellt wird; diese anthropologische Feindbildflexibilisierung ermöglicht Feindbilder ohne Feinde. Je unaufhebbarer und undurchsichtiger die Bedrohungen, desto größer und vielfältiger die Zukunftsmärkte für Sicherheit und Militärtechnologie überall auf der Welt.

Die Frontstaaten Demokratie könnte innenpolitisch "abrüsten". Beispielsweise der Radikalenerlaß ist entbehrlich geworden und wäre durch sein Gegenteil zu ersetzen: einen Erlaß, der Zivilcouragierte, Umdenker, Realphantasten zur Lösung der anstehenden Herausforderungen in den öffentlichen Dienst lockt. Dazu gehört auch, daß die Linke ihr Feindbild des Kapitalismus revidiert. Die Kritik des fast schon wieder frühen "Spätkapitalismus" wird beweglicher, wirkungsvoller, wenn man ihn nicht als Quelle alles Bösen (Nationalismus, Militarismus, Patriarchat) verteufelt, sondern seine Lernfähigkeit entdeckt. Dann nämlich wird politisch einklagbar, gestaltbar, was auf der Tagesordnung der Zukunft steht: die ökologische Reform, der feministische Umbau, die Zivilisierung der militärisch halbierten Moderne. Wenn Feindbilder abgebaut werden, droht Desintegration. Doch wie der Zufall so spielt: Der entwickelten Moderne entsteht aus ihren Versäumnissen und Fehlern eine neue Konsensquelle — der ökologische Großkonsens. Dieser teilt mit dem alten Verteidigungskonsens das Klassenübergreifende, vergrößert es sogar ins Übernationale. Der feindlose könnte eine Metamorphose zum ökologischen Staat durchlaufen. Nicht nur um die Natur zu retten, sondern um staatlich politisches Handeln mit Konsens und Zukunft auszustatten. Die Ethik der Selbstbegrenzung, die die ökologische Frage in die Herzen der Menschen senkt, kann dabei auch für andere Politikfelder nützlich gemacht werden: Grenzen des Sozialstaates, Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

Mit der Schwächung des auf Gewaltmitteln aufgebauten zentralistischen Staatsapparates wechseln politische Kernbegriffe ihren Sinn. Das zukunftsmächtigste Beispiel dafür ist wohl das vielen belächelt als ein Relikt einer altertümlichen Bürgerethik, erweist sich nach dem Ende der Militärblöcke als scharfes, zweischneidiges Schwert in den Beziehungen innerhalb der und zwischen den Staaten Europas und der Welt. Was früher nur Kriege vermochten: Grenzen zwischen Staaten zu verschieben, die Machtbalance einer ganzen Hemisphäre aufzuheben, ist heute ebenso friedlich wie durchgreifend dadurch möglich, daß das demokratische Urrecht der Selbstbestimmung von ethnischen Gruppen und Teilstaaten eingeklagt und umgesetzt wird. Wenn man sich vor Augen hält, wie auch westliche Staaten durch den Außendruck der kommunistischen Bedrohung zusammengehalten wurden, dann ahnt man, wie die zentrifugalen Kräfte ethnischer Autonomie an Dynamik gewinnen können und werden. Auch die alten Großstaaten Westeuropas — Frankreich, England, Belgien, Spanien und so weiter — können bald unter das Messer des Selbstbestimmungsprinzips geraten, dem sie huldigen. Vielleicht entsteht in diesen Wirbeln ein europäisches Mosaik, ein europäisches Macht Puzzle, das die politischen Netze Europas zerreißt?

5. Subpolitisierung der Gesellschaft Im Staat, der sein Spezifikum: das "intime" Verhältnis zur Gewalt (Max Weber), verliert, öffnet sich das Politische neu, aber außerhalb des politischen Systems. Die Schwächung des Staates geht einher mit einer Stärkung anderer gesellschaftlicher Akteure: zum Beispiel der Massenmedien, aber auch der Verbände, der Berufsgruppen, Bürgerinitiativen und so weiter. Die Entstaatlichung des Staates bedeutet zweierlei: Zum einen eine "Subpolitisierung" der Gesellschaft, zum anderen kann sie im günstigen Fall die Erfindung des Verhandlungsstaates bedeuten, des Staates der runden Tische nach innen und nach außen. Am Beispiel der Wirtschaft läßt sich dieses verdeutlichen. Der militärisch gehemmte Staat greift zur Waffe des Boykotts und macht damit die Wirtschaft zur Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln. Dies aber führt — bei mobilen Feindschaften — zu einer Außenpolitisierung der internationalen Handelsbeziehungen von oben.

"Wünsche für Deutschland", ich zitiere Gottfried Benn aus dem Jahre 1942: "Neue Begriffsbestimmung für Held und Ehre. Ausmerzung jeder Person, die innerhalb der nächsten hundert Jahre Preussentum oder das Reich sagt. Geschichte als Verwaltung mittleren Beamten des gehobenen Dienstes überlassen, aber als Richtung und Prinzip einer europäischen Executive öffentlich unterstellen. Die Kinder vom 6 —16. Jahr nach Wahl der Eltern in der Schweiz, in England, Frankreich, Amerika, Dänemark auf Staatskosten erziehen. Aus meiner Sicht wäre anzufügen: Ferien am Starnberger See sind möglich.
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Dies ist ein Absatz "class zitat" mit der schönen Graphik davor.
Das Zitat sollte aber lang genug sein ...

Invasion in die Ukraine: Das Ende der Illusionen

Von Yascha Mounk


Ich wurde im Jahr 1982 geboren, beim Fall der Berliner Mauer war ich sieben. Als ich ein Teenager war, entwickelte sich das Internet mit all seinen Versprechungen, Menschen miteinander zu verbinden, zu einem integralen Bestandteil unseres Lebens. Die Demokratie hat sich bis in meine Zwanziger hinein immer weiter auf dem Globus verbreitet.

In meiner Generation war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nur unverbesserlichen Optimisten vorbehalten. Trotz gravierender Rückschläge – vom Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien bis hin zu den Terroranschlägen, die die USA am 11. September erschüttert haben – deutete alles darauf hin, dass Frieden und Toleranz in der Welt zunahmen.

Tatsächlich ging die Zahl der bewaffneten Konflikte immer stärker zurück. In der Tat verblassten die aggressivsten Formen des Nationalismus. In der Tat war der Anteil der Menschen auf der Welt, die frei ihre Meinung äußern und an der Wahlurne zum Ausdruck bringen konnten, so hoch wie nie. Einige wertvolle Jahre lang schien es, als bestimmte ein weltoffener Optimismus, der den Narzissmus unbedeutender Unterschiede durch die Akzeptanz unserer Gemeinsamkeiten als Menschen ersetzte, den Ethos der mächtigsten Länder der Erde. Anachronisten als Avantgardisten?

Dadurch geriet man leicht in Versuchung, Störungen in der Matrix als Anachronismen abzutun, die bald schon der Vergangenheit angehören würden. Viele Vertreter meiner Generation haben Bürgerkriege, die sich aus ethnischem Stolz nährten, als "vorzeitlichen Hass" abgewiegelt, das Wiederaufflammen von religiösem Fanatismus als Einzelüberzeugungen von Extremisten kleingeredet und kriegstreibende Nationalisten als Ewiggestrige abgetan.

Als ich 20 Jahre alt war, erfüllte mich das Erstarken von Silvio Berlusconi, Recep Tayyip Erdoğan, Hugo Chávez und Wladimir Putin mit großer Sorge. Doch tief im Inneren glaubte ich zu wissen, dass es sich hierbei um nichts weiter als eine Rückschau auf eine düstere Vergangenheit handelte, die niemals wieder Fuß fassen könnte – Betrüger und Fanatiker, Ideologen und Kriegshetzer, die durchaus eine reelle Gefahr darstellten, sich aber doch unmöglich langfristig durchsetzen und die Zukunft neu schreiben könnten.

Aber genauso, wie sich die Vergangenheit nur als Prolog erweisen kann, können sich auch scheinbare Anachronisten als Avantgardisten herausstellen.

Heute ist klar, dass der breite Konsens den Kaffeesatz völlig falsch gelesen hat. Die Welt befindet sich nunmehr im sechzehnten Jahr einer demokratischen Rezession, die sich in den vergangenen zwölf Monaten weiter verschärft hat. Die sozialen Medien haben narzisstisches Stammesdenken geschürt, statt einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis zu leisten. Nichts scheint noch sicher – vom Überleben der Demokratie in ihren traditionellen Kernländern bis hin zu unserer Fähigkeit als Gemeinschaft, die Ambitionen der skrupellosesten Diktatoren der Welt zu kontrollieren.

Ganz offenbar sind Chauvinismus und ethnischer Stolz, Demagogie und Kriegslust nicht bestimmten historischen Epochen vorbehalten. Im Gegenteil: Sie sind latente menschliche Eigenschaften, die auf ewig als mögliche Realitäten der Zukunft schlummern, falls unsere Wachsamkeit einmal nachlässt und unsere Institutionen daran scheitern, die niedersten Instinkte der Menschheit in Schach zu halten – wie es gerade im Herzen Europas geschehen ist.

Wir werden es erst in Jahrzehnten wissen

Es gibt viele Gründe, warum Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine eine tiefgreifende historische Bedeutung hat. Mit dieser Invasion fällt zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein europäisches Land auf derart schamlose Weise für Gebietsgewinne in ein anderes ein. Damit werden, zumindest für die absehbare Zukunft, 40 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Vasallen des Kremls. Und ganz ohne Frage tötet diese Invasion eine unerträglich große Zahl an Unschuldigen. So viel wissen wir.

Aber sehr viel wissen wir noch nicht. Gut möglich, dass diejenigen, die voller Überzeugung ein bestimmtes Narrativ über den Ausgang der Situation vertreten, letztlich falsch liegen werden. Befindet man sich in der Geschichte an einem kritischen Punkt, sind – wie so oft zuvor – die möglichen Szenarien mannigfaltig und ihre Wahrscheinlichkeiten nur schwer zu bestimmen. Das Beste, was wir tun können, ist uns auf alle möglichen Ausgängen einzustellen und uns dabei im Hinterkopf zu behalten, dass die Geschichte häufig überraschende Wendungen bereithält.

Vielleicht wird die ukrainische Bevölkerung fähig sein, ihre Freiheit in einem Maße zu verteidigen, das sich derzeit niemand vorstellen kann. Vielleicht wird die Ukraine zum Grab der neoimperialistischen Ambitionen des Kremls. Vielleicht erweist sich ein ausgedehnter, von ihm selbst angezettelter Konflikt sogar als Putins persönlicher Untergang.

Wolodymyr Selenskyj - "Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen!" Der ukrainische Präsident hat sich nach einer weiteren Nacht der Kämpfe mit einem Video an seine Bevölkerung gewandt. Er zeigt sich darauf vor seinem Amtssitz in Kiew.

Allerdings scheinen andere, zutiefst niederschmetternde Szenarien sehr viel plausibler. Vielleicht entpuppt sich Putins Krieg gegen die Ukraine als ein großer Schritt auf dem Weg hin zu einem neuen russischen Reich. Vielleicht untergräbt er das Vertrauen in die Fähigkeit der Vereinigten Staaten und ihrer Nato-Bündnispartner, kleine und mittelgroße Nationen vor den Ambitionen ihrer großen Nachbarn zu schützen. Vielleicht markiert er sogar den Beginn eines jahrzehntelangen militärischen Konflikts in Mitteleuropa oder löst (im allerschlimmsten Fall) einen atomaren Flächenbrand aus.
Die tatsächlichen Konsequenzen dieser Invasion werden sich erst in einigen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zeigen. Eine ihrer Auswirkungen für unsere Vorstellungskraft erscheint allerdings schon jetzt beunruhigend klar. Putins Invasion der Ukraine hat die hoffnungsvolle Zukunftsvision beerdigt, die im Westen in den Jahrzehnten nach dem Fall der Berliner Mauer vorherrschend war. Die Gewissheiten, auf denen wir unser Weltbild gegründet haben, wandeln sich schon seit geraumer Zeit zu Illusionen. Die Raketen, die am frühen Morgen des 24. Februar 2022 auf Charkiw, Kiew und Lwiw fielen, haben diesen Wandel zum Abschluss gebracht.

Ein säkulares Gebet
Ich war noch nie in der Ukraine. Die Namen von Städten in Ländern, die man nicht selbst besucht hat, fühlen sich oft abstrakt an. Doch viele meiner Vorfahren haben ihr ganzes Leben in den Gebieten gelebt, die heute von russischen Raketen beschossen werden. Meine Großväter Leon und Bolek und meine Großmütter Chava und Mila wurden in Lwiw oder in der Nähe geboren. Ihre Lebenswege waren geprägt von den Launen der Geschichte. Sie haben Eltern, Großeltern und die meisten ihrer Geschwister wegen der Gräueltaten des Holocaust verloren.

Während ich das Grauen in der Ukraine verfolge, denke ich daran, dass die Generation ihrer Kinder, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, die erste war, die relativen Frieden und Sicherheit genießen konnte. Auch wenn das Leben meiner Eltern durch politische Kräfte außerhalb ihrer Kontrolle jäh unterbrochen wurde, als sie durch eine staatlich geförderte antisemitische Kampagne aus ihrem Heimatland vertrieben wurden, mussten sie doch nie um einen Verwandten trauern, der Krieg, Hunger oder ethnischer Säuberung zum Opfer gefallen war.

Ich empfand es einst als Selbstverständlichkeit, dass meine Welt der meiner Eltern mehr gleichen würde als der ihrer Vorfahren. Ich hatte, so glaubte ich, einfach das Glück, in eine aufgeklärte Zeit hineingeboren worden zu sein, in der gegenseitiges Verständnis zunahm und Diktatoren, die Eroberungskriege führten, langsam verschwanden. Doch die Lehre aus Putins skrupellosem Krieg gegen die Ukraine ist, dass selbst diese bescheidene Hoffnung eine Illusion ist.

Ich bin nicht religiös. Aber in diesen schmerzlichen Stunden kann ich einem säkularen Gebet nicht widerstehen:

Möge Gott dem ukrainischen Volk wohlgesonnen sein.
Möge Gott uns allen wohlgesonnen sein.
Denn nur dank der Gnade der Geschichte hat es uns noch nicht getroffen.

14.7.2016 - into the blue

#kiel, #kollegen

ja, die Privilegien im öffentlichen Dienst - wir haben sie heute genutzt, um mit den Kollegen vom K3 auf landeskundliche Studienfahrt zu gehen. Statt umständlich erst mal irgendwo hinzugurken, gab es eine Kieler Stadt-Rallye, gute Idee. Der Rathausturm ist 106 Meter hoch, das wusste ich bereits, aber das das Carillon im Klosterkirchhof tatsächlich 45 Glocken hat war mir neu. Allerdings war ich tatsächlich der einzige, der überhaupt wusste was ein Carillon ist. Ludwig Goedecke (Onkel Ludwig) war Parkplatzwächter auf dem Alten Markt von 1946 bis 1967, eine Widmung für ihn kann man Ecke Kehdenstraße betrachten.
So ging es heiter weiter zur Kiellinie und einem Besuch im Aquarium, für Verpflegung war gesorgt und trotz der vereinzelten Schauer waren sich alle einig, dass man in einer wunderbaren Stadt lebt ...

kiel

12.7.2016 - Disco, Disco

#Disco #80er #Musik

gleich noch eine Geschichte, die bei den gestrigen Ermittlungen abgefallen ist. Wie gesagt, da brauchst du kein Buch mehr.

“Mick Kaiser hieß der Besitzer und seine Frau Evi war dann später Emils Geliebte, die ihn auch ruinierte. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Mick ist auch schon lange tot und Evi läuft zahnlos als Fixerin in Oldenburg rum. "

Und alles Weitere aus der Sicht eines Hippie-DJs aus dem Oldenburgischen auf die 80er Jahre findet sich in diesem Text ... http://www.ottosell.de/ullibrinkhaus.htm

Olaf Scholz: Die Rede des Bundeskanzlers im Wortlaut



Olaf Scholz - "Die Freiheit der Ukraine stellt Putins Unterdrückungsregime infrage" Nach langem Zögern will die Bundesregierung die Ukraine mit Waffen unterstützen. "Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben", sagte der Bundeskanzler.

@zeitonline 20220227

Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt und weitgehende Konsequenzen für die deutsche Politik angekündigt. Die Regierungserklärung im Wortlaut:

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.

Die schrecklichen Bilder aus Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol zeigen die ganze Skrupellosigkeit Putins. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer – sie gehen uns allen sehr nahe. Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen. Welche Sorgen sie umtreiben – angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg. Und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Viele von ihnen verleihen ihrem Entsetzen Ausdruck – überall im Land, auch hier in Berlin.

Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf. Ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts. Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus. Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern.

Und ich bin Ihnen, Frau Präsidentin, sehr dankbar, dass ich die Vorstellungen der Bundesregierung dazu heute in dieser Sondersitzung mit Ihnen teilen kann. Und auch den Vorsitzenden aller demokratischen Fraktionen dieses Hauses danke ich dafür, dass Sie diese Sitzung unterstützt haben.

Putin hat "neue Realität geschaffen"

Meine Damen und Herren, mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen. Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Er stellt sich auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft.

Weltweit haben unsere Botschaften in den vergangenen Tagen gemeinsam mit Frankreich dafür geworben, die russische Aggression im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie ist: ein infamer Völkerrechtsbruch. Und wenn man sich das Ergebnis der Sicherheitsratssitzung in New York anschaut, durchaus mit Erfolg. Die Beratungen haben gezeigt: Wir stehen keineswegs allein in unserem Einsatz für den Frieden. Wir werden ihn fortsetzen, mit aller Kraft. Dafür, was sie dort zustande gebracht hat, bin ich Außenministerin Baerbock sehr dankbar. Nur mit der Notbremse seines Vetos konnte Moskau – immerhin ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates – die eigene Verurteilung verhindern. Was für eine Schande!

Präsident Putin redet dabei stets von unteilbarer Sicherheit. Tatsächlich aber will er gerade den Kontinent mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären teilen. Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden. Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen.

Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns. Erstens: Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen. Das haben wir auch in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren in großem Umfang getan. Aber mit dem Überfall auf die Ukraine sind wir in einer neuen Zeit. In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie. Für Werte, die wir mit ihnen teilen. Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite – auf der richtigen Seite der Geschichte.

Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben. Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird. Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben.

Krieg wird sich als "Katastrophe für Russland erweisen"

Meine Damen und Herren, unser zweiter Handlungsauftrag ist: Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber: Der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen.

Gemeinsam mit den EU-Staats- und Regierungschefs haben wir ein Sanktionspaket von bisher ungekanntem Ausmaß verabschiedet. Wir schneiden russische Banken und Staatsunternehmen von der Finanzierung ab. Wir verhindern den Export von Zukunftstechnologie nach Russland. Wir nehmen die Oligarchen und ihre Geldanlagen in der EU ins Visier. Hinzu kommen die Strafmaßnahmen gegen Putin und Personen in seinem direkten Umfeld und Einschränkungen bei der Visavergabe für russische Offizielle. Und wir schließen wichtige russische Banken vom Banken-Kommunikationsnetz Swift aus. Darauf haben wir uns gestern mit den Staats- und Regierungschefs der wirtschaftlich stärksten Demokratien und der EU verständigt.

Machen wir uns nichts vor: Putin wird seinen Kurs nicht über Nacht ändern. Doch schon sehr bald wird die russische Führung spüren, welch hohen Preis sie bezahlt. Allein in der letzten Woche haben russische Börsenwerte um über 30 Prozent nachgegeben. Das zeigt: Unsere Sanktionen wirken. Und wir behalten uns weitere Sanktionen vor, ohne irgendwelche Denkverbote.

Unsere Richtschnur bleibt die Frage: Was trifft die Verantwortlichen am härtesten? Die, um die es geht. Und nicht das russische Volk. Denn Putin, nicht das russische Volk hat sich für den Krieg entschieden. Deshalb gehört es deutlich ausgesprochen: Dieser Krieg ist Putins Krieg. Die Differenzierung ist mir wichtig. Denn die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg ist und bleibt ein wichtiges Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte.

Und ich weiß, wie schwierig zu ertragen die derzeitige Situation gerade für die vielen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ist, die in der Ukraine oder in Russland geboren sind. Darum werden wir nicht zulassen, dass dieser Konflikt zwischen Putin und der freien Welt zum Aufreißen alter Wunden und zu neuen Verwerfungen führt.

Und noch etwas sollten wir nicht vergessen: In vielen russischen Städten haben Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Tagen gegen Putins Krieg protestiert, haben Verhaftung und Bestrafung in Kauf genommen. Das erfordert großen Mut und große Tapferkeit!

Deutschland steht heute an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten heute den Opfern des russischen Angriffskriegs. Und genauso stehen wir an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen. Wir wissen, sie sind viele. Ihnen allen sage ich: Geben Sie nicht auf! Ich bin ganz sicher: Freiheit, Toleranz und Menschenrechte werden sich auch in Russland durchsetzen.

Scholz bekennt sich zur Beistandspflicht der Nato

Meine Damen und Herren, die dritte große Herausforderung liegt darin zu verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift. Das bedeutet: Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unserer Beistandspflicht in der Nato. Das habe ich auch unseren Alliierten in Mittel- und Osteuropa gesagt, die sich um ihre Sicherheit sorgen.

Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebiets zu verteidigen. Wir meinen das sehr ernst. Mit der Aufnahme eines Landes in die Nato ist unser Wille als Bündnispartner verbunden, dieses Land zu verteidigen. Und zwar so wie uns selbst.

Die Bundeswehr hat ihre Unterstützung für die östlichen Bündnispartner bereits ausgeweitet und wird das weiter tun. Für dieses wichtige Signal danke ich der Bundesverteidigungsministerin. In Litauen, wo wir den Einsatzverband der Nato führen, haben wir unsere Truppe aufgestockt. Unseren Einsatz beim Air Policing in Rumänien haben wir verlängert und ausgeweitet. Wir wollen uns am Aufbau einer neuen Nato-Einheit in der Slowakei beteiligen. Unsere Marine hilft mit zusätzlichen Schiffen bei der Sicherung von Nord- und Ostsee und im Mittelmeer. Und wir sind bereit, uns mit Luftabwehrraketen auch an der Verteidigung des Luftraums unserer Alliierten in Osteuropa zu beteiligen.

Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in den vergangenen Tagen oft nur wenig Zeit gehabt, sich auf diese Einsätze vorzubereiten. Ich sage ihnen und sicher auch in Ihrem Namen: danke. Danke (...) für Ihren wichtigen Dienst – gerade in diesen Tagen.

"Putin will ein russisches Imperium errichten"

Meine Damen und Herren, angesichts der Zeitenwende, die Putins Aggression bedeutet, lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten. Das heute klar und unmissverständlich festzuhalten, reicht aber nicht aus. Denn dafür braucht die Bundeswehr neue, starke Fähigkeiten.

Und das ist mein viertes Anliegen, meine Damen und Herren. Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat, oder wer – wie ich – kürzlich persönlich mit ihm stundenlang gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen. Und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt. Das sehen wir heute in der Ukraine.

Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland? Und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen – heute und in der Zukunft? Klar ist: Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.

Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. Ich habe bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor einer Woche gesagt: Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es. Und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa.

Investitionen in stärkere Bundeswehr und Energiesicherheit
100 Milliarden Euro für die Bundeswehr


Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein "Sondervermögen Bundeswehr" einrichten. Und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren. Und ich richte mich hier an alle Fraktionen des Deutschen Bundestags: Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.

Eines will ich hinzufügen: Wir streben dieses Ziel nicht nur an, weil wir bei unseren Freunden und Alliierten im Wort stehen, unsere Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu steigern. Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit. Wohl wissend, dass sich nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen.

Deshalb brauchen wir eine starke Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb werden wir unsere Resilienz stärken – technisch und gesellschaftlich – zum Beispiel gegen Cyberangriffe und Desinformationskampagnen; gegen Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur und Kommunikationswege.

Und wir werden technologisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Darum ist es mir zum Beispiel so wichtig, dass wir die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern – und insbesondere Frankreich – hier in Europa bauen. Diese Projekte haben oberste Priorität für uns. Bis die neuen Flugzeuge einsatzbereit sind, werden wir den Eurofighter gemeinsam weiterentwickeln.

Gut ist auch, dass die Verträge zur "Eurodrohne" in dieser Woche endlich unterzeichnet werden konnten. Auch die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohne aus Israel treiben wir voran. Und für die nukleare Teilhabe werden wir rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Der Eurofighter soll zur Electronic warfare befähigt werden. Das Kampfflugzeug F-35 kommt als Trägerflugzeug in Betracht.

Und schließlich, meine Damen und Herren, werden wir mehr tun, um eine sichere Energieversorgung unseres Landes zu gewährleisten. Eine wichtige Maßnahme dazu hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht. Und wir werden umsteuern, um unsere Importabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden. Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen haben uns doch gezeigt: Eine verantwortungsvolle, vorausschauende Energiepolitik ist nicht nur entscheidend für unsere Wirtschaft und unser Klima. Sondern entscheidend auch für unsere Sicherheit.

Scholz kündigt größere Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen an

Deshalb gilt: Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser. Und wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen als Industrieland bis 2045 CO₂-neutral werden. Mit diesem Ziel vor Augen werden wir wichtige Entscheidungen treffen müssen. Etwa, eine Kohle- und Gasreserve aufzubauen. Wir haben beschlossen, die Speichermenge an Erdgas über sogenannte Long Term Options um zwei Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Zudem werden wir – rückgekoppelt mit der EU – zusätzliches Erdgas auf den Weltmärkten erwerben.

Und schließlich haben wir die Entscheidung getroffen, zwei Flüssiggas-Terminals, LNG-Terminals, in Brunsbüttel und Wilhelmshaven schnell zu bauen. Bundeswirtschaftsminister Habeck möchte ich für seinen Einsatz dabei ganz ausdrücklich danken. Das, was nun kurzfristig notwendig ist, lässt sich mit dem verbinden, was langfristig ohnehin gebraucht wird für den Erfolg der Transformation. Ein LNG-Terminal, in dem wir heute Gas ankommen lassen, kann morgen auch grünen Wasserstoff aufnehmen.

Und natürlich behalten wir bei alldem die hohen Energiepreise im Blick. Putins Krieg hat sie zuletzt noch weiter steigen lassen. Deshalb haben wir in dieser Woche ein Entlastungspaket vereinbart, mit der Abschaffung der EEG-Umlage noch in diesem Jahr, einer Erhöhung der Pendlerpauschale, einem Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüssen für Familien und steuerlichen Entlastungen. Die Bundesregierung wird das schnell auf den Weg bringen. Unsere Botschaft ist klar: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein.

Europäische Souveränität müsse gestärkt werden

Meine Damen und Herren, die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land. Sie trifft ganz Europa. Und auch darin stecken Herausforderung und Chance zugleich. Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken. Die Chance liegt darin, dass wir die Geschlossenheit wahren, die wir in den letzten Tagen unter Beweis gestellt haben, Stichwort Sanktionspaket.

Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann. Sondern zu fragen: Was ist das Beste, was ist die beste Entscheidung für die Union? Europa ist unser Handlungsrahmen. Nur, wenn wir das begreifen, werden wir vor den Herausforderungen unserer Zeit bestehen.

Und damit bin ich beim fünften und letzten Punkt: Putins Krieg bedeutet eine Zäsur auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch: kein Reden, um des Redens willen. Für echten Dialog braucht es die Bereitschaft dazu auf beiden Seiten. Daran mangelt es aufseiten Putins ganz offensichtlich, und das nicht erst in den letzten Tagen und Wochen.

Was heißt das für die Zukunft? Wir werden uns Gesprächen mit Russland nicht verweigern. Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich.

"Wir stehen ein für den Frieden in Europa"

Meine Damen und Herren, wir wissen, wofür wir einstehen – auch angesichts unserer eigenen Geschichte. Wir stehen ein für den Frieden in Europa. Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik. Wir werden uns immer stark machen für die friedliche Lösung von Konflikten. Und wir werden nicht ruhen, bis der Frieden in Europa gesichert ist.

Und dabei stehen wir nicht allein, sondern zusammen mit unseren Freunden und Partnern in Europa und weltweit. Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen. Ihnen verdanken wir das große Glück, das unser Land seit über 30 Jahren genießt: in einem vereinten Land zu leben, in Wohlstand und Frieden mit unseren Nachbarn.

Wenn wir wollen, dass diese letzten 30 Jahre keine historische Ausnahme bleiben, dann müssen wir alles tun für den Zusammenhalt der Europäischen Union, für die Stärke der Nato, für noch engere Beziehungen zu unseren Freunden, Partnern und Gleichgesinnten weltweit. Ich bin voller Zuversicht, dass uns das gelingt. Denn selten waren wir und unsere Partner so entschlossen und so geschlossen.

Uns eint in diesen Tagen: Wir wissen um die Stärke freier Demokratien. Wir wissen: Was von einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens getragen wird, das hat Bestand – auch in dieser Zeitenwende und darüber hinaus. Und deshalb danke ich Ihnen und allen Fraktionen dieses Hauses, die den russischen Überfall auf die Ukraine entschieden als das verurteilt haben, was er ist: ein durch nichts zu rechtfertigender Angriff auf ein unabhängiges Land, auf die Friedensordnung in Europa und in der Welt. Der heutige Entschließungsantrag bringt das klar zum Ausdruck.

Ich danke allen, die in diesen Tagen Zeichen setzen gegen Putins Krieg. Und die sich hier in Berlin und anderswo zu friedlichen Kundgebungen versammeln. Und ich danke allen, die in diesen Zeiten mit uns einstehen für ein freies und offenes, gerechtes und friedliches Europa. Wir werden es verteidigen.