THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
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DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


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XXXVIII

Meine Leser sind unterrichtet darüber, daß Adrian das jahrelang beharrlich gehegte und geäußerte Anliegen Rudi Schwerdtfegers erfüllt und ihm ein Violinkonzert auf den Leib geschrieben, ihm das glänzende, geigerisch außerordentlich dankbare Stück auch persönlich zugeeignet und ihn sogar nach Wien zur Erstaufführung begleitet hatte. Ich werde an ihrem Ort die Tatsache besprechen, daß er einige Monate später, i. e. gegen Ende 1924, auch den Wiederholungen in Bern und Zürich beiwohnte. Dem zuvor aber möchte ich, in ernstestem Zusammenhang, auf die vielleicht vorlaute, vielleicht mir nicht anstehende Kennzeichnung zurückkommen, die ich weiter oben dieser Komposition zuteil werden ließ, des Sinnes, sie falle durch eine gewisse verbindliche virtuos-konzertante Willfährigkeit der musikalischen Haltung ein wenig aus dem Rahmen von Leverkühns unerbittlich radikalem und zugeständnislosem Gesamtwerk. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß die Nachwelt diesem meinem >Urteil< — mein Gott, ich hasse das

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Wort! — zustimmen wird, und was ich hier tue, ist ja nichts anderes, als ihr seelische Erläuterungen für eine Erscheinung zu geben, zu der ihr sonst der Schlüssel fehlen würde.
Es ist ein Besonderes mit dem Stück: In drei Sätzen geschrieben, führt es kein Vorzeichen, doch sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, drei Tonalitäten darin eingebaut, B-Dur, C-Dur und D-Dur, — von denen, wie der Musiker sieht, das D-Dur eine Art von Dominante zweiten Grades, das B-Dur eine Subdominante bildet, während das C-Dur die genaue Mitte hält. Zwischen diesen Tonarten nun spielt das Werk aufs kunstreichste, so, daß die längste Zeit keine von ihnen klar in Kraft gesetzt, sondern jede nur durch Proportionen zwischen den Klängen angedeutet ist. Durch weite Komplexe hin sind alle drei überlagert, bis endlich, auf eine allerdings triumphale, jedes Konzertpublikum elektrisierende Weise, C-Dur sich offen erklärt. Es gibt da, im ersten Satz, der >Andante amoroso< überschrieben und von einer ständig an der Grenze des Spottes gehaltenen Süße und Zärtlichkeit ist, einen Leitakkord, der für mein Ohr etwas Französisches hat: c-g-e-b-d-fis-a, ein Zusammenklang, der, mit dem hohen f der Geige darüber, wie man sieht, die tonischen Dreiklänge jener drei Haupttonarten in sich enthält. In ihm hat man sozusagen die Seele des Werkes, man hat in ihm auch die Seele des Hauptthemas dieses Satzes, das im dritten, einer bunten Variationenfolge, wieder aufgenommen wird. Es ist ein in seiner Art wundervoller melodischer Wurf, eine rauschende, in großem Bogen sich hintragende, sinnbenehmende Kantilene, die entschieden etwas Etalagehaftes, Prunkendes hat, dazu eine Melancholie, der es an Gefälligkeit, nach dem Sinne des Spielers, nicht fehlt. Das Charakteristisch-Entzückende der Erfindung ist das unerwartete und zart akzentuierte Sichübersteigern der auf einen gewissen Höhepunkt gelangten melodischen Linie um eine weitere Tonstufe, von der sie dann, mit höchstem Geschmack, vielleicht allzuviel Geschmack geführt, zurückflutend sich aussingt. Es ist eine der schon körperlich wirkenden, Haupt und Schultern hinnehmenden, das »Himmlische« streifenden Schönheits-

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manifestationen, deren nur die Musik und sonst keine Kunst fähig ist. Und die Tutti-Verherrlichung eben dieses Themas im letzten Teil des Variationensatzes bringt den Ausbruch ins offene C-Dur. Dem Eckt voran geht eine Art von kühnem Anlauf in dramatischem Parlando-Charakter, — eine deutliche Reminiszenz an das Rezitativ der Primgeige im letzten Satz von Beethovens a-Moll-Quartett, — nur daß auf die großartige Phrase dort etwas anderes folgt als eine melodische Festivität, in der die Parodie des Hinreißenden ganz ernst gemeinte und darum irgendwie beschämend wirkende Leidenschaft wird.
Ich weiß, daß Leverkühn, ehe er das Stück komponierte, die Violinbehandlung bei Beriot, Vieuxtemps und Wieniawski genau studiert hat, und in einer halb respektvollen, halb karikaturistischen Weise wendet er sie an, — übrigens unter solchen Zumutungen an die Technik des Spielers, besonders in dem äußerst ausgelassenen und virtuosen Mittelsatz, einem Scherzo, worin sich ein Zitat aus Tartini's Teufelstriller-Sonate findet, daß der gute Rudi sein Äußerstes aufzubieten hatte, um den Anforderungen gerecht zu werden: Der Schweiß perlte jedesmal, wenn er die Aufgabe durchgeführt, unter seinem lockig aufstrebenden Blondhaar, und das Weiße seiner hübschen zyanenblauen Augen war von rotem Geäder durchzogen. Aber wieviel Schadloshaltung, freilich, wieviel Gelegenheit zum >Flirt< in einem gesteigerten Sinn des Wortes war ihm gewährt in einem Werk, das ich in das Gesicht des Meisters hinein »die Apotheose der Salonmusik« genannt habe, im voraus gewiß, daß er mir die Kennzeichnung nicht verübeln, sondern sie mit Lächeln aufnehmen werde.
Ich kann an das hybride Erzeugnis nicht denken, ohne mich eines Gesprächs zu erinnern, dessen Schauplatz die Wohnung des Fabrikanten Bullinger in der Widenmayerstraße zu München war: die Beletage des von ihm erbauten herrschaftlichen Mietshauses, unter deren Fenstern, in wohlreguliertem Bett, die Isar ihr unverdorbenes Bergwasserrauschen betrieb. Man hatte bei dem reichen Mann um sieben Uhr zu etwa fünfzehn Gedecken diniert: Er führte mit Hilfe eines geschulten Personals

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und unter dem Vorsitz einer Hausdame von gezierten Sitten, die geheiratet zu werden wünschte, ein gastfreies Haus, und meist machten Leute der Finanz- und Geschäftswelt seine Gesellschaft aus. Aber man weiß ja, daß er es liebte, sich schwadronierend ins geistige Leben zu mischen, und so gab es in seinen komfortablen Räumen auch Abende, zu denen künstlerische und gelehrte Elemente sich zusammenfanden, — niemand, auch ich nicht, wie ich gestehe, sah einen Grund, die kulinarischen Annehmlichkeiten seiner Empfänge und den eleganten Rahmen zu verschmähen, den seine Salons für eine anregende Unterhaltung boten.
Dieses Mal waren Jeannette Scheurl, Herr und Frau Knöterich, Schildknapp, Rudi Schwerdtfeger, Zink und Spengler, der Numismatiker Kranich, der Verleger Radbruch und Gattin, die Schauspielerin Zwitscher, die Lustspiel-Autorin aus der Bukowina, Binder-Majoresku mit Namen, dazu ich und meine liebe Frau zugegen; aber auch Adrian war gekommen: auf gutes Zureden, dessen außer mir auch Schildknapp und Schwerdtfeger sich befleißigt hatten. Ich untersuche nicht, wessen Bitte den Ausschlag gegeben hatte, und bilde mir keinesfalls ein, daß es die meine gewesen war. Da er mit Jeannetten zu Tische saß, deren Nähe ihm immer wohltätig war, und da auch sonst vertraute Gesichter ihn umgaben, so schien er seine Nachgiebigkeit nicht zu bereuen, sondern sich während der drei Stunden seines Verweilens ganz wohl zu behagen, wobei ich wieder einmal mit stiller Heiterkeit beobachtete, mit welcher unwillkürlichen, rational bei den wenigsten recht begründeten Zuvorkommenheit und mehr oder weniger scheuen Ehrerbietung man dem doch erst Achtunddreißigjährigen in Gesellschaft begegnete. Die Erscheinung, sage ich, erheiterte mich — und ergriff mein Herz auch wieder auf eine beklemmend-sorgenvollere Weise; denn der Grund für das Verhalten der Leute war ja die Atmosphäre unbeschreiblicher Fremdheit und Einsamkeit, die ihn in wachsendem Maß — in diesen Jahren immer fühlbarer und distanzierender — umgab, und die einem wohl das Gefühl geben ^konnte, als käme er aus einem Lande, wo sonst niemand lebt.

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Diesen Abend, wie gesagt, gab er sich recht bequem und gesprächig, woran ichBullingers mitAngostura gewürztem Champagner-Cocktail und seinem wundervollen Pfälzer einiges Verdienst zuschreibe. Er unterhielt sich mit Spengler, dem es schon recht schlecht ging (sein Leiden hatte sich aufs Herz geworfen), und belachte, wie wir alle, die Clownereien Leo Zinks, der sich bei Tische, zurückgelehnt, mit seiner riesigen Damast-Serviette wie mit einem Bettlaken bis zu seiner grotesken Nase zudeckte und friedlich die Hände darüber faltete. Noch mehr erheiterte ihn die Fertigkeit des Spaßmachers, sich bei der Vorführung eines Stillebens von Bullinger, der in Öl dilettierte, um jedes Urteil zu drücken und ein solches auch uns anderen zu ersparen, indem er das gutgemeinte Stück Malerei mit tausend Jessas-Rufen, die das Verschiedenste bedeuten konnten, von allen Seiten betrachtete und es einmal sogar umdrehte. Übrigens war dieses Sich-Ergehen in erstaunten und zu nichts verpflichtenden Ausrufen auch die Technik des im Grunde nicht angenehmen Mannes, sich an Gesprächen zu beteiligen, die seinen Kunstmaler- und Karnevalisten-Horizont überschritten, und eine Weile übte er sie sogar bei der einen ästhetisch-moralischen Fragenbezirk berührenden Unterhaltung, die ich im Sinne habe.
Sie entspann sich im Anschluß an mechanisch-musikalische Darbietungen, mit denen der Hausherr uns nach dem Kaffee regalierte, während man fortfuhr, zu rauchen und Likör zu trinken. Damals hatte die Grammophon-Platte angefangen, eine sehr glückliche Entwicklung zu nehmen, und Bullinger ließ aus seinem kostbaren Schrank-Apparat mehreres Genußreiche erschallen: den wohlgespielten Walzer aus Gounods >Faust<, wie ich mich erinnere, zuerst, an dem Baptist Spengler nur auszusetzen hatte, daß er als Melodie eines Volkstanzes auf der Wiese entschieden zu elegant und salonmäßig sei. Man kam überein, daß dieser Stil viel besser passe im Falle der reizenden Ball-Musik in Berlioz' Phantastischer Symphonie<, und fragte nach dem Stück. Die Platte war nicht da. Dafür pfiff Schwerdtfeger die Melodie mit unfehlbaren Lippen, im Violin-Timbre,

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rein und vorzüglich, und lachte über den Applaus, indem er nach seiner Art die Schultern in den Kleidern rückte und einen Mundwinkel grimassierend nach unten zog. Zum Vergleich dann mit dem Französischen verlangte man nach dem Wiener Tonfall, nach Lanner und Johann Strauß dem Jüngeren, und unser Gastgeber spendete bereitwillig aus seinem Fundus, bis eine Dame — ich weiß noch genau, daß es Frau Radbruch, die Frau des Verlegers, war — zu bedenken gab, ob man mit all diesem leichtfertigen Zeug den unter uns anwesenden großen Komponisten nicht langweile. Sie fand besorgte Zustimmung, nach der Adrian sich erstaunt umhörte, da er die Frage nicht aufgefaßt hatte. Als man sie ihm wiederholte, protestierte er lebhaft. Um Gottes willen, nein, das sei ein Mißverständnis. Niemand könne an diesen in ihrer Art meisterhaften Dingen mehr Vergnügen haben als er.
»Sie unterschätzen meine musikalische Erziehung«, sagte er. »Ich hatte in zarter Jugend einen Lehrer« (und er blickte mit seinem schönen, feinen und tiefen Lächeln zu mir herüber), »einen mit allem Klangwerk der Welt vollgepfropften und davon überquellenden Enthusiasten, der zu verliebt war in jeden, aber auch jeden organisierten Lärm, als daß man irgendwelche Hochnäsigkeit, irgendein Sich-für-zu-gut-Halten in musikalischen Dingen von ihm hätte lernen können. Ein Mann, der sehr wohl Bescheid wußte im Hohen und Strengen. Aber für ihn war Musik — Musik, wenn es eben nur welche war, und gegen das Wort von Goethe: >Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten< fand er einzuwenden, daß das Leichte auch schwer ist, wenn es gut ist, was es ebensowohl sein kann wie das Schwere. Davon ist etwas bei mir hängengeblieben, ich habe es von ihm. Allerdings habe ich ihn immer dahin verstanden, daß man sehr sattelfest sein muß im Schweren und Guten, um es so mit dem Leichten aufzunehmen.«
Ein Schweigen ging durch das Zimmer. Im Grunde hatte er gesagt, daß er ganz allein das Recht habe, sich an den dargebotenen Gefälligkeiten zu freuen. Man versuchte, es nicht so zu verstehen, argwöhnte aber, daß er es gemeint hatte. Schild-

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knapp und ich sahen uns an. Dr. Kranich machte »Hm«. Jeannette sagte leise: »Magnifique!« Leo Zink ließ sein dummüberwältigtes, eigentlich hämisches »Jessas na!« vernehmen. »Echt Adrian Leverkühn!« rief Schwerdtfeger, rot im Gesicht von zahlreichen Vieilles Cures, aber nicht nur davon. Ich wußte, daß er sich heimlich gekränkt fühlte.
»Sie haben nicht zufällig«, fuhr Adrian fort, »die Des-DurArie der Delila aus >Samson< von Saint-Saens in Ihrer Sammlung?« Die Frage war an Bullinger gerichtet, dem es die größte Genugtuung bereitete, zurückrufen zu können:
»Ich? Die Arie nicht haben? Mein Lieber, Sie denken wohl dies und das von mir! Hier ist sie, — und gar nicht >zufällig<, wie ich Sie versichern kann!«
Darauf Adrian: »Ah, gut. Es kommt mir in den Sinn, weil Kretzschmar — das war mein Lehrer, ein Organist, ein Fugenmensch, müssen Sie wissen — ein eigentümlich leidenschaftliches Verhältnis zu dem Stück, ein wahres faible dafür hatte. Nebenbei konnte er auch darüber lachen, aber das wollte nichts gegen seine Bewunderung sagen, die vielleicht nur dem Beispielhaften der Sache galt. Silentium.«
Die Nadel griff an. Bullinger senkte den schweren Deckel darüber. Durch das Schallgitter strömte ein stolzer Mezzosopran, der sich um gute Aussprache nicht viel kümmerte: Man verstand das »Mon cceur s'ouvre ä ta voix« und dann kaum noch etwas, aber der Gesang, leider von einem etwas winselnden Orchester begleitet, war wundervoll in seiner Wärme, Zärtlichkeit, dunklen Glückesklage, wie die Melodie, die ja in beiden gleichgebauten Strophen der Arie erst in der Mitte zu ihrem vollen Schönheitsgange ansetzt und ihn betörend vollendet, besonders das zweite Mal, wo die Geige, nun doch ganz klangvoll, die üppige Gesangslinie genußreich mitzieht und ihre Schlußfigur in wehmütig zartem Nachspiel repetiert.
Man war ergriffen. Eine Dame tupfte sich mit dem gestickten Ausgeh-Tüchlein ein Auge. »Blödsinnig schön!« sagte Bullinger, einer unter Ästheten seit längerem beliebten und

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stehenden Redensart sich bedienend, die das schwärmerische Urteil »schön« derb-kennerhaft ernüchterte. Man konnte wohl sagen, daß sie hier ganz exakt und nach dem Wortsinn am Platze war, und das mochte es sein, was Adrian erheiterte.
»Nun also!« rief er lachend. »Sie verstehen nun, daß ein ernster Mann imstande ist, die Nummer anzubeten. Geistige Schönheit ist das zwar nicht, sondern exemplarisch sinnliche. Aber vor dem Sinnlichen soll man sich am Ende weder fürchten noch schämen.«
»Vielleicht doch«, ließ Dr. Kranich, der Direktor des Münzkabinetts, sich vernehmen. Er sprach, wie immer, außerordentlich distinkt, fest, klar artikuliert und verständig, obgleich sein Atem dabei vor Asthma pfiff. »In der Kunst vielleicht doch. Auf diesem Gebiet darf oder soll man sich wohl in der Tat vor dem Nichts-als-Sinnlichen fürchten und sich seiner schämen, denn es ist das Gemeine, nach der Bestimmung des Dichters: "Gemein ist alles, was nicht zum Geiste spricht und kein anderes als ein sinnliches Interesse erregt."«
»Ein nobles Wort«, versetzte Adrian. »Man tut sehr gut, es eine Weile nachklingen zu lassen, bevor man das geringste dagegen erinnert.«
»Und was würden Sie erinnern?« wollte der Gelehrte wissen.
Adrian hatte ein Achselzucken und eine Mundbewegung, die ungefähr ausdrückte: »Ich kann nichts für die Tatsachen«, bevor er sagte:
»Der Idealismus läßt außer acht, daß der Geist durchaus nicht nur von Geistigem angesprochen wird, sondern von der animalischen Schwermut sinnlicher Schönheit aufs tiefste ergriffen werden kann. Sogar der Frivolität hat er schon Huldigungen dargebracht. Philine ist doch am Ende nur ein Hürchen, aber Wilhelm Meister, der seinem Autor nicht gar fernsteht, zollt ihr eine Achtung, mit der die Gemeinheit sinnlicher Unschuld offen geleugnet wird.«
»Die Betulichkeit und die Duldsamkeit gegen das Zweideutige«, erwiderte der Numismatiker, »sind nie als die vorbildlichsten Züge im Charakter unseres Olympiers angesehen

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worden. Im übrigen kann man wohl eine Gefahr für die Kultur darin sehen, wenn der Geist vor dem Gemein-Sinnlichen ein Auge zudrückt oder gar damit blinzelt.«
»Wir denken offenbar verschieden über die Gefahr.«
»Nennen Sie mich doch gleich einen Hasenfuß!«
»Bewahre Gott! Ein Ritter der Furcht und des Tadels ist kein Feigling, sondern eben ein Ritter. Alles, wofür ich eine Lanze brechen möchte, ist eine gewisse Großzügigkeit in Dingen künstlerischer Moralität. Man gewährt sie, oder gönnt sie sich, wie mir scheint, in anderen Künsten bereitwilliger als in der Musik. Das mag recht ehrenvoll sein für diese, aber es verengt ihr bedenklich das Lebensfeld. Was bleibt von dem ganzen Kling-Klang denn übrig, wenn man den rigorosesten geistigmoralischen Maßstab anlegt? Ein paar reine Spektren von Bach. Es bleibt vielleicht überhaupt nichts Hörbares übrig.«
Der Diener kam mit Whisky, Bier und Sodawasser auf riesigem Teebrett.
»Wer wollte den Spielverderber machen«, sagte Kranich noch und wurde dafür von Bullinger mit schallendem Bravo! auf die Schulter geschlagen. Für mich, und wohl noch für einen und den anderen unter den Gästen, war der Wortwechsel ein rasch aufspringendes Duell zwischen gestrenger Mittelmäßigkeit und leidender Tieferfahrenheit im Geiste gewesen. Ich habe aber diese Gesellschaftsszene hier eingeschaltet — nicht nur, weil ich ihre Beziehungen zu dem Konzertstück, an dem Adrian damals arbeitete, so stark empfinde, sondern auch, weil sich mir gleich damals diejenigen auf drängten zu der Person des jungen Mannes, auf dessen hartnäckiges Betreiben es geschrieben wurde, und für den es in mehr als einem Sinn einen Erfolg bedeutete.
Wahrscheinlich ist es mein Schicksal, nur steif und trockengrüblerisch über das Phänomen im Allgemeinen sprechen zu können, das Adrian mir eines Tages als eine erstaunliche und immer etwas unnatürliche Alterierung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich kennzeichnete, — das Phänomen der Liebe. Hemmungen der Ehrfurcht vor dem Geheimnis überhaupt, und

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der persönlichen Ehrfurcht noch obendrein, kommen hinzu, mir den Mund zu verschließen oder doch mich wortkarg zu machen über die dämonisch umwitterte Abwandlung, die jene an und für sich halb wunderbare, der Abgeschlossenheit des Einzelwesens widersprechende Erscheinung hier erfuhr. Immerhin will ich durchblicken lassen, daß eine spezifische Gewitztheit durch mein Altphilologentum es war — durch eine Eigenschaft also, die sonst eher danach angetan ist, gegen das Leben zu verdummen —, welche mich in den Stand setzte, hier überhaupt etwas zu sehen und zu begreifen.
Es kann kein Zweifel bestehen, und mit menschlicher Fassung will es berichtet sein, daß eine unermüdliche, durch nichts abzuschreckende Zutraulichkeit über sprödeste Einsamkeit schließlich den Sieg davongetragen hatte, — einen Sieg, der bei der polaren — ich betone das Wort: der polaren Verschiedenheit der Partner, dem geistigen Abstande zwischen ihnen, nur einen bestimmten Charakter haben konnte, und der, koboldhafterweise, immer auch in diesem Sinn angestrebt worden war. Es ist mir vollkommen klar, daß für Schwerdtfegers Flirtnatur die Überwindung der Einsamkeit durch die Zutraulichkeit, bewußt oder unbewußt, von Anfang an diese besondere Meinung und Färbung gehabt hatte, — womit nicht gesagt ist, daß sie der edleren Motive ermangelte. Im Gegenteil: es war dem Werber ganz ernst, wenn er davon sprach, wie notwendig zur Ergänzung seiner Natur ihm Adrians Freundschaft sei, wie sie ihn fördere, hebe, bessere; nur daß er unlogisch genug war, zu ihrer Eroberung die angeborenen Mittel des Flirts spielen zu lassen, — und sich dann gekränkt zu fühlen, wenn die schwermütige Neigung, die er erregte, die Merkmale erotischer Ironie nicht verleugnete.
Das Merkwürdigste und Ergreifendste für mich bei alldem war es, mit Augen zu sehen, wie der Eroberte nicht gewahr wurde, daß er behext worden war, sondern sich eine Initiative zuschrieb, die doch ganz und gar dem anderen Teil gehörte; wie er voll phantastischen Staunens schien über ein freimütig nichtachtendee Eingehen und Entgegenkommen, dem doch eher

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der Name der Verführung gebührte. Ja, er sprach von dem Wunder der Unbeirrbarkeit, Unverwirrbarkeit durch Melancholie und Gefühl, und ich habe wenig Zweifel, daß diese >Verwunderung< zurückging bis auf jenen schon fernen Abend, wo Schwerdtfeger in seinem Zimmer erschienen war, um ihn in die Gesellschaft zurückzubitten, die ohne ihn so langweilig sei. Und doch waren bei diesem sogenannten Wunder wirklich auch immer die wiederholt gerühmten edlen, künstlerisch freien und anständigen Charaktereigenschaften des armen Rudi im Spiele. Ein Brief ist vorhanden, den Adrian etwa um die Zeit jener Abendunterhaltung bei Bullinger an Schwerdtfeger schrieb, und den dieser selbstverständlich hätte vernichten sollen, den er aber, teils aus Pietät, teils gewiß auch als Trophäe, aufbewahrt hatte. Ich lehne es ab, daraus zu zitieren, sondern will ihn nur als ein menschliches Dokument bezeichnen, das wie das Entblößen einer Wunde wirkt, und in dessen schmerzlicher Unverhülltheit der Schreibende wohl gar ein großes Wagnis erblickte. Es war keines. Aber schön war doch die Art, wie sich erwies, daß es keines war. Sofort, eiligst, ohne jede quälende Verzögerung, erfolgte damals ein Besuch des Empfängers in Pfeiffering, eine Aussprache, die Versicherung ernstlichster Dankbarkeit — eine einfache, kühne und treuherzig-zarte Verhaltensweise offenbarte sich, eifrig darauf bedacht, jeder Beschämung vorzubeugen . . . Ich muß das loben, ich kann nicht umhin, es zu tun. Und mit einer Art von Billigung vermute ich, daß bei dieser Gelegenheit die Ausarbeitung und Zueignung des Violinkonzerts beschlossen wurde.
Es führte Adrian nach Wien. Es führte ihn danach, zusammen mit Rudi Schwerdtfeger, auf das ungarische Gutsschloß. Als sie von dort zurückkehrten, erfreute Rudolf sich des Prärogativs, das bisher, von Kindheits wegen, ausschließlich mir gehört hatte: er und Adrian nannten einander du.

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XXXIX

Armer Rudi! Kurz war der Triumph deiner kindischen Dämonie, denn sie hatte sich in dem Kraftfeld einer tieferen, verhängnisstärkeren verfangen, die sie schleunigst brach, verzehrte, zunichte machte. Unseliges »Du«! Weder kam es der blauäugigen Belanglosigkeit zu, die es für sich gewann, noch konnte derjenige, der sich dazu herbeiließ, umhin, die — mag sein — beglückende Erniedrigung zu rächen, die ihm damit geschehen war. Die Rache war unwillkürlich, prompt, kaltblickend und geheimnisvoll. Ich erzähle, ich erzähle.
In den letzten Tagen des Jahres 1924 fanden in Bern und Zürich Wiederholungen des erfolgreichen Violinkonzerts statt, im Rahmen zweier Veranstaltungen des Schweizer >Kammer-Orchesters<, dessen Dirigent, Herr Paul Sacher, Schwerdtfeger unter sehr angenehmen Bedingungen dazu eingeladen hatte, nicht ohne den Wunsch auszudrücken, der Komponist möge den Aufführungen durch seine Gegenwart ein besonderes Ansehen geben. Adrian widerstrebte; aber Rudolf wußte zu bitten, und das junge »Du« hatte damals Kraft genug, dem, was da kommen sollte, den Weg zu bahnen.
Das Konzert, im Zentrum eines Programms stehend, das deutsche Klassik und Zeitgenössisch-Russisches einschloß, bewährte, dank der alles aufbietenden Hingabe des Solisten, in den beiden Städten, im Saal des Berner Konservatoriums und in der Tonhalle von Zürich, seine Eigenschaften, die geistigen und die kaptivierenden, aufs neue. Die Kritik vermerkte eine gewisse Uneinheitlichkeit des Stiles, ja des Niveaus, und auch das Publikum verhielt sich ein wenig spröder als das Wiener, bereitete aber doch nicht nur den Ausführenden lebhafte Ovationen, sondern bestand an beiden Abenden auch auf dem Erscheinen des Autors, der seinem Interpreten den Gefallen tat, Hand in Hand mit ihm wiederholt für den Beifall zu danken. Dies zweimalig-einmalige Vorkommnis also, das persönliche Sichpreisgeben der Einsamkeit vor der Menge, habe ich ver-

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säumt. Ich war davon ausgeschlossen. Wer ihm das zweite Mal, in Zürich, beiwohnte und mir davon erzählte, war Jeannette Scheurl, die sich gerade in dieser Stadt aufhielt und mit Adrian auch in dem Privathause zusammentraf, dessen Logiergäste er und Schwerdtfeger waren.
Es war das in der Mythenstraße, nahe dem See gelegene Heim des Herrn und der Frau Reiff, eines reichen, kinderlosen und kunstfreundlichen, schon betagten Ehepaars, das sich von jeher ein Vergnügen daraus machte, durchreisenden Künstlern von Rang ein gepflegtes Asyl zu bieten und sie gesellschaftlich zu unterhalten. Der Mann, ein von den Geschäften ausruhender ehemaliger Seiden-Industrieller und Schweizer von altdemokratischem Schrot und Korn, hatte ein Glasauge, das seinen bärtigen Zügen eine gewisse Starrheit verlieh, — ein täuschender Eindruck, denn er war einem liberalen Frohsinn zugetan und liebte nichts mehr, als mit Damen des Theaters, Heroinen oder Soubretten, in seinem Salon zu scharmutzieren. Auch ließ er sich bei seinen Empfängen zuweilen nicht übel auf dem Cello hören, pianistisch begleitet von seiner Frau, die aus dem Reiche stammte und einst dem Gesang obgelegen hatte. Sie ermangelte seines Humors, stellte aber eine energisch-wirtliche Bürgerin vor, welche in dem Gefallen daran, den Ruhm zu beherbergen und den sorglosen Geist des Virtuosentums in ihren Räumen walten zu lassen, mit ihrem Gatten durchaus übereinstimmte. In ihrem Boudoir war ein ganzer Tisch mit den Widmungsphotographien europäischer Zelebritäten bedeckt, die sich der Reiffsschen Gastlichkeit dankbar verschuldet nannten.
Das Paar hatte Schwerdtfegern zu sich gebeten, bevor noch sein Name in den Blättern erschienen war, denn als Mäzen mit offener Hand war der alte Industrielle über musikalisch Bevorstehendes früher unterrichtet als alle Welt; und sie hatten ungesäumt die Einladung auf Adrian ausgedehnt, sobald ihnen sein Kommen bekannt geworden. Die Wohnung war weitläufig, sie bot reichlichen Gastraum, und tatsächlich fanden die von Bern Eintreffenden Jeannette Scheurl schon an Ort und

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Stelle vor, die, wie alljährlich einmal, gleich für ein paar Wochen dort freundschaftlich einsaß. Doch war nicht sie es, neben der, bei dem Souper, das nach dem Konzert einen kleinen Kreis Zugehöriger im Speisezimmer der Reiffs vereinigte, Adrian seinen Platz hatte.
Die Spitze hielt der Hausherr, der einem alkoholfreien Getränk aus wundervoll geschliffenem Glase zusprach und starren Angesichts mit der dramatischen Sopranistin des Stadttheaters an seiner Seite scherzte, einer machtvollen Frau, die sich im Lauf des Abends viel mit der geballten Faust auf den Busen schlug. Noch eiri anderes Mitglied der Oper war da, der Helden-Bariton, Balte von Geburt, ein langer, dröhnend, aber intelligent redender Mann. Ferner, versteht sich, der Veranstalter des Konzert-Abends, Kapellmeister Sacher, dazu Dr. Andreae, ständiger Dirigent der Tonhalle, und der vortreffliche Musik-Referent der >Neuen Zürcher Zeitung<, Dr. Schuh, — alle diese mit ihren Damen. Am anderen Ende der Tafel saß rüstig Frau Reiff zwischen Adrian und Schwerdtfeger, die zu weiteren Nachbarinnen links und rechts ein junges, oder noch junges, und beruflich tätiges Mädchen, Mademoiselle Godeau, französische Schweizerin, und ihre Tante hatten, eine grundgutmütige, fast russisch anmutende alte Dame mit Schnurrbärtchen, die von Marie (dies der Vorname der Godeau) »ma tante« oder »Tante Isabeau« angeredet wurde und allem Anschein nach als Gesellschafterin, Wirtschafterin, Ehrendame mit der Nichte lebte.
Von dieser ein Bild zu geben, bin ich wohl berufen, da wenig später aus guten Gründen mein Auge lange in angelegentlicher Prüfung auf ihr ruhte. Wenn je das Wort >sympathisch< unentbehrlich gewesen ist zur Kennzeichnung einer Person, so bei der Beschreibung dieses Frauenzimmers, das von Kopf zu T-uß in jedem Zuge, mit jedem Wort, jedem Lächeln, jeder Wesensäußerung den geruhig-unüberschwenglichen, ästhetischmoralischen Sinn dieses Wortes erfüllte. Daß sie die schönsten schwarzen Augen von der Welt hatte, stelle ich voran, — schwarz wie Jett, wie Teer, wie reife Brombeeren, Augen, nicht gar

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groß, aber von offenem, in seiner Dunkelheit klarem und reinem Aufblick, unter Brauen, deren feine, ebenmäßige Zeichnung sowenig mit Kosmetik zu schaffen hatte wie das mäßige Lebensrot der sanften Lippen. Es war nichts Künstliches, keine nachziehende, untermalende, färbende Aufmachung an dem Mädchen. Die natürlich-sachliche Annehmlichkeit, mit welcher etwa ihr dunkelbraunes, im Nacken schweres, die Ohren frei lassendes Haar aus der Stirn und von den zarten Schläfen zurückgenommen war, gab auch ihren Händen das Gepräge, — verständig schönen, keineswegs sehr kleinen, aber schlanken und dünnknochigen Händen, an den Gelenken schlicht umspannt von den Manschetten einer weißen Seidenbluse. So war von glattem Kragen der Hals umschlossen, der schlank und wie eine Säule rund, in der Tat wie gemeißelt, daraus emporstieg, gekrönt von dem lieblich zugespitzten Oval des elfenbeinfarbenen Gesichts mit dem feinen und wohlgeformten, durch lebhaft geöffnete Nüstern auffallenden Naschen. Ihr nicht eben häufiges Lächeln, ihr noch selteneres Lachen, das immer eine gewisse rührende Anstrengung der wie durchsichtigen Schläfenpartie mit sich brachte, entblößte den Schmelz dicht und ebenmäßig gestellter Zähne.
Man wird es verstehen, daß ich mit Liebe und Fleiß die Erscheinung der Frau heraufzurufen suche, mit der Adrian kurze Zeit die Ehe einzugehen gedachte. In jener weißseidenen Gesellschaftsbluse, die die Dunkelheit ihres Typs wohl allerdings mft einer gewissen Bewußtheit hob, habe auch ich Marie zuerst gesehen, vorwiegend dann aber in einer ihr eher noch bekömmlicheren einfachen Alltags- und Reisetracht aus dunkelschottischem Stoff mit Lackgürtel und Perlmutterknöpfen, — auch wohl in einem darübergezogenen knielangen Arbeitskittel, den sie anlegte, wenn sie an ihrem Reißbrett mit Graphit- und Buntstiften hantierte. Denn sie war Zeichnenn — Adrian war schon im voraus durch Frau Reiff darüber informiert worden —, entwerfende Künstlerin, die für kleinere Pariser Opern- und Singspielbühnen, die >Gaite Lyrique<, das alte >Theätre du Trianon<, Figurinen, Kostüme, Szenenbilder erfand und ausarbeitete,

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die dann den Schneidern und Dekorationsmalern als Vorlage dienten. So beschäftigt, lebte die aus Nyon am Genfer See Gebürtige mit Tante Isabeau in den winzigen Räumen einer Wohnung der Ile de Paris. Der Ruf aber ihrer Tüchtigkeit, Erfindungsgabe, kostümgeschichtlichen Sachverständigkeit und ihres delikaten Geschmacks war im Wachsen, und nicht nur hatte ihr Aufenthalt in Zürich beruflichen Hintergrund, sondern sie erzählte ihrem Tischnachbarn zur Rechten auch, daß sie in einigen Wochen nach München kommen werde, dessen Schauspielhaus sie mit der Ausstattung einer modernen Stil-Komödie betrauen wolle.
Adrian teilte seine Aufmerksamkeit zwischen ihr und der Hausfrau, während ihm gegenüber der müde, aber glückliche Rudi mit »ma tante« schäkerte, die beim Lachen sehr leicht gutmütige Tränen vergoß und sich öfters gegen ihre Nichte vorbeugte, um ihr, nassen Angesichts und mit schluchzender Stimme, von den Redereien ihres Nachbarn etwas zu wiederholen, das sie ihrer Meinung nach unbedingt hören mußte. Marie nickte ihr dann freundlich zu, froh offenbar, daß sie sich so gut unterhielt, und ihre Augen verweilten mit einer gewissen dankbaren Anerkennung auf dem Spender dieser Heiterkeit, der es sich wohl angelegen sein ließ, das Bedürfnis der alten Dame nach Weitergabe seiner Scherze einmal mehr und nochmals zu erregen. Mit Adrian sprach die Godeau, seinen Erkundigungen willfahrend, über ihre Pariser Tätigkeit, über junge Erzeugnisse des französischen Balletts und der Oper, die ihm nur zum Teil bekannt waren, Werke von Poulenc, Auric, Rieti. Man erwärmte sich im Austausch über Ravels >Daphnis und Chloe< und die >Jeux< von Debussy, über Scarlatti's Musik zu den >Gut gelaunten Frauen< von Goldoni, Cimarosa's >Heimliche Ehe< und >Die mangelnde Erziehung< von Chabrier. Zu einem und dem anderen dieser Stücke hatte Marie eine neue Ausstattung entworfen und machte einzelne szenische Lösungen durch skizzierende Bleistiftstriche auf ihrer Tischkarte klar. Saul Fiteiberg kannte sie wohl, — aber gewiß! Hier war es, wo der Schmelz ihrer Zähne erglänzte, ein herzliches

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Lachen ihre Schläfen so lieblich bemühte. Ihr Deutsch war mühelos, mit leichtem, reizendem Fremdakzent; ihre Stimme von warmem, gewinnendem Timbre, eine Gesangsstimme, ein >Material< zweifellos, — um genau zu sein: sie war nach Lage und Farbe der Stimme Elsbeth Leverkühns nicht nur ähnlich, sondern man glaubte zuweilen wirklich, die Stimme von Adrians Mutter zu hören, wenn man ihr lauschte.
Eine Gesellschaft von immerhin fünfzehn Personen, wie diese, pflegt nach Auflösung der Tischordnung abweichende Gruppen zu bilden, die Berührung zu variieren. Adrian wechselte nach dem Souper mit Marie Godeau kaum noch ein Wort. Die Herren Sacher, Andreae und Schuh, dazu Jeannette Scheurl hielten ihn länger in einer Unterhaltung über Züricher und Münchener musikalische Angelegenheiten fest, während die Pariser Damen mit den Opernsängern, dem Gastgeberpaar und Schwerdtfeger um den Tisch mit dem kostbaren Sevres-Service saßen und mit Erstaunen den alten Herrn Reiff eine Schale starken Kaffees nach der anderen leeren sahen, was er, mit schweizerisch gewichtigen Worten, auf ärztliches Anraten, zur Stärkung seines Herzens und um leichteren Einschlafens willen zu tun erklärte. Die drei Logier-Gäste zogen sich sogleich nach Weggang der auswärtigen zurück. Mademoiselle Godeau wohnte für mehrere Tage noch mit ihrer Tante im Hotel Eden au Lac. Als Schwerdtfeger, der am nächsten Morgen mit Adrian nach München zurückkehren wollte, beim Abschied sehr lebhaft die Hoffnung ausdrückte, den Damen dort wieder zu begegnen, wartete Marie einen Augenblick, bis Adrian den Wunsch wiederholte, und stimmte dann freundlich zu.

Die ersten Wochen des Jahres 1925 waren vergangen, als ich im Blatte las, daß meines Freundes anziehende Züricher Tischdame in unserer Hauptstadt eingetroffen war, und daß sie — nicht zufällig, denn Adrian hatte mir gesagt, daß er ihr die Adresse empfohlen habe — mit ihrer Tante in derselben Schwabinger Pension, wo er nach seiner Rückkehr von Italien einige Tage gewohnt hatte, der >Pension Gisella<, abgestiegen war.

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Das Schauspielhaus hatte, um das Interesse seines Publikums an der bevorstehenden Premiere zu steigern, die Nachricht lanciert, und gleich darauf wurde sie uns durch eine Einladung der Schlaginhaufens bestätigt, mit der bekannten Ausstattungskünstlerin bei ihnen den nächsten Samstagabend zu verbringen.
Die Spannung, mit der ich diesem Zusammensein entgegensah, kann ich nicht beschreiben. Erwartung, Neugier, Freude, Beklemmung mischten sich in meinem Gemüt zu tiefer Erregung. Warum? Nicht — oder nicht nur — weil Adrian nach seiner Rückkehr von jener Schweizer Kunstreise mir unter anderem von seiner Begegnung mit Marien erzählt und mir von ihrer Person eine Schilderung gegeben hatte, die, als gelassene Feststellung, die Ähnlichkeit ihrer Stimme mit der seiner Mutter einschloß, mich aber auch sonst sogleich hatte aufhorchen lassen. Gewiß war es kein enthusiastisches Portrait, das er mir lieferte, im Gegenteil waren seine Worte still und beiläufig, seine Miene unbewegt dabei und abseits in den Raum blickend. Daß aber die Bekanntschaft Eindruck auf ihn gemacht hatte, erhellte schon daraus, daß ihm der Vor- und Zunamen des Mädchens geläufig war — ich sagte ja, daß er in größerer Gesellschaft selten den Namen dessen wußte, mit dem er sprach —, und über die bloße Erwähnung ging sein Bericht entschieden hinaus.
Es kam jedoch etwas anderes hinzu, was mir das Herz so eigentümlich, in Freude und Zweifel schlagen ließ. Bei meinem nächsten Besuch in Pfeiffering nämlich ließ Adrian Bemerkungen fallen, des Sinnes, vielleicht habe er nun die längste Zeit hier gehaust, Veränderungen in seinem äußeren Leben stünden möglicherweise bevor; mit der Einzelgängerei möchte es allenfalls bald ein Ende nehmen; er gehe mit der Absicht um, ihr ein Ende zu setzen, etc., — kurzum, Bemerkungen, die nicht anders zu deuten waren, als daß er vorhabe, sich zu verheiraten. Ich hatte den Mut, zu fragen, ob seine Andeutungen mit einem gesellschaftlichen Ungefähr zusammenhingen, das sein Aufenthalt in Zürich mit sich gebracht habe, und er antwortete:
»Wer kann dich hindern, deine Konjekturen zu machen? Übrigens ist

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dies enge Gezimmer gar nicht der rechte Schauplatz dafür. Wenn ich nicht irre, war es der Zionsberg daheim, auf dem du mir einst verwandte Eröffnungen gönntest. Wir hätten auf den Rohmbühel steigen sollen zu unserer Konversation.«
Man stelle sich meine Verblüffung vor!
»Lieber«, sagte ich, »das ist sensationell und ergreifend!«
Er riet mir, meinen Wallungen zu gebieten. Daß er vierzig werde, meinte er, sei am Ende Mahnung genug, den Anschluß nicht zu versäumen. Ich mochte nicht weiter fragen und würde ja sehen. Mir selbst verbarg ich nicht die Freude darüber, daß sein Vorhaben die Lösung aus der elbischen Bindung an Schwerdtfeger bedeutete, und gern wollte ich es als bewußtes Mittel dazu verstehen. Wie der Geiger und Pfeifer seinerseits sich dazu verhalten werde, war eine Nebenfrage, die wenig Beunruhigendes hatte, da jener am Ziel seines knäbischen Ehrgeizes war und sein Konzert dahinhatte. Nach seinem Triumph dachte ich ihn mir bereit, im Leben Adrian Leverkühns wieder einen vernünftigeren Platz einzunehmen. Was mir im Kopfe herumging, war nur Adrians seltsame Art, von seiner Absicht zu sprechen, als hinge ihre Verwirklichung allein von seinem Willen ab, und als habe man sich um die Zustimmung des Mädchens gar nicht zu sorgen. Wie bereit war ich, ein Selbstbewußtsein zu bejahen, das nur wählen, nur das Wort seiner Wahl sprechen zu dürfen glaubte! Und doch war ein Zagen in meinem Herzen ob der Naivität dieses Glaubens, die mir selbst als ein Ausdruck der Einsamkeit und Fremdheit erscheinen wollte, die seine Aura bildeten und mich wider Willen zweifeln ließen, ob dieser Mann geschaffen sei, Frauenliebe auf sich zu ziehen. Wenn ich mir alles gestand, bezweifelte ich sogar, daß er selbst im Grunde an diese Möglichkeit glaubte, und hatte gegen das Gefühl zu kämpfen, daß er es nur absichtlich so hinstellte, als sei sein Erfolg ihm selbstverständlich. Ob die Erwählte vorläufig auch nur eine Ahnung hatte von den Gedanken und Absichten, die er an ihre Person knüpfte, blieb im dunkeln.

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Es blieb im dunkeln für mich auch nach dem Gesellschaftsabend in der Brienner Straße, der mir die Bekanntschaft mit Marie Godeau brachte. Wie wohl sie mir gefiel, entnehme man der Beschreibung, die ich oben von ihr gab. Nicht nur die sanfte Nacht ihres Blickes, von der ich wußte, wie sensitiv Adrian darauf ansprach, ihr reizendes Lächeln, ihre musikalische Stimme nahmen mich für sie ein, sondern auch die freundliche und intelligente Gehaltenheit ihres Wesens, die alles Girrend-Weibchenhafte unter sich lassende Sachlichkeit, Bestimmtheit, ja Kurzangebundenheit der selbständig-werktätigen Frau. Sie mir als Adrians Lebensgefährtin zu denken, beglückte mich, und wohl glaubte ich mich auf das Gefühl zu verstehen, das sie ihm einflößte. Trat nicht in ihr ihm die >Welt<, vor der seine Einsamkeit scheute — auch was man in artistisch-musikalischer Hinsicht >die Welt<, das Außer-Deutsche, nennen mochte, — in ernstest-freundlicher Gestalt, Vertrauen erweckend, Ergänzung verheißend, zur Vereinigung ermutigend entgegen? Liebte er sie nicht aus seiner Oratorienwelt heraus von musikalischer Theologie und mathematischem Zahlenzauber? Es schuf mir hoffnungsvolle Erregung, die beiden Menschen vom selben Raum umschlossen zu sehen, obgleich ich sie nur vorübergehend in persönlicher Berührung sah. Als einmal die gesellschaftliche Fluktuation von ungefähr Marien, Adrian, mich und noch einen Vierten zu einer Gruppe zusammenfügte, entfernte ich mich fast sogleich, in der Hoffnung, daß auch der Vierte so viel Verstand haben werde, seiner Wege zu gehen.
Der Abend bei Schlaginhaufens war kein Diner, sondern ein Neun-Uhr-Empfang mit einem Erfrischungsbuffet in dem an den Säulensalon stoßenden Eßzimmer. Das gesellschaftliche Bild hatte sich seit dem Kriege wesentlich geändert. Kein Baron Riedesel trat länger hier für das >Graziöse< ein; längst war der Klavier spielende Reitersmann in der Versenkung der Geschichte verschwunden, und auch den Urenkel Schillers, Herrn von Gleichen-Rußwurm, gab es nicht mehr, da ein mit närrischer Ingeniosität erdachter, aber mißglückter Betrugsversuch, ^dessen er überwiesen war, ihn aus der Welt verscheucht und

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ihn zum quasi-freiwilligen Arrestanten auf seinem niederbayerischen Gute gemacht hatte. Die Sache war fast nicht zu glauben. Der Baron hatte, angeblich, ein wohlverpacktes und sehr hoch, über seinen Wert, versichertes Schmuckstück zur Umarbeitung an einen auswärtigen Juwelier gesandt, — welcher, als das Paket bei ihm eintraf, nichts darin fand als eine tote Maus. Diese Maus hatte untüchtigerweise die Aufgabe nicht erfüllt, die der Absender ihr zugedacht hatte. Offenbar war die Idee gewesen, daß der Nager sich durch die Hülle beißen und entkommen sollte, — die Illusion erzeugend, daß das Geschmeide durch das Gott weiß wie entstandene Loch gefallen und verlorengegangen sei, womit die Versicherungssumme fällig gewesen wäre. Statt dessen war das Tier verendet, ohne den Ausgang zu schaffen, der das Abhandenkommen des nie hineingelegten Colliers erklärt hätte, — und aufs lächerlichste sah der Erfinder des Schelmenstückes sich bloßgestellt. Möglicherweise hatte er es in einem kulturhistorischen Buche aufgepickt und war ein Opfer seiner Lektüre. Vielleicht aber auch trug ganz allgemein die moralische Verwirrung der Zeit an seiner verrückten Eingebung die Schuld.
Jedenfalls hatte unsere Gastgeberin, die geborene von Plausig, manchen Verzicht leisten und ihr Ideal, die Verbindung von Geburtsadel und Künstlertum, fast gänzlich fallenlassen müssen. An alte Zeiten erinnerte die Gegenwart irgendwelcher ehemaliger Hofdamen, die mit Jeannette Scheurl französisch sprachen. Sonst sah man neben Sternen des Theaters diesen und jenen katholisch-volksparteilichen, ja auch einen namhaften sozialdemokratischen Parlamentarier und ein paar höhere und hohe Funktionäre des neuen Staates, unter denen sich immerhin noch Leute von Familie, wie ein von Grund aus jovialer und zu allem bereiter Herr von Stengel, befanden, — aber auch schon gewisse, der >liberalistischen< Republik tatkräftig abholde Elemente, denen das Vorhaben, die deutsche Schmach zu rächen, und das Bewußtsein, eine kommende Welt zu repräsentieren, in dreisten Zeichen an der Stirn geschrieben stand.
Es ist nicht anders: Ein Beobachter lätte mich mehr mit Marie Godeau und ihrem

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guten Tantchen zusammen gesehen als Adrian, der zweifellos ihretwegen gekommen war und sie auch gleich anfangs mit sichtlicher Freude wieder begrüßt hatte, dann aber sich ganz vorwiegend mit seiner lieben Jeannette und dem sozialdemokratischen Abgeordneten unterhielt, der ein ernstlich bewanderter Bach-Verehrer war. Meine Konzentration wird man, ganz abgesehen von der Annehmlichkeit des Gegenstandes, begreiflich finden nach allem, was Adrian mir vertraut hatte. Rudi Schwerdtfeger war auch mit uns. Tante Isabeau war entzückt, ihn wiederzusehen. Wie in Zürich brachte er sie oft zum Lachen — und Marien zum Lächeln —, hinderte aber nicht ein gesetztes Gespräch, das sich um Pariser und Münchener künstlerische Vorgänge drehte, auch das PolitischEuropäische, die deutsch-französischen Beziehungen streifte, und an dem ganz zum Schluß, schon Abschied nehmend, Adrian sich im Stehen für einige Augenblicke beteiligte. Immer mußte er ja seinen Elf-Uhr-Zug nach Waldshut erreichen, und seine Teilnahme an der Soiree hatte nur knappe anderthalb Stunden gedauert. Wir anderen blieben ein wenig länger.
Dies war, wie gesagt, ein Samstagabend. Einige Tage später, am Donnerstag, hörte ich telephonisch von ihm.


XL

Er rief mich in Freising an, um mich, wie er sagte, um einen Gefallen zu bitten. (Seine Stimme war gedämpft und etwas monoton, sie ließ auf Kopfschmerzen schließen.) Er habe das Gefühl, sagte er, daß man den Damen in der Pension Gisella ein wenig die Honneurs von München machen müsse. Es sei geplant, ihnen einen Ausflug in die Umgebung zu bieten, wozu das schöne Winterwetter ja einlade. Er erhebe keinen Anspruch auf die Autorschaft der Idee, sie sei von Schwerdtfeger ausgegangen. Aber er habe sie aufgegriffen und überlegt. Es komme Füssen in Betracht, mit Neu-Schwanstein. Besser aber t sei vielleicht noch Oberammergau und eine Schlittenfahrt von

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dort nach Kloster Ettal, das er persönlich gern habe, über Schloß Linderhof, eine Kuriosität immerhin, besichtigenswert. Was ich meinte.
Ich hieß den Gedanken selbst und Ettal als Ausflugsziel gut und richtig.
»Natürlich müßt ihr mitkommen«, sagte er, »du und deine Frau. Wir werden es an einem Sonnabend machen — soviel ich weiß, hast du samstags keine Stunden zu geben dieses Semester —, sagen wir also übermorgen in acht Tagen, falls wir nicht gar zu arges Tauwetter bekommen. Ich habe auch Schildknapp schon Bescheid gesagt. Er liebt dergleichen leidenschaftlich und will sich auf Skiern an den Schlitten binden.«
Das alles fand ich vorzüglich.
Er bitte mich nun, folgendes zu verstehen, fuhr er fort. Der Plan sei, wie gesagt, ursprünglich von Schwerdtfeger ausgegangen, aber ich würde wohl Sinn für seinen, Adrians, Wunsch haben, daß man in der Pension Gisella nicht den Eindruck hätte. Er möchte nicht, daß Rudolf dort dazu auffordere, sondern lege einen gewissen Wert darauf, das selber zu tun, — wenn auch wieder nicht allzu direkt. Ob ich so gut sein wolle, die Sache für ihn einzufädeln, — nämlich so, daß ich vor meinem nächsten Besuch in Pfeiffering, übermorgen also, in der Stadt die Damen aufsuchte und ihnen, gewissermaßen als sein Bote, wenn auch nur andeutungsweise als solcher, die Einladung überbrächte.
»Du könntest mich durch diesen Freundschaftsdienst jetzt sehr verpflichten«, schloß er mit sonderbarer Steifheit.
Ich setzte zu Gegenfragen an, unterdrückte sie aber und versprach ihm einfach, nach seinem Wunsche zu tun, versichernd, daß ich mich für ihn und uns alle auf das Unternehmen freute. Das tat ich allerdings. Ernstlich hatte ich mich schon gefragt, wie die Absichten, in die er mich eingeweiht, gefördert, die Dinge in Fluß gebracht werden sollten. Wenig ratsam war es mir vorgekommen, weitere Gelegenheiten zum Zusammensein mit dem Mädchen seiner Wahl dem guten Glück zu überlassen. Die Umstände boten diesem nicht gerade überreichlichen Spiel564

räum. Arrangierende Nachhilfe, Initiative war nötig, und hier war sie. War wirklich Schwerdtf eger ihr Urheber, — oder schob Adrian sie ihm nur zu, aus Scham vor der Rolle des Verliebten, der, sehr entgegen seiner Natur und Lebensstimmung, plötzlich auf Geselligkeiten und Schlittenpartien sann? Tatsächlich erschien mir dies so sehr unter seiner Würde, daß ich wünschte, er hätte die Wahrheit gesagt, als er den Geiger für die Idee verantwortlich machte, — wobei ich aber auch wieder die Frage nicht ganz unterdrücken konnte, ob dieser elbische Platoniker eigentlich ein Interesse an dem Unternehmen hatte.
Gegenfragen? Ich hatte eigentlich nur eine: Warum nämlich Adrian, wenn er Marien wissen zu lassen wünschte, daß er danach trachtete, sie zu sehen, — warum er sich dann nicht direkt an sie wandte, sie anrief, sogar nach München fuhr, bei den Damen einsprach, seine Anregung vorbrachte. Ich wußte damals nicht, daß es sich hier um eine Tendenz, eine Idee, gewissermaßen um die Vorübung zu etwas Späterem handelte, um die Neigung, zu der Geliebten — so muß ich das Mädchen nennen — zu schicken, einen anderen das Wort bei ihr führen zu lassen.
Vorerst war ich es, dem er das Wort anvertraute, und bereitwillig entledigte ich mich meines Auftrages. Es war damals, daß ich Marien in dem weißen, über die kragenlose schottische Bluse gezogenen Arbeitskittel traf, der ihr so gut stand. Ich fand sie an ihrem Zeichenbrett, einer dicken, schräggestellten Holzplatte, an die eine elektrische Lampe geschraubt war, und von der sie sich zu meiner Begrüßung erhob. Wir saßen wohl zwanzig Minuten in dem kleinen Miet-Wohnzimmer der Damen beisammen. Beide zeigten sich entschieden empfänglich für die Aufmerksamkeit, die man ihnen erwies, und begrüßten lebhaft den Ausflugsplan, von dem ich nur iTagte, ich hätte ihn nicht erfunden, — nachdem ich hatte einfließen lassen, daß ich auf dem Wege sei zu meinem Freunde Leverkühn. Sie meinten, ohne solche ritterliche Führung hätten sie vielleicht nie etwas von der berühmten Umgebung Münchens, dem bayerischen Alpenland kennengelernt. Tag

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und Stunde des Treffens, der Abfahrt wurden ausgemacht. Ich konnte Adrian befriedigende Meldung bringen und rapportierte genau, indem ich ein Lob der vorteilhaften Erscheinung Mariens im Arbeitskittel mit einflocht. Er dankte mir mit dem — soviel ich hörte — ohne Ironie gesprochenen Wort:
»Nun sieh, es hat doch sein Gutes, verlässige Freunde zu haben.«
Die Bahnlinie nach dem Passionsdorf, die zum größten Teil dieselbe ist wie nach Garmisch-Partenkirchen und erst zuletzt von ihr abzweigt, führte über Waldshut und Pfeiffering. Adrian wohnte halbwegs zum Ziel, und so waren nur wir anderen es, nur Schwerdtfeger, Schildknapp, die Pariser Gäste, meine Frau und ich, die sich am bestimmten Tage gegen zehn Uhr am Zuge im Münchener Hauptbahnhof zusammenfanden. Ohne den Freund, vorläufig, legten wir die erste Fahrstunde durch das noch flache, gefrorene Land zurück. Sie wurde uns verkürzt durch ein Frühstück von belegten Broten und Tiroler Rotem, das meine Helene vorbereitet hatte, und bei dem Schildknapps humoristisch zur Schau gestellter Eifer, nicht zu kurz zu kommen, uns viel zu lachen gab. »Gebt Knappi«, sagte er (so nannte er anglisierend sich selbst und wurde auch allgemein so genannt), »gebt Knappi nicht knapp!« Seine natürliche, unverhohlene und spaßhaft unterstrichene Lust am Mitzehren war unwiderstehlich komisch. »Ah, schmeckst du prächtig!« ächzte er mit glitzernden Augen, ein Zungenbrot kauend. Und dabei waren seine Scherze ganz unverkennbar in erster Linie für Mademoiselle Godeau bestimmt, die ihm natürlich so gut gefiel wie uns allen. Sie nahm sich höchst vorteilhaft aus in dem olivfarbenen, mit schmalen braunen Pelzstreifen verbrämten Winterkostüm, das sie trug, und mit einer gewissen Folgsamkeit meines Gefühls — einfach weil ich wußte, was an der Reihe war — entzückte ich mich wieder und wieder im Anschauen ihrer schwarzen Augen, diesem pechkohlenhaften und dabei heiteren Glanz in der Dunkelheit der Wimpern.
Als Adrian, von der Corona mit dem Übermut unternehmender Leute begrüßt, in Waldshut zu uns stieg, erfuhr ich

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einen seltsamen Schrecken, — wenn dies Wort meine Empfindungen trifft. Jedenfalls war etwas von Schrecken darin einschlägig. Erst jetzt nämlich wurde mir bewußt, daß in dem Abteil, das wir besetzt hielten, auf engem Raum also (wenn es auch kein Coupe, sondern die offene Sektion eines durchgehenden Waggons zweiter Klasse war), die schwarzen, die blauen und die gleichen Augen, Anziehung und Indifferenz, Erregung und Gleichmut, unter seinen Augen beisammen waren, und daß sie beisammen bleiben würden während dieses ganzen Ausflugstages, der damit gewissermaßen im Zeichen stand dieser Konstellation, vielleicht darin hatte stehen sollen, so daß der Eingeweihte in ihr die eigentliche Idee des Tages erkennen mochte.
Es traf sich natürlich und richtig, daß nach Adrians Hinzukommen die Landschaft draußen sich ins Bedeutendere zu heben und, allerdings aus der Ferne noch, verschneite Hochwelt hereinzublicken begann. Schildknapp tat sich hervor, indem er diese und jene Gipfelwand, die man unterschied, bei Namen zu nennen wußte. Die bayerischen Alpen weisen keine Giganten hehrsten Ranges auf unter ihren Erhebungen, aber es war doch, im reinen Schneekleide, eine kühn und ernst sich aufbauende, zwischen Waldschlucht und Weite wechselnde Winterpracht, in die wir hineinfuhren. Dabei war der Tag bedeckt, zu frostigem Weiterschneien geneigt und sollte sich erst gegen Abend klären. Dennoch galt unsere Aufmerksamkeit meist den Bildern draußen, selbst unterm Gespräch, das von Marie auf das in Zürich gemeinsam Erlebte, den Abend in der Tonhalle, das Violinkonzert gelenkt wurde. Ich beobachtete Adrian in der Unterhaltung mit ihr. Er hatte ihr gegenüber Platz genommen, die zwischen Schildknapp und Schwerdtfeger saß, während das Tantchen sich Helenen und mir in gutmütigem Geplauder widmete. Deutlich konnte ich sehen, wie er sich vor Indiskretion zu hüten hatte beim Anschauen ihres Gesichtes, ihrer Augen. Mit seinen blauen sah Rudolf dieser Versunkenheit, diesem Sichbesinnen, Sichabwenden zu. Hatte es nicht etwas von Trost und Entschädigung, daß Adrian den Geiger

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vor dem Mädchen gar so emphatisch lobte? Da sie sich des Urteils über die Musik bescheiden enthielt, war nur von der Aufführung die Rede, und Adrian erklärte mit Nachdruck, die Anwesenheit des Solisten dürfe ihn nicht hindern, sein Spiel meisterhaft, vollendet, einfach unübertrefflich zu nennen, woran er noch einige sehr warme, ja preisende Worte über Rudi's künstlerische Entwicklung im allgemeinen und seine zweifellos große Zukunft schloß.
Der Gefeierte schien das nicht hören zu können, rief »Na, na!« und »Tu di fei halten!«, versichernd, der Meister übertreibe entsetzlich, war aber rot vor Vergnügen. Zweifellos war es ihm lieb, vor Marien so herausgestrichen zu werden, aber die Freude darüber, daß es aus diesem Munde geschah, war auch unverkennbar, und seine Dankbarkeit äußerte sich in der Bewunderung von Adrians Ausdrucksweise. Die Godeau hatte von der Prager fragmentarischen Aufführung der >Apokalypse< gehört und gelesen und erkundigte sich nach dem Werk. Adrian wehrte ab.
»Sprechen wir nicht«, sagte er, »von diesen frommen Sünden!«
Davon war Rudi begeistert.
»Fromme Sünden!« wiederholte er jubelnd. »Haben Sie das gehört? Wie er redet! Wie er die Worte zu brauchen weiß! Er ist großartig, unser Meister!«
Dabei drückte er Adrians Knie, wie es seine Art war. Er gehörte zu den Menschen, die immer zugreifen, berühren, anfassen müssen, den Oberarm, den Ellbogen, die Schulter. Er tat es sogar bei mir und sogar bei Frauen, die es meistens nicht ungern hatten. —
In Oberammergau machte unsere kleine Gesellschaft einen Kreuz- und Quer-Spaziergang durch die gepflegte Ortschaft mit ihren idealischen, an Schnitzereien der Dachfirste und Balkone reichen Bauernhäusern, den Wohnungen von Jüngern, Heiland und Gottesmutter. Vorübergehend, während die Freunde auch noch den nahen Kalvarienberg bestiegen, sonderte ich mich ab, um ein mir bekanntes Fuhrgeschäft aufzu-

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suchen und einen Schlitten zu bestellen. Ich traf die sechs anderen wieder zum Mittagsmahl in einem Gastlokal, das einen von Tischchen umgebenen, gläsernen, von unten zu erleuchtenden Tanzboden hatte und während der Saison, zur Zeit der Spiele gewiß, ein überfüllter Treffpunkt der Fremden sein mochte. Jetzt war es, zu unserer Zufriedenheit eher, fast leer: Nur zwei Parteien noch, außer uns, speisten an der Tanzplatte ferner stehenden Tischen, ein leidend aussehender Herr mit seiner Pflegerin in Diakonissentracht an dem einen, eine Gruppe von Wintersportlern an dem anderen. Auf flachem Podium spielte ein Orchesterchen von fünf Mann den Gästen Salonstücke auf, zwischen denen die Künstler in langen Pausen, zu niemandes Schaden, der Ruhe pflogen. Was sie boten, war dumm, und sie boten es auch noch lahm und schlecht, so daß nach dem Backhuhn Rudi Schwerdtfeger es nicht länger aushielt und beschloß, recht wie es im Buche steht, seinen Stern zu enthüllen. Er nahm dem Violinisten die Geige weg und improvisierte, nachdem er sie ein wenig in den Händen gedreht und ihre Herkunft festgestellt hatte, sehr großzügig darauf, indem er zum Auflachen der Unsrigen einige Griffe aus der Kadenz >seines< Violinkonzerts einflocht. Den Musikern standen die Münder offen. Den Pianisten, einen müdäugigen Jüngling, der sich gewiß Höheres erträumt hatte als sein Gewerbe dahier, fragte er dann, ob er die >Humoreske< von Dvorak begleiten könne, und spielte auf der mäßigen Fiedel das allerliebste Stück mit seinen vielen Vorschlägen, anmutigen Rutschern und schmucken Doppelgriffen so keck und brillant, daß er lauten Applaus gewann von jedermann im Lokal, von uns, von den Nachbartischen, den verblüfften Musicis und selbst von den beiden Kellnern.
Es war im Grunde ein konventioneller Spaß, wie Schildknapp aus Eifersucht mir auch zuraunte, aber dramatisch und reizend nun einmal doch, kurz >nett<, ganz im Rudi Schwerdtfeger-Stil. Wir blieben länger als gedacht, zuletzt ganz allein, bei unserem Kaffee und Enzianschnaps sitzen, und selbst ein Tänzchen auf der Glasplatte wurde gemacht: Schildknapp und

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Schwerdtfeger schritten abwechselnd mit Fräulein Godeau und auch mit meiner guten Helene nach Gott weiß welchem Ritus darauf herum, unter den wohlwollenden Blicken dreier Enthaltsamer. Draußen wartete schon der Schlitten, ein geräumiger Zweispänner, mit Pelzdecken wohlversehen. Da ich den Platz neben dem Kutscher wählte und Schildknapp sein Vorhaben wahr machte, sich auf Skiern ziehen zu lassen (der Fuhrmann hatte welche mitgebracht), so kamen die anderen fünf ohne Unbequemlichkeit im Innern des Fahrzeugs unter. Es war der glücklichst geplante Teil des Tagesprogrammes, wenn man davon absieht, daß Rüdigers mannhafte Idee ihm nachträglich übel anschlug. Im eisigen Fahrtwind stehend, über Unebenheiten geschleudert und mit Schnee bestäubt, zog er sich eine Unterleibserkältung zu, einen seiner entkräftenden Darmkatarrhe, der ihn für Tage ans Bett fesselte. Doch das war ein später erst sich enthüllendes Malheur. Wie ich persönlich eine Vorliebe hege für das warm verpackte Dahingleiten bei gedämpftem Schellenklang durch die reine, kräftige Frostluft, so schienen alle die Situation zu genießen. In meinem Rücken Adrian Aug in Auge mit Marien zu wissen, schuf mir ein von Neugier, Freude, Sorge und innigen Wünschen erregtes Herzklopfen.
Linderhof, das Rokoko-Schlößchen Ludwigs II., liegt in einer Wald- und Berg-Einsamkeit von großartiger Schönheit. Königliche Menschenscheu hätte sich keine märchenhaftere Zuflucht finden können. Freilich ist, bei aller Hochstimmung, die der Zauber der Örtlichkeit schaffen mag, der Geschmack, in welchem die rastlose Baulust des Weltflüchtigen — dieser Ausdruck des Dranges nach Verherrlichung seines Königtums — sich ausprägte, ja auch wieder eine Verlegenheit. Wir machten halt, wir gingen unter der Führung eines Kastellans durch die überladenen Prunk-Kabinette, die die >Wohnzimmer< des Phantasiehauses bildeten, und wo der Gemütskranke seine nur von der Idee seiner Majestät erfüllten Tage verbrachte, sich von Bülow vorspielen ließ, der charmierenden Stimme Kainzens lauschte. Der größte Raum in Fürstenschlössern pflegt der

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Thronsaal zu sein. Hier gibt es keinen. Es gibt statt dessen das Schlafzimmer, dessen Dimensionen im Verhältnis zu der Kleinheit der Tag-Aufenthalte gewaltig sind, und dessen feierlich erhöhtes Paradebett, kurz wirkend durch seine übertriebene Breite, wie ein Aufbahrungslager von goldenen Kandelabern flankiert ist.
Mit anständigem Interesse, auch wohl mit verhohlenem Kopfschütteln nahmen wir alles in Augenschein und setzten dann bei aufklärendem Himmel unsere Fahrt gegen Ettal fort, das wegen seiner Benediktiner-Abtei und zugehörigen Barockkirche eines guten architektonischen Rufs genießt. Ich erinnere mich, daß während der Weiterfahrt und dann in dem den frommen Stätten schräg gegenüberliegenden, sauber geführten Hotel, wo wir unser Diner einnahmen, das Gespräch sich andauernd um die Person des, wie man so sagt, >unglücklichen< (warum eigentlich unglücklichen?) Königs drehte, mit dessen exzentrischer Lebenssphäre wir eben in einige Berührung gekommen. Die Erörterung wurde nur durch die Besichtigung der Kirche unterbrochen und war im wesentlichen eine Kontroverse zwischen Rudi Schwerdtfeger und mir über den sogenannten Wahnsinn, die Regierungsunfähigkeit, die Entthronung und Entmündigung Ludwigs, die ich zu Rudi's größtem Erstaunen für ungerechtfertigt und für eine brutale Philisterei, wie übrigens auch für ein Werk der Politik und des sukzessorischen Interesses erklärte.
Jener nämlich stand ganz bei der nicht sowohl volkstümlichen als bourgeoisen und offiziell gegebenen Auffassung, daß der König >knallverrückt<, wie er sich ausdrückte, und seine Überhändigung an die Psychiater und Irrenwärter, die Einsetzung einer geistig gesunden Regentschaft eine unbedingte Notwendigkeit für das Land gewesen sei, — und begriff gar nicht, wie es Widerspruch da überhaupt geben könne. Nach seiner Gewohnheit in solchen Fällen, das heißt, wenn ein Standpunkt ihm allzu neu war, bohrte er seine blauen Augen, bei entrüstet aufgeworfenen Lippen, abwechselnd in mein rechtes und linkes Auge, während ich sprach. Ich muß sagen, und nahm es

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mit einer gewissen Überraschung wahr, daß der Gegenstand mich beredt machte, obgleich er mich bisher kaum beschäftigt hatte. Ich fand jedoch, daß ich mir unterderhand eine dezidierte Meinung darüber gebildet hatte. Wahnsinn, so setzte ich auseinander, sei ein recht schwankender Begriff, den der Spießbürger allzu beliebig, nach zweifelhaften Kriterien, handhabe. Sehr früh, ganz dicht bei sich selbst und seiner Gemeinheit, setze ein solcher die Grenze vernünftigen Benehmens an, und was darüber gehe, sei Narrheit. Die königliche Daseinsform aber, souverän, von Devotion umgeben, der Kritik und Verantwortung sehr weitgehend enthoben und bei der Entfaltung ihrer Würde zu einem Stil legitimiert, der auch dem reichsten Privatmann verwehrt sei, biete den phantastischen Neigungen, den nervösen Bedürfnissen und Verabscheuungen, den befremdenden Leidenschaften und Begierden ihres Trägers einen Spielraum, dessen stolze und völlige Ausnutzung sehr leicht den Aspekt des Wahnsinns biete. Welchem Sterblichen unterhalb dieser Höhe stünde es denn frei, sich goldene Einsamkeiten an erlesenen Punkten landschaftlicher Herrlichkeit zu schaffen, wie Ludwig es getan habe! Diese Schlösser seien Monumente königlicher Menschenscheu, allerdings. Allein wenn es bei den durchschnittlichen Eigenschaften unserer Spezies kaum erlaubt sei, Menschenflucht allgemein für ein Symptom der Verrücktheit zu nehmen, — warum sollte diese Erlaubnis gerade dann gegeben sein, wenn die Scheu sich in königlichen Formen äußern könne?
Aber sechs studierte und berufene Irrenärzte hätten amtlich den kompletten Wahnsinn des Königs festgestellt und seine Internierung für notwendig erklärt!
Das hätten diese gefügigen Gelehrten getan, weil sie eben dazu berufen gewesen seien, und sie hätten es getan, ohne Ludwig je gesehen, ohne ihn auch nur nach ihren Methoden >untersucht<, ohne ein Wort mit ihm gesprochen zu haben. Allerdings hätte wohl auch ein Gespräch mit ihm über Musik und Poesie diese Spießer von seinem Wahnsinn überzeugt. Auf Grund ihres Spruches habe man dem zweifellos aus der

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Norm Fallenden, darum aber durchaus nicht Verrückten die Verfügung über sich selbst entzogen, ihn zum psychiatrischen Patienten erniedrigt, ihn in ein Seeschloß mit abgeschraubten Türklinken und vergitterten Fenstern gesperrt. Daß er das nicht ertragen, sondern Freiheit oder Tod gesucht und dabei seinen ärztlichen Kerkermeister mit sich in den Tod gerissen habe, spreche für sein Würdegefühl und nicht für die Wahnsinnsdiagnose. Es spreche für diese auch das Verhalten seiner Umgebung nicht, die bis zur Kampfbereitschaft an ihm gehangen, noch spreche dafür die schwärmerische Liebe der Landbevölkerung für ihren >Kini<. Diese Bauern hätten, wenn sie ihn nächtlich ganz allein, in seinen Pelz gehüllt, bei Fackelschein, in goldenem Schlitten mit Vorreitern durch seine Berge hätten fahren sehen, keinen Verrückten, sondern einen König nach ihrem derben, aber träumerischen Herzen in ihm erblickt, und wäre es ihm gelungen, über den See zu schwimmen, wie er es offenbar vorgehabt habe, so hätten sie ihn drüben mit Heugabeln und Dreschflegeln gegen Medizin und Politik verteidigt.
Aber seine Verschwendungssucht sei doch ausgemacht krankhaft und nicht länger tragbar gewesen, und seine Regierungsunfähigkeit habe sich einfach aus seiner Unwilligkeit zum Regieren ergeben: er habe das Königsein nur noch geträumt, sich aber geweigert, es nach vernünftigen Normen auszuüben, und damit könne ein Staat nicht leben.
Ei, alles Unsinn, Rudolf. Ein normal gebauter Ministerpräsident könne einen modernen Föderativ-Staat schon regieren, auch wenn der König zu sensitiv sei, um sein und seiner Kollegen Gesichter auszuhalten. Das Bayernland wäre nicht zugrunde gegangen, auch wenn man Ludwig seine einsamen Liebhabereien weiter gegönnt hätte, und die Verschwendungssucht eines Königs habe gar nichts zu sagen, sei bloße Redensart, ein Schwindel und Vorwand. Das Geld sei ja im Lande geblieben, und von den Märchenbauten seien Steinmetzen und Vergolder fett geworden. Überdies hätten die Schlösser sich, durch die Eintrittsgelder, die man der romantischen Neugier zweier Welten für ihre Besichtigung abnähme, längst über und über

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bezahlt gemacht. Wir selbst hätten heut dazu beigetragen, die Verrücktheit zum guten Geschäft zu wenden ...
»Ich verstehe Sie nicht, Rudolf«, rief ich. »Sie blasen die Backen auf vor Erstaunen über meine Apologie, aber ich bin es, der ein Recht hat, sich über Sie zu wundern und nicht zu verstehen, wie gerade Sie . . . ich meine als Künstler und, kurz, gerade Sie . . .« Ich suchte nach Worten, warum ich mich über ihn wundern müsse, doch waren keine da. Ich verwirrte mich aber auch darum in meiner Suada, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, es komme mir nicht zu, in Adrians Gegenwart so das Wort zu führen. Er hätte sprechen sollen, — und doch war es besser, daß ich es tat, denn die Besorgnis quälte mich, daß er imstande sein könnte, Schwerdtfegern recht zu geben. Dem mußte ich vorbeugen, indem ich statt seiner, für ihn, in seinem rechten Geiste sprach, und es schien auch, daß Marie Godeau mein Eintreten so auffaßte und mich, den er um dieses Tages willen zu ihr gesandt, als sein Mundstück betrachtete. Denn sie blickte, während ich mich ereiferte, mehr zu ihm hinüber als auf mich — gerade so, als hörte sie ihm zu und nicht mir, über dessen Hitze sich allerdings seine Miene immerfort etwas lustig machte, mit einem enigmatischen Lächeln, das fern davon war, mich in meiner Stellvertreterschaft unbedingt zu bestätigen.
»Was ist Wahrheit«, sagte er schließlich. Und rasch fiel Rüdiger Schildknapp ihm bei, indem er aufstellte, daß die Wahrheit verschiedene Aspekte habe, und daß in einem Fall wie diesem der medizinisch-naturalistische Aspekt zwar vielleicht nicht der superiorste sei, aber doch auch nicht als ganz ungültig abgewiesen werden könne. In der naturalistischen Wahrheitsanschauung, fügte er hinzu, vereinige sich merkwürdigerweise das Platte mit dem Melancholischen, — was kein Angriff auf »unsern Rudolf« sein solle, der jedenfalls kein Melancholiker sei, aber es könne als Kennzeichnung einer ganzen Epoche gelten, des neunzehnten Jahrhunderts, dem eine entschiedene Neigung zu platter Düsternis eigen gewesen sei. Adrian lachte auf — nicht vor Überraschung, natürlich. Man hatte in seiner

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Gegenwart stets das Gefühl, daß alle Ideen und Gesichtspunkte, die um ihn herum laut wurden, in ihm versammelt waren, und daß er, ironisch zuhörend, es den einzelnen menschlichen Verfassungen überließ, sie zu äußern und zu vertreten. Es wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß das jugendliche zwanzigste Jahrhundert eine gehobenere und geistesheiterere Lebensstimmung entwickeln möge. In abgerissenen Erörterungen der Frage, ob es dafür Anzeichen gäbe oder nicht, zersplitterte sich das Gespräch und ermüdete. Überhaupt machte Ermüdung nach all den regsam, in winterlicher Bergluft verbrachten Stunden sich geltend. Das Kursbuch sprach auch sein Wort, man rief nach dem Kutscher, und unter einem Himmel, der sich glänzend ausgestirnt hatte, führte uns der Schlitten zu der kleinen Station, auf deren Perron wir den Münchener Zug erwarteten.
Die Heimfahrt verlief eher still, aus Rücksicht schon auf das eingeschlummerte Tantchen. Mit ihrer Nichte unterhielt Schildknapp sich zuweilen gedämpft; ich versicherte mich im Gespräch mit Schwerdtfeger, daß er nichts übelgenommen habe, und Adrian befragte Helenen nach alltäglichen Dingen. Gegen alle Erwartung und zu meiner stillen, fast heiteren Rührung verließ er uns nicht in Waldshut, sondern wollte es sich nicht nehmen lassen, unsere Gäste, die Pariser Damen, nach München zurück- und heimzubegleiten. Am Hauptbahnhof verabschiedeten wir anderen alle uns von ihnen und ihm und gingen unserer Wege, während er Tante und Nichte in einer Taxidroschke vor ihre Schwabinger Pension brachte, — ein Akt der Ritterlichkeit, der in meinen Gedanken den Sinn annahm, daß er die letzte Neige des Tages nur noch in Gesellschaft der schwarzen Augen allein verlebte.
Erst der gewohnte Elf-Uhr-Zug trug ihn in seine bescheidene Einsamkeit zurück, wo er denn von weitem schon mit dem überhohen Pfeifchen den wachsam schweifenden KaschperlSuso von seinem Kommen verständigte.


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XLI

Meine teilnehmenden Leser und Freunde, — ich fahre fort. Über Deutschland schlägt das Verderben zusammen, im Schutt unserer Städte hausen, von Leichen fett, die Ratten, der Donner der russischen Kanonen rollt gegen Berlin, der Rhein-Übergang der Angelsachsen war ein Kinderspiel, unser eigener Wille, der sich mit dem des Feindes vereinigt, scheint ihn dazu gemacht zu haben, das Ende kommt, es kommt das Ende, es gehet schon auf und bricht daher über dich, du Einwohner des Landes, — aber ich fahre fort. Was nur zwei Tage nach dem geschilderten, mir denkwürdigen Ausflug zwischen Adrian und Rudolf Schwerdtfeger sich abspielte, und wie es sich abspielte, — ich weiß es, und möge man zehnmal den Einwand erheben, ich könnte es nicht wissen, da ich nicht >dabeigewesen< sei. Nein, ich war nicht dabei. Aber heute ist seelische Tatsache, daß ich dabei gewesen bin, denn wer eine Geschichte erlebt und wieder durchlebt hat, wie ich diese hier, den macht seine furchtbare Intimität mit ihr zum Augen- und Ohrenzeugen auch ihrer verborgenen Phasen.
Adrian bat seinen ungarischen Reisegefährten telephonisch zu sich nach Pfeiffering. Er möge so bald wie möglich kommen, bat er, die Angelegenheit, die er mit ihm zu besprechen habe, sei dringlich. Rudolf kam immer gleich. Der Anruf war zehn Uhr morgens erfolgt — während Adrians Arbeitszeit, ein besonderer Vorfall an und für sich —, und schon nachmittags vier Uhr war der Geiger zur Stelle. Noch dazu hatte er abends in einem Abonnementskonzert des ZapfenstößerOrchesters zu spielen, woran Adrian nicht einmal gedacht hatte.
»Du hast befohlen«, fragte Rudolf, »was ist los?«
»Oh, gleich«, antwortete Adrian. »Du bist da, das ist vorerst die Hauptsache. Ich freue mich, dich zu sehen, sogar mehr als gewöhnlich. Behalte das im Gedächtnis!« »
Es wird allem, was du mir zu sagen hast«, erwiderte Rudolf

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mit überraschend hübscher Wendung, »einen goldenen Hintergrund geben.«
Adrian schlug einen Spaziergang vor, es rede sich besser im Gehen. Schwerdtfeger stimmte mit Vergnügen zu und bedauerte nur, nicht viel Zeit zu haben, da er zum Sechs-UhrZug wieder am Bahnhof sein müsse, um seinen Dienst nicht zu versäumen. Adrian schlug sich vor die Stirn und bat um Entschuldigung für seineGedankenlosigkeit. Vielleicht werde jener sie begreiflicher finden, nachdem er ihn angehört.
Tauwetter war eingefallen. Der Schnee, wo er zur Seite geschaufelt war, sickerte und sinterte, und die Wege begannen breiig zu werden. Die Freunde trugen Überschuhe. Rudolf hatte seine kurze Pelzjacke gar nicht erst ausgezogen, Adrian seinen gegürteten Kamelhaarmantel angelegt. Sie gingen gegen den Klammerweiher und an seinem Ufer hin. Adrian erkundigte sich nach dem Programm von heute. Wieder einmal Brahmsens >Erste< als piece de resistance? Wieder einmal die >Zehnte Symphonie<?
»Nun, freue dich, im Adagio hast du schmeichelhafte Dinge zu sagen. « Dann erzählte er, daß er als Junge am Klavier, lange bevor er von Brahms etwas gewußt, ein mit dem hoch-romantischen Hornthema im letzten Satz fast identisches Motiv sich ausgedacht habe, zwar ohne den rhythmischen Trick mit dem punktierten Achtel nach dem Sechzehntel, aber melodisch ganz ın demselben Geist.
»Interessant«, sagte Schwerdtfeger.
Nun, und der Ausflug vom Samstag? Ob jener sich unterhalten habe. Ob er dasselbe von den anderen Teilnehmern glaube.
»Hätte nıcht netter verlaufen können«, erklärte Rudolf. Ersei sicher, daß alle dem Tag ein vergnügtes Andenken bewahrten, ausgenommen wohl Schildknapp, der sich übernommen habe und krank liege. »Er ist immer zu ehrgeizig in Damengesellschaft.« Übrigens habe er, Rudolf, keinen Grund zum Mitleid, da Rüdiger ziemlich impertinent zu ihm gewesen sei.
»Er weiß, daß du Spaß verstehst. «
»Tu' ich auch. Aber er hätte mich nicht noch zu frotzeln brauchen, wo schon Serenus mich so zugedeckt hatte mit seiner Königstreue.«
»Das ist ein Lehrer. Man muß ihn dozieren und korrigieren lassen.«
»Mit roter Tinte, ja. Im Augenblick sind mir alle beide höchst gleichgültig, — wo ich hier bin und du mir etwas zu sagen hast.«
»Ganz recht. Und da wir von dem Ausflug reden, sind wir eigentlich schon bei der Sache, — einer Sache, in der du mich dir jetzt sehr verpflichten könntest.«
»Verpflichten? Ja?«
»Sage, was hältst du von Marie Godeau?«
»Die Godeau? Die muß wohl jedem gefallen! Sie gefällt doch sicher auch dir?«
»Gefallen ist nicht ganz das rechte Wort. Ich will dir gestehen, daß sie mich, seit Zürich schon, ernstlich beschäftigt; daß es mir schwer wird, die Begegnung mit ihr als bloße Episode aufzufassen; daß mir der Gedanke, sie nächstens wieder ziehen zu lassen, sie vielleicht niemals wiederzusehen, schwer erträglich ist. Mir ist zumute, als möchte und müßte ich sie immer sehen, sie immer um mich haben.«
Schwerdtfeger blieb stehen und blickte dem, der so gesprochen, erst in das eine, dann in das andere Auge.
»Wirklich?« sagte er, den Gang wiederaufnehmend, und senkte den Kopf.
»Es ist so«, bestätigte Adrian. »Ich bin sicher, du bist mir nicht böse für das Vertrauen, das ich dir schenke. Eben darin besteht dieses Vertrauen, daß ich mich dessen versichert halte.«
»Sei versichert!« murmelte Rudolf.
Und Adrian wieder: »Sieh alles menschlich an! Ich bin nachgerade in Jahren, nachgerade vierzig. Magst du als Freund mir wünschen, daß ich den Rest meiner Tage in dieser Klause verbringe? Ich sage, nimm mich als Menschen, über den es wohl kommen kann, daß er, mit einer gewissen Angst vor dem Versäumnis, vor dem Zuspät, nach einem wärmeren Heim, einer im vollständigsten

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Sinn des Wortes zusagenden Gefährtin, kurz, nach milderer, menschlicherer Lebensluft verlangt, — nicht nur um des Behagens willen, um weicher gebettet zu sein, sondern auch vor allem, weil er sich für seine Arbeitslust und -kraft, den menschlichen Gehalt seines zukünftigen Werkes Gutes und Großes davon verspricht.«
Schwerdtfeger schwieg während einiger Schritte. Dann äußerte er gedrückt:
»Viermal hast du jetzt >Mensch< und >menschlich< gesagt. Ich habe gezählt. Offenheit gegen Offenheit: es zieht sich etwas in mir zusammen, wenn du das Wort gebrauchst, wenn du es in bezug auf dich selber gebrauchst. Es nimmt sich so unglaublich unpassend und — ja, und beschämend aus in deinem Munde. Entschuldige, daß ich es sage! War deine Musik unmenschlich bisher? Dann verdankt sie ihre Größe am Ende ihrer Unmenschlichkeit. Verzeih die einfältige Bemerkung! Ich möchte kein menschlich inspiriertes Werk von dir hören.«
»Nein? Möchtest du das ganz und gar nicht? Und hast doch schon dreimal eines vor den Leuten gespielt? Hast es dir widmen lassen? Ich weiß, daß du es nicht darauf absiehst, mir Grausamkeiten zu sagen. Aber findest du es nicht grausam, mich wissen zu lassen, daß ich nur aus Unmenschlichkeit bin, was ich bin, und daß Menschlichkeit mir nicht zusteht? Grausam und gedankenlos, — wie ja Grausamkeit immer aus Gedankenlosigkeit kommt? Daß ich mit Menschlichkeit nichts zu tun habe, nichts zu tun haben darf, sagt mir einer, der mich mit staunenswerter Geduld fürs Menschliche gewann und mich zum Du bekehrte, einer, bei dem ich zum erstenmal in meinem Leben menschliche Wärme fand.«
»Es scheint ein vorläufiger Notbehelf gewesen zu sein.«
»Und wenn es das gewesen wäre? Wenn es sich um eine ^Einübung des Menschlichen, um eine Vorstufe dazu gehandelt hätte, die dadurch, daß sie es war, nichts an Eigenwert verlöre? In meinem Leben war einer, dessen beherztes Ausharren — man kann beinahe sagen: den Tod überwand; der das Menschliche in mir frei machte, mich das Glück lehrte. Man

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wird vielleicht nichts davon wissen, es in keiner Biographie schreiben. Aber würde das seinem Verdienst Abbruch tun, die Ehre schmälern, die ihm insgeheim gebührt?«
»Du weißt die Dinge sehr schmeichelhaft für mich zu wenden.«
»Ich wende sie nicht, ich stelle sie hin, wie sie sind!«
»Eigentlich ist ja nicht von mir die Rede, sondern von Marie Godeau. Um sie immer zu sehen, sie immer um dich zu haben, wie du sagst, müßtest du sie zur Frau nehmen.«
»Das ist mein Wunsch, meine Hoffnung.«
»Oh! Weiß sie von deinen Gedanken?«
»Ich fürchte: nein. Ich fürchte, ich verfüge nicht über die Ausdrucksmittel, ihr meine Gefühle und Wünsche nahezubringen, — besonders nicht in Gesellschaft anderer, vor denen den Courschneider und Seladon zu spielen mich denn doch etwas geniert.« »Warum besuchst du sie nicht?«
»Weil es mir widersteht, sie direkt mit Geständnissen und-* Anträgen zu überrumpeln, deren sie sich dank meiner Unbeholfenheit wahrscheinlich noch nicht im geringsten versieht. Noch bin ich in ihren Augen einfach der interessante Einsame. Ich fürchte ihre Fassungslosigkeit und die — vielleicht voreilige — abschlägige Antwort, die daraus resultieren könnte.« »Warum schreibst du ihr nicht?« »Weil ich sie damit vermutlich noch mehr in Verlegenheit setzen würde. Sie müßte antworten, und ich weiß nicht, ob sie ein Mensch der Feder ist. Welche Mühe hätte sie, mich zu schonen, wenn sie nein sagen muß! Und wie weh täte mir die bemühte Schonung! Ich fürchte mich auch vor der Abstraktheit eines solchen Briefwechsels — sie könnte, wie mir vorkommt, meinem Glück gefährlich werden. Ungern denke ich mir Marie, allein, auf eigene Hand, unbeeinflußt von persönlichen Eindrücken — ich möchte fast sagen: persönlichen Druckmitteln —, Geschriebenes schriftlich beantworten. Du siehst, ich scheue den direkten Überfall, und den postalischen Weg scheue ich auch.«
»Welchen Weg siehst du also?«
»Ich sagte dir ja, daß du mir in dieser schwierigen Angelegen

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heit sehr wohltun könntest. Ich möchte dich zu ihr schicken.«
»Mich?«
»Dich, Rudi. Würde es dir so unsinnig vorkommen, wenn du dein Verdienst um mich — ich bin versucht zu sagen: um mein Seelenheil —, dies Verdienst, von dem die Nachwelt vielleicht nicht wissen, vielleicht auch wissen wird, — wenn du es voll machtest dadurch, daß du den Mittler abgibst, den Dolmetsch zwischen mir und dem Leben, meinen Fürsprecher beim Glück? Das ist eine Idee von mir, ein Einfall, wie er einem beim Komponieren kommt. Man muß immer von vornherein annehmen, daß so ein Einfall nicht vollkommen neu ist. Was ist den Noten nach ganz und gar neu! Aber so, wie es sich hier ergibt, an dieser Stelle, in diesem Zusammenhang und dieser Beleuchtung mag das Dagewesene doch neu, lebensneu sozusagen, originell und einmalig sein.«
»Die Neuheit ist meine letzte Sorge. Was du sagst, ist neu genug, mich zu verblüffen. Wenn ich dich recht verstehe, soll ich für dich bei Marie den Freiwerber machen, für dich bei ihr um ihre Hand anhalten?«
»Du hast mich recht verstanden — und konntest mich kaum mißhören. Die Leichtigkeit, mit der du mich verstehst, spricht für die .Natürlichkeit der Sache.«
»Findest du? — Warum schickst du nicht deinen Serenus?«
»Du willst dich wohl über meinen Serenus lustig machen. Offenbar belustigt es dich, dir meinen Serenus als Liebesboten vorzustellen. Eben sprachen wir von persönlichen Eindrücken, deren das Mädchen bei ihrem Entschluß nicht ganz entbehren sollte. Wundre dich nicht, daß ich mir einbilde, sie wird geneigter deinen Worten lauschen als einem Werber so steifen Angesichts.«
»Nach Spaßen, Adri, ist mir gar nicht zu Sinn, schon darum : nicht, weil es mir selbstverständlich zu Herzen geht und mich gewissermaßen feierlich stimmt, welche Rolle du mir zuschreibst in deinem Leben, sogar vor der Nachwelt. Nach Zeitblom fragte ich, weil er so viel länger schon dein Freund ist —«
»Ja, länger.«

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»Gut, also nur länger. Aber denkst du nicht, daß dieses >Nur< ihm seine Aufgabe gerade erleichtern, ihn tauglicher dafür machen könnte?«
»Höre, wie war' es, wenn wir ihn endlich beiseite ließen? Er hat nun einmal in meinen Augen mit Liebesdingen nichts zu tun. Du bist es, nicht er, dem ich mich anvertraut habe, der nun alles weiß, dem ich, wie man früher sagte, die geheimsten Blätter im Buche meines Herzens aufgeschlagen habe. Wenn du dich nun zu ihr aufmachst, laß sie auch darin lesen, erzähle ihr von mir, sprich gut von mir, verrate ihr behutsam die Empfindungen, die ich für sie hege, die Wünsche fürs Leben, die eins mit ihnen sind! Versuche sie sanft und heiter, auf deine nette Art, ob sie — nun ja, ob sie mich lieben könnte! Willst du? Du mußt mir ihr volles Ja nicht bringen, bewahre. Ein bißchen Hoffnung genügt durchaus zum Abschluß deiner Sendung. Bringst du mir so viel zurück, daß der Gedanke, mein Leben mit mir zu teilen, ihr nicht ganz und gar zuwider, nicht ungeheuerlich ist, — dann kommt meine Stunde, dann will ich selber mit ihr und ihrem Tantchen reden.«
Sie hatten den Rohmbühel zu ihrer Linken gelassen und gingen durch das Fichtenwäldchen, das dahinter liegt, und von dessen Zweigen es tropfte. Dann schlugen sie den Weg am Rande des Dorfes ein, der sie zurückführte. Ein und der andere Kätner und Bauer, dem sie begegneten,-grüßte den langjährigen Gast der Schweigestills mit Namensnennung. Rudolf, nachdem man eine Weile geschwiegen, hob wieder an:
»Daß es mir leichtfallen wird, dort gut von dir zu reden, wirst du mir glauben. Um so leichter, Adri, als du von mir so gut geredet hast vor ihr. Ich will aber ganz offen mit dir sein, — so offen, wie du mit mir. Als du mich fragtest, was ich von Marie Godeau hielte, war ich schnell mit der Antwort bereit, die müßte wohl jedem gefallen. Ich will dir gestehen, daß in der Antwort mehr lag, als ihr so ohne weitres anzuhören ist. Ich hätte dir's nie gestanden, wenn du mich nicht, wie du's altpoetisch ausdrücktest, im Buche deines Herzens hättest lesen lassen.«

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»Du siehst mich ehrlich gespannt auf dein Geständnis.« »Eigentlich hast du es schon gehört. Das Mädel — du magst den Ausdruck nicht —, das Mädchen also, Marie, ist auch mir nicht gleichgültig, — und wenn ich sage: nicht gleichgültig, so ist damit wieder das Rechte noch nicht recht gesagt. Das Mädel ist das Netteste und Liebste, glaube ich, was mir an Weiblichkeit je vorgekommen ist. Schon in Zürich — ich hatte gespielt — ich hatte dich gespielt und war warm und empfänglich — hat sie's mir angetan. Und hier, — du weißt, den Ausflug habe ich vorgeschlagen, und zwischendurch, das weißt du nicht, habe ich sie auch gesehen, ich habe mit ihr und Tante Isabeau in der Pension Gisella Tee getrunken, wir haben uns furchtbar nett unterhalten . . . Ich wiederhole, Adri, daß ich nur durch unser heutiges Gespräch, nur um unserer gegenseitigen Offenheit willen darauf zu sprechen komme —«
Leverkühn hielt eine Pause ein. Dann sagte er mit einer Stimme, die eigentümlich und mehrdeutig schwankte:
»Nein, das habe ich nicht gewußt. Von deinen Gefühlen nicht und nicht vom Tee. Ich scheine lächerlicherweise vergessen zu haben, daß auch du von Fleisch und Blut bist und nicht in Asbest gewickelt gegen den Reiz des Holden und Schönen. Du liebst sie also, oder, sagen wir, du bist verliebt in sie. Nun aber laß mich dich eines fragen. Steht es so, daß unsere Absichten sich überkreuzen, daß du sie bitten wolltest, deine Frau zu werden?« Schwerdtfeger schien zu überlegen. Er sagte: »Nein, ich habe daran noch nicht gedacht.«
»Nicht? Gedachtest du etwa, sie einfach zu verführen?«
»Wie du sprichst, Adrian! Sprich nicht so! Nein, auch daran habe ich nicht gedacht.«
»Nun, dann laß dir sagen, daß dein Geständnis, dein offenes und dankenswertes Geständnis, viel eher danach angetan ist, mich an meiner Bitte nur fester halten zu lassen, als daß es mich bestimmen könnte, davon abzustehen.«
»Wie meinst du?«
»Ich meine es in manchem Sinn. Ich habe dich zu diesem Liebesdienst ersehen,

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weil du dabei weit mehr in deinem Element bist als, sagen wir, Serenus Zeitblom. Weil von dir ein Etwas ausgeht, das ihm fehlt, und das ich meinen Wünschen und Hoffnungen für günstig erachte. Dies ohnehin. Nun aber teilst du sogar meine Empfindungen in gewissem Grad, ohne doch, wie du mir versicherst, meine Absichten zu teilen. Du wirst aus eigener Empfindung sprechen — für mich und meine Absicht. Unmöglich kann ich mir einen berufeneren, erwünschteren Werber denken.«
»Wenn du es in diesem Lichte siehst —«
»Glaube nicht, daß ich es nur in diesem sehe! Ich sehe es auch im Lichte des Opfers, und du kannst wahrhaftig verlangen, daß ich es so sehe. Verlang es nur! Verlang es mit allem Nachdruck! Denn das heißt, daß du, das Opfer als Opfer anerkannt, es bringen willst. Du bringst es im Geist der Rolle, die du in meinem Leben spielst, in Erfüllung des Verdienstes, das du dir um meine Menschlichkeit erworben hast, und^as der Welt vielleicht ein Geheimnis bleiben wird, vielleicht auch nicht. Sagst du mir's zu?«
Rudolf antwortete:
»Ja, ich will gehen und nach bestem Vermögen deine Sache führen.«
»Den Händedruck dafür«, sagte Adrian, »sollst du beim Abschied haben.«
Sie waren zurückgelangt, und Schwerdtfegern blieb noch Zeit, im Nike-Saal mit dem Freunde eine kleine Erfrischungsmahlzeit zu halten. Gereon Schweigestill hatte für ihn angespannt, aber trotz Rudolfs Bitte, sich doch nicht zu inkommodieren, nahm Adrian mit ihm in dem hart gefederten Wägelchen Platz, um ihn zur Station zu bringen.
»Nein, es gehört sich. Es gehört sich diesmal ganz besonders«, erklärte er. Der Zug, gemächlich genug, um in Pfeiffering zu halten, fuhr ein, und durch das herabgelassene Fenster tauschten sie den Händedruck.
»Kein Wort mehr«, sagte Adrian. »Mach's gut. Mach's nett!«
Er hob den Arm, bevor er sich zum Gehen wandte. Den, der da hinglitt, sah er niemals wieder. Nur einen Brief erhielt er noch von ihm, auf den er jede Antwort verweigerte.

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XLII

Als ich das nächste Mal bei ihm war, zehn oder elf Tage später, hatte er diesen Brief bereits in Händen und tat mir seinen bestimmten Entschluß kund, darauf zu schweigen. Er sah blaß aus und machte den Eindruck eines Menschen, der einen schweren Schlag empfangen, — wirkte so besonders dadurch, daß eine Neigung, die ich freilich schon seit einiger Zeit bei ihm beobachtet, nämlich, beim Gehen Kopf und Oberkörper etwas zur Seite hängen zu lassen, auffallender hervortrat. Doch war er, oder gab sich, vollkommen ruhig, ja kalt, und schien fast das Bedürfnis zu haben, sich wegen dieser achselzuckenden, von oben auf den an ihm begangenen Verrat herabblickenden Gelassenheit bei mir zu entschuldigen.
»Ich denke«, sagte er, »du hast keine moralischen Entrüstungs- und Wutausbrüche von mir gewärtigt. Ein ungetreuer Freund. Was weiter? Ich bringe nicht viel Empörung auf gegen den Lauf der Welt. Es ist zwar bitter, und man fragt sich, wem man noch trauen soll, wenn unsere rechte Hand sich gegen unsere Brust kehrt. Aber was willst du? So sind Freunde jetzt. Was mir bleibt ist Scham — und die Einsicht, daß ich Prügel verdiene.«
Ich wollte wissen, wessen er sich zu schämen habe.
»Eines Benehmens«, antwortete er, »so albern, daß es mich lebhaft an das eines Schuljungen erinnert, der vor lauter Freude über ein gefundenes Vogelnest es einem andren zeigt, — und der geht hin und stiehlt's ihm weg.«
Was sollte ich wohl sagen als:
»Du wirst aus Zutrauen keine Sünde und Schande machen. Die sind doch wohl beim Diebe.«
Hätte ich seinen Selbstvorwürfen nur mit mehr Überzeugung begegnen können! Indessen mußte

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ich sie in meinem Herzen bestätigen, denn sein Verhalten, diese ganze Veranstaltung mit der Fürsprache, der Werbung, ausgerechnet durch Rudolf, erschien mir gesucht, gekünstelt, sträflich, und ich brauchte mir nur vorzustellen, ich hätte dereinst zu meiner Helene, statt meine eigene Zunge zu brauchen, einen attraktiven Freund geschickt, damit er ihr mein Herz eröffne, — um der ganzen rätselhaften Absurdität seiner Handlungsweise innezuwerden. Aber wozu seine Reue schüren, — wenn es Reue war, was aus seinen Worten, seinen Mienen sprach? Er hatte Freund und Geliebte auf einmal verloren, durch eigene Schuld, so mußte man sagen, — wenn man, wenn ich nur ganz gewiß gewesen wäre, daß es sich hier um eine Schuld im Sinne unbewußten Mißgriffs, einer fatalen Unbesonnenheit handelte! Wenn nur nicht der Argwohn sich immer wieder in meine Grübeleien gestohlen hätte, daß er, was geschehen würde, mehr oder weniger vorausgesehen hatte, und daß es nach seisfem Willen geschehen war! War ihm der Gedanke, das, was von Rudolf >ausging<, die unleugbare erotische Anziehungskraft des Menschen, für sich wirken und werben zu lassen, überhaupt ernstlich zuzutrauen? Durfte man ihm glauben, daß er auf ihn gebaut hatte? Zuweilen stieg mir die Vermutung auf, daß er, der es so hingestellt, als mute er dem andern ein Opfer zu, sich selber das größte Opfer erwählt habe, — daß er absichtlich habe zusammenfügen wollen, was der Liebenswürdigkeit nach zusammengehörte, um selbst verzichtend zurückzutreten in seine Einsamkeit. Aber der Gedanke sah mir ähnlicher als ihm. Es hätte mir und meiner Verehrung für ihn so passen können, daß dem Schein-Fehler, der sogenannten Dummheit, die er begangen haben wollte, ein Motiv so weicher, so schmerzlich-gütiger Art zum Grunde gelegen hätte! Die Ereignisse sollten mich Aug in Auge mit einer Wahrheit stellen, härter, kälter, grausamer, als daß meine Gutmütigkeit ihr gewachsen wäre, als daß sie nicht in eisigem Schauern davor erstarren sollte, — einer unerwiesenen, stummen, nur eben durch ihren starren Blick sich zu erkennen gebenden Wahrheit, die in Stummheit verharren möge, da ich nicht der Mann bin, ihr Worte zu geben. —

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Ich bin gewiß, daß Schwerdtfeger sich, soviel er wußte, mit den besten, korrektesten Vorsätzen zu Marie Godeau begeben hatte. Aber ebenso gewiß ist, daß diese Vorsätze von vornherein nicht auf den festesten Füßen standen, sondern von innen her gefährdet, zur Lockerung, Auflösung, Umgestaltung bereit waren. Was Adrian ihm über die Bedeutung seiner Person für des Freundes Leben und Menschlichkeit eingeprägt hatte, war nicht ohne schmeichelhafte und anspornende Wirkung auf seine Eitelkeit geblieben, und den Gedanken, daß sich seine gegenwärtige Sendung aus dieser Bedeutung ergäbe, hatte er von einem überlegenen Deuter der Dinge angenommen. Aber die eifersüchtige Kränkung über die Sinnesänderung des Eroberten und darüber, daß er ihm nur noch zum Mittel und Werkzeug gut sein sollte, wirkte diesen Einflüssen entgegen, und ich glaube wohl, daß er sich insgeheim frei fühlte, das heißt: nicht gebunden, anspruchsvolle Untreue mit Treue zu erwidern. Dies ist mir ziemlich klar. Und es ist mir auch klar, daß, auf Liebeswegen zu gehen für einen anderen, ein verführerisches Wandeln ist, — zumal für einen Fanatiker des Flirts, für dessen Moral das Bewußtsein allein, daß es zum Flirt oder zu einem mit Flirt verwandten Unternehmen ging, etwas Entspannendes haben mußte.
Zweifelt irgend jemand, daß ich, was zwischen Rudolf und Marie Godeau sich abspielte, in derselben Wörtlichkeit wiedergeben könnte wie das Gespräch in Pfeiffering? Zweifelt jemand, daß ich >dabeigewesen< bin? Ich denke nicht. Aber ich denke auch, ein genaues Ausbreiten des Vorganges ist für niemanden mehr erforderlich, oder nur wünschbar. Sein verhängnisvolles Ergebnis, heiter, wie es sich vorerst — nicht für mich, aber für andere —ansah, war, man wird dieser Annahme beitreten, nicht die Frucht nur einer Unterredung. Eine zweite war dazu nötig, zu der Rudolf angehalten wurde durch die Art, in der Marie ihn nach der ersten verabschiedet hatte. — Es war Tante Isabeau, auf die er beim Betreten des kleinen Vorplatzes der Pensionswohnung stieß.

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Er fragte nach ihrer Nichte, bat, mit dieser unter vier Augen einige Worte wechseln zu dürfen, im Interesse eines Dritten. Die alte Dame wies ihn ins Wohn- und Arbeitszimmer mit einem Lächeln, dessen Verschmitztheit Unglauben verriet an seine Rede vom Dritten. Er trat bei Marien ein, die ihn so freundlich wie überrascht begrüßte und Miene machte, ihre Tante zu benachrichtigen, was er zu ihrem wachsenden, jedenfalls heiter betonten Erstaunen für überflüssig erklärte. Die Tante wisse von seinem Hiersein und werde sich einfinden, wenn er in einer sehr wichtigen, sehr ernsten und schönen Angelegenheit mit ihr werde ausgeredet haben. Was hat sie erwidert? Das Scherzhaft-Alltäglichste gewiß. »Da bin ich wahrhaftig begierig«, oder etwas dergleichen. Und sie bitte den Herrn, es sich bequem zu machen für seinen Vortrag.
Er setzte sich zu ihr, in einen an ihr Zeichenbrett herangezogenen Sessel. Kein Mensch kann sagen, daß er sein Wort gebrochen hätte. Er stand zu ihm, erfüllte es redlich. Er sprach ihr von Adrian, von seiner Bedeutung, seiner Größe, deren das Publikum nur langsam gewahr werde, von seiner, Rudolfs, Bewunderung und Ergebenheit für den außerordentlichen Mann. Er sprach ihr von Zürich, von der Begegnung bei Schlaginhaufens, von dem Tag in den Bergen. Er gestand ihr, daß sein Freund sie liebe, — wie macht man das? Wie bekennt man einer Frau die Liebe eines andern? Neigt man sich zu ihr? Blickt man ihr ins Auge? Nimmt man bittend ihre Hand, die man gern in die des Dritten legen zu wollen erklärt? Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Einladung zu einem Ausflug und keinen Heiratsantrag zu überbringen gehabt. Alles, was ich weiß, ist, daß sie ihre Hand, sei es aus der Umfassung der seinen, oder nur von ihrem Schoße, wo sie frei gelegen, hastig zurückzog; daß eine flüchtige Röte die südliche Blässe ihrer Wangen überhauchte und das Lachen aus dem Dunkel ihrer Augen schwand. Sie begriff nicht, war wirklich nicht sicher, zu begreifen. Sie fragte, ob sie recht verstünde, daß Rudolf bei ihr anhalte für Herrn Dr. Leverkühn. Ja, hieß es, das tue er pflichtgemäß, aus

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Freundschaft. Darum habe Adrian ihn aus Zartgefühl gebeten, und er habe geglaubt, es ihm nicht abschlagen zu dürfen. Ihre merklich kühle, merklich spöttische Antwort, das sei sehr schön von ihm, war nicht geschaffen, seine Verlegenheit zu mildern. Die Ausgefallenheit seiner Lage und Rolle kam ihm erst jetzt recht zum Bewußtsein, und die Befürchtung, daß etwas Beleidigendes für sie daran sein könnte, mischte sich mit darein. Ihr Verhalten, dies ganz und gar befremdete Verhalten erschreckte ihn zugleich und freute ihn insgeheim. Das seine zu rechtfertigen, bemühte er sich unter einigem Stottern noch eine Weile. Sie wisse nicht, wie schwer es sei, einem Menschen wie diesem etwas abzuschlagen. Auch habe er sich gewissermaßen verantwortlich gefühlt für die Wendung, die Adrians Leben durch dieses Gefühl genommen, weil ja er es gewesen sei, der ihn zu der Reise in die Schweiz bewogen und so die Begegnung mit ihr, Marien, herbeigeführt habe. Merkwürdig genug, das Violinkonzert sei ihm gewidmet, aber letzten Endes sei es das Mittel gewesen, den Komponisten ihrer ansichtig werden zu lassen. Er bitte sie, zu verstehen, daß jenes Verantwortungsbewußtsein stark zu seiner Bereitschaft beigetragen habe, Adrians Wunsch zu erfüllen.
Hier gab es ein neues, kurzes Zurückziehen der Hand, die er bei seiner Bitte zu ergreifen versucht hatte. Sie antwortete ihm folgendes. Sie antwortete ihm, er möge sich nicht weiter bemühen, an ihrem Verständnis für die Rolle, die er übernommen, sei nichts gelegen. Es tue ihr leid, seine freundschaftlichen Hoffnungen vereiteln zu müssen, aber wenn sie selbstverständlich nicht unbeeindruckt sei von der Persönlichkeit seines Auftraggebers, so habe die Ehrerbietung, die sie diesem entgegenbringe, nichts zu tun mit Empfindungen, welche die Grundlage abgeben könnten für die ihr so beredt vorgeschlagene Verbindung. Die Bekanntschaft mit Dr. Leverkühn sei ihr eine Ehre und Freude gewesen, aber leider schließe der Bescheid, den sie ihm jetzt erteilen müsse, wohl jede weitere Begegnung als peinlich aus. Sie bedauere aufrichtig, es so auffassen zu müssen, daß von dieser Veränderung der Dinge auch

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der Überbringer und Befürworter unerfüllbarer Wünsche betroffen sei. Zweifellos sei es nach dem Vorgefallenen besser und leichter, einander nicht wiederzusehen. Sie nehme hiermit freundlichen Abschied von ihm, »Adieu, monsieur!«
Er bat: »Marie!« Aber sie gab nur ihrem Erstaunen Ausdruck, daß er mit ihrem Vornamen bekannt sei, und wiederholte die Verabschiedung, die ich so deutlich in ihrem Stimmklang im Ohr habe: »Adieu, monsieur!«
Er ging, — ein begossener Pudel, von außen gesehen, aber innerlich bis zur Beglücktheit vergnügt. Adrians Heiratsidee hatte sich als der Unsinn erwiesen, der sie war, und daß er sich dazu hergegeben, sie ihr zu unterbreiten, hatte sie sehr übelgenommen, — sie war zum Entzücken empfindlich dagegen gewesen. Adrian über den Ausgang seines Besuches Bericht zu erstatten, beeilte er sich nicht, — wie froh er war, daß er sich durch das ehrliche Eingeständnis, er selbst sei nicht kalt gegen die Reize des Mädchens, vor ihm salviert hatte! Was er/tat, war, niederzusitzen und einen Schreibebrief an die Godeau abzufassen, worin er ihr sagte, daß er mit ihrem »Adieu, monsieur« nicht leben und nicht sterben könne, und daß er sie um Lebens und Sterbens willen wiedersehen müsse, nämlich um ihr die Frage vorzulegen, die er schon hiermit von ganzer Seele an sie richte: Ob sie denn nicht verstehe, daß ein Mann aus Verehrung für einen anderen die eigenen Gefühle opfern und über sie hinweggehen könne, indem er sich zum uneigennützigen Anwalt der Wünsche des anderen mache. Und ob sie nicht ferner verstehe, daß die unterdrückten, die treulich beherrschten Gefühle zu freiem, ja zu jubelndem Durchbruch kämen, sobald sich herausstelle, daß der andere nun einmal keine Aussicht auf Erhörung habe. Er bitte sie um Verzeihung für einen Verrat, den er an niemandem als sich selbst begangen. Er könne ihn nicht bereuen, aber es mache ihn überglücklich, daß es nun an niemandem mehr einen Verrat bedeute, wenn er ihr sage, daß er — sie liebe.
In dieser Art. Gar nicht ungeschickt. Beschwingt von FlirtBegeisterung und, wie ich glaube, geschrieben nicht einmal in dem klaren Bewußtsein,

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daß, nach seiner Werbung für Adrian, die Liebeserklärung mit dem Ehe-Antrag verbunden blieb, auf den sein Flirt-Kopf von selbst nie verfallen wäre. Den Brief las Tante Isabeau Marien vor, die ihn nicht hatte annehmen wollen. Rudolf erhielt keine Antwort darauf. Als er sich aber, nur zwei Tage später, durch das Zimmermädchen der Pension Gisella bei der Tante melden ließ, wurde er nicht abgewiesen. Marie war in der Stadt. Sie habe, verriet ihm die alte Dame mit schalkhaftem Vorwurf, nach seinem vorigen Besuch an ihrem Busen ein Tränchen vergossen. Was meiner Meinung nach erfunden war. Die Tante selbst betonte den Stolz ihrer Nichte. Sie sei ein tief empfindendes, aber stolzes Mädchen. Bestimmte Hoffnung auf die Gelegenheit zu einer neuen Unterredung könne sie ihm nicht machen. Aber soviel möge er wissen, daß sie es sich nicht verdrießen lasse, Marien die Ehrenhaftigkeit seiner Handlungsweise vor Augen zu führen.
Nach abermals zwei Tagen war er wieder da. Madame Ferblantier — dies der Name der Tante, sie war eine Witwe — begab sich zu ihrer Nichte hinein. Sie blieb dort geraume Zeit, doch endlich kam sie wieder und gewährte ihm mit einem ermutigenden Blinzeln den Eintritt. Natürlich trug er Blumen.
Was soll ich weiter sagen? Ich bin zu alt und zu traurig, um eine Szene auszumalen, an deren Einzelheiten auch niemandem gelegen sein kann. Rudolf brachte Adrians Werbung vor — für sich selbst diesmal, obgleich der Flatterer zum Ehestande taugte wie ich zum Don Juan. Aber es ist müßig, sich über die Zukunft, die Glücksaussichten einer Verbindung Gedanken zu machen, der keine Zukunft bestimmt war, sondern die von einem gewalttätigen Schicksal rasch zunichte gemacht werden sollte. Marie wagte den Herzensbrecher mit dem >kleinen Ton< zu lieben, über dessen Künstlerwert und sichere Laufbahn ihr von ernster Seite so warme Bürgschaften waren gegeben worden. Sie traute sich zu, ihn halten, ihn binden, den Wildfang domestizieren zu können, sie ließ ihm ihre Hände, sie nahm seinen Kuß, und es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, bis

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unseren ganzen Bekanntenkreis die heitere Nachricht durchlaufen hatte, daß Rudi gefangen war, daß Konzertmeister Schwerdtfeger und Marie Godeau Brautleute seien. Ergänzend hieß es, er wolle seinen Vertrag mit dem Zapfenstößer-Orchester lösen, in Paris heiraten und dort seine Dienste einer neuen, eben sich konstituierenden musikalischen Körperschaft, dem >Orchestre Symphonique<, zur Verfügung stellen.
Zweifellos war er dort willkommen, und ebenso zweifellos gingen die Ablösungs verhandlungen in München, wo man ihn ungern ziehen ließ, nur langsam voran. Immerhin faßte man seine Mitwirkung beim nächsten Zapfenstößer-Konzert — es war das erste nach demjenigen, zu dem er im letzten Augenblick von Pfeiffering zurückgekehrt war — als eine Art von Abschiedsvorstellung auf. Und da überdies der Dirigent, Dr. Edschmidt, gerade für diesen Abend ein besonders hausfüllendes Berlioz-Wagner-Programm gewählt hatte, so war, wie man so sagt, ganz München da. Zahlreiche bekannte Gesichter blökten aus den Reihen, und wenn ich aufstand, so hatte ich vielfach zu grüßen: die Schlaginhaufens und Habitues ihrer Empfänge, die Radbruchs mit Schildknapp, Jeannette Scheurl, die Zwitscher, die Binder-Majoresku und andere mehr, die alle gewiß nicht zuletzt mit dem Wunsche gekommen waren, Rudi Schwerdtfeger, links vorn an seinem Pult, als Bräutigam zu sehen. Übrigens war seine Verlobte nicht anwesend — schon nach Paris zurückgekehrt, wie man hörte. Ich machte Ines Institoris meine Verbeugung. Sie war allein, das heißt: in Gesellschaft der Knöterichs, ohne ihren Mann, der unmusikalisch war und den Abend in der >Allotria< verbringen mochte. Sie saß ziemlich weit zurück im Saal, in einem Kleide, dessen Einfachheit der Dürftigkeit nicht fern war, — das Hälschen schräg vorgeschoben, mit erhobenen Augenbrauen, das Mündchen in fataler Schalkhaftigkeit gespitzt, und ich konnte mich, als sie so meinen Gruß erwiderte, des ärgerlichen Eindrucks nicht erwehren, als lächelte sie immer noch in boshaftem Triumph darüber, daß sie bei jenem langen abendlichen Gespräch in ihrem Wohnzimmer meine Geduld und Teilnahme so trefflich ausgebeutet hatte.

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Was Schwerdtfeger betraf, so blickte er, wohl wissend, wie vielen neugierigen Augen er begegnen würde, während des ganzen Abends kaum in den Saal. Zu Zeiten, wo er es hätte tun mögen, behorchte er sein Instrument oder blätterte in seinen Noten. Den Schluß der Darbietungen, nun ja, bildete das Meistersinger-Vorspiel, breit und lustig gespielt, und der ohnedies laut prasselnde Beifall hob sich noch merklich, als Ferdinand Edschmidt das Orchester aufstehen ließ und seinem Konzertmeister dankend die Hand reichte. Ich war, als dieser Akt sich abspielte, schon oben im Mittelgang, besorgt um meine Garderobe, die ich mir bei noch geringem Zudrang zu den Verwahrungsstätten ausfolgen ließ. Meine Absicht war, wenigstens einen Teil meines Heimweges, das heißt des Weges zu meinem Schwabinger Absteigequartier, zu Fuß zurückzulegen. Vor dem Konzertgebäude traf ich mit einem Herrn des Kridwiß-Kreises, Professor Gilgen Holzschuher, dem Dürer-Mann, zusammen, der auch im Saal gewesen war. Er verwickelte mich in ein Gespräch, das von seiner Seite mit einer Kritik des Programms von heute abend begann: Diese Zusammenstellung von Berlioz und Wagner, von welschem Virtuosen- und deutschem Meistertum sei eine Geschmacklosigkeit, die überdies nur schlecht eine politische Tendenz verberge. Allzusehr sehe sie nach deutsch-französischer Verständigung und Pazifismus aus, wie denn dieser Edschmidt als Republikaner und als national unzuverlässig bekannt sei. Der Gedanke habe ihn den ganzen Abend gestört. Leider sei eben heute alles Politik, es gebe keine geistige Reinheit mehr. Um diese wiederherzustellen, müßten vor allem einmal an der Spitze großer Orchester Männer von unzweifelhaft deutscher Gesinnung stehen.
Ich sagte ihm nicht, daß ja er es sei, der die Dinge politisiere, und daß das Wort >deutsch< heute keineswegs gleichsinnig mit geistiger Reinheit, sondern eine Partei-Parole sei. Ich machte nur geltend, daß eine gute Menge Virtuosentums, welsch oder nicht, doch auch in Wagners international so wohlgelittener Kunst einschlägig sei — und lenkte ihn dann wohltätig ab, indem ich auf einen Artikel über Proportionsprobleme

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der gotischen Architektur zu sprechen kam, den er kürzlich in der Zeitschrift >Kunst und Künstler< veröffentlicht hatte. Die Höflichkeiten, die ich ihm darüber sagte, machten ihn ganz glücklich, weich, unpolitisch und heiter, und ich benutzte diesen seinen gebesserten Zustand, um mich von ihm zu trennen und meinen Weg nach rechts einzuschlagen, während er links ging.
Bald hatte ich von der oberen Türkenstraße her die Ludwigstraße erreicht und verfolgte die stille Monumental-Chaussee (seit Jahren freilich durchaus asphaltiert) auf ihrer linken Seite gegen das Siegestor. Der Abend war bedeckt und sehr mild, mein Wintermantel drückte mich auf die Dauer ein wenig, und an der Trambahn-Haltestelle Theresienstraße blieb ich stehen, um einen Wagen irgendeiner der nach Schwabing führenden Linien zu erwarten. Ich weiß nicht, weshalb es ungewöhnlich lange dauerte, bis einer kam. Stockungen, Verzögerungen im Verkehr kommen ja vor. Es war ein Wagen der Linie 10, mir ganz genehm, der sich endlich näherte. Noch sehe und höre ich ihn von der Feldherrnhalle her herankommen. Diese bayerischblauen Münchener Trambahnwagen sind ja sehr schwer gebaut und machen, liege es nun eben an dieser Schwere oder an besonderen Eigenschaften des Untergrundes, einen erheblichen Lärm. Elektrisches Feuer zuckte beständig unter den Rädern des Gefährtes und noch stärker oben an der Kontaktstange, von wo diese kalten Flammen zischend in ganzen Funkenschwärmen zerstoben.
Der Wagen hielt, und ich begab mich von der vorderen Plattform, wo ich einstieg, ins Innere. Gleich bei der Schiebetür, links von meinem Eintritt, fand ich einen freien Platz, den offenbar ein Aussteigender eben verlassen. Die Tram war vollbesetzt, es standen sogar bei der hinteren Tür zwei Herren im Gange und hielten sich an Riemen. Den Großteil der Fahrgäste mochten heimkehrende Konzertbesucher bilden. Unter ihnen, inmitten der Bank mir gegenüber, saß Schwerdtfeger, seinen Geigenkasten aufgestellt zwischen den Knien. Gewiß hatte er mich hereinkommen sehen, mied aber meinen Blick. Unterm

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Mantel trug er ein weißes Cachenez, das seine Frackschleife bedeckte, war aber nach seiner Gewohnheit ohne Hut. Er sah hübsch und jung aus mit seinem lockig aufstrebenden Blondhaar, die Gesichtsfarbe erhöht von getaner Arbeit, dergestalt, daß in dieser ehrenwerten Erhitzung die blauen Augen sogar ein wenig verschwollen wirkten. Auch das aber kleidete ihn, so gut wie die leicht aufgeworfenen Lippen, mit denen er so meisterlich zu pfeifen verstand. Ich bin nicht schnell von Umsicht; nur nach und nach stellte sich mir heraus, daß sich noch andere Bekannte im Wagen befanden. Ich tauschte einen Gruß mit Dr. Kranich, der auf Schwerdtfegers Seite, aber weit von ihm bei der rückwärtigen Tür seinen Platz hatte. Ein gelegentliches Vorbeugen ließ mich zu meiner Überraschung Ines Institoris gewahren, die auf derselben Seite wie ich, mehrere Plätze von mir, gegen die Mitte hin, Schwerdtfegern schräg gegenüber, saß. Ich sage: zu meiner Überraschung, denn ihr Heimweg war dies ja nicht. Da ich aber, wieder ein paar Plätze weiter, ihre Freundin, Frau Binder-Majoresku, bemerkte, die weit draußen in Schwabing, noch hinter dem >Großen Wirt< wohnte, so kalkulierte ich, daß Ines bei ihr den Abendtee zu nehmen gedachte.
Begreiflich wurde mir nun aber, warum Schwerdtfeger seinen hübschen Kopf meist nach rechts gewandt hielt, so daß sich mir nur sein etwas zu stumpfes Profil bot. Nicht allein den Mann zu ignorieren, den er als Adrians anderes Ich betrachten mochte, lag ihm ob, und im stillen machte ich ihm Vorwürfe, weil er nun gerade mit diesem Wagen hatte fahren müssen, — ungerechte Vorwürfe wahrscheinlich, da nicht gesagt war, daß er ihn zugleich mit Ines bestiegen hatte. Sie konnte, so gut wie ich, nach ihm hereingekommen sein, oder, wenn es umgekehrt gewesen war, so hatte er bei ihrem Anblick nicht gut Reißaus nehmen können.
Wir passierten die Universität, und eben stand der Schaffner in seinen Filzstiefeln vor mir, um meinen Zehner entgegenzunehmen und mir meinen Gradaus-Schein in die Hand zu schieben, als das Unglaubliche und, wie alles völlig Unerwartete,

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zunächst ganz Unverständliche geschah. Ein Schießen ging los im Wagen, flache, scharfe, schmetternde Detonationen, eine nach der anderen, drei, vier, fünf, in wilder betäubender Schnelligkeit, und drüben sank Schwerdtfeger, seinen Geigenkasten zwischen den Händen, erst an die Schulter und dann in den Schoß der rechts neben ihm sitzenden Dame, die sich, wie auch die zu seiner Linken, entsetzt von ihm wegbog, während ein allgemeiner Tumult, mehr Flucht und kreischende Panik als geistesgegenwärtiges Einschreiten, den Wagen erfüllte und vorn der Wagenführer, Gott weiß, warum, in einem fort wie toll auf die Glocke trat, — mag sein, um einen Schutzmann herbeizurufen. Natürlich war keiner in Hörweite. Ein fast gefährliches Gedränge entwickelte sich in dem zum Stehen gekommenen Wagen, da manche Passagiere das Freie suchen wollten, andere von den Plattformen, neugierig oder tatenlustig, hereinstrebten. Die beiden Herren, die im Gang gestanden, hatten sich zusammen mit mir auf Ines geworferp— viel zu spät natürlich. Wir brauchten ihr den Revolver nicht zu >entwinden<; sie hatte ihn fallen lassen oder vielmehr von sich geworfen, und zwar in der Richtung ihres Opfers. Ihr Gesicht war weiß wie ein Blatt Papier, mit scharf umgrenzten hochroten Flecken auf den Wangenknochen. Sie hielt die Augen geschlossen und lächelte irr, mit gespitztem Munde.
Man hielt sie an den Armen, und ich stürzte.hinüber zu Rudolf, den man auf der ganz leer gewordenen Bank ausgestreckt hatte. Auf der anderen lag blutend und in Ohnmacht die Dame, auf die er gefallen war, und die einen, wie sich herausstellte, harmlosen Streifschuß in den Arm erhalten hatte. Bei Rudolf standen mehrere Leute, darunter Dr. Kranich, der seine Hand hielt.
»Was für eine entsetzliche, besinnungslose, unvernünftige Tat!« sagte er, bleichen Angesichts, in seiner klaren, akademisch wohlartikulierten und dabei asthmatischen Sprechweise, indem er das Wort »entsetzlich«, wie man es öfters, auch von Schauspielern, hört, »entzetzlich« aussprach. Er fügte hinzu, nie habe er mehr bedauert, nicht Mediziner, sondern nur

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Numismatiker zu sein, und wirklich erschien mir in diesem Augenblick die Münzenkunde als die müßigste der Wissenschaften, noch unnützer als die Philologie, was keineswegs aufrechtzuhalten ist. Tatsächlich war kein Arzt zur Stelle, nicht einer unter so vielen Konzertbesuchern, obgleich doch Ärzte musikalisch zu sein pflegen, schon weil so viele Juden darunter sind. Ich beugte mich über Rudolf. Er gab Lebenszeichen, war aber gräßlich getroffen. Unter seinem einen Auge war ein blutender Einschuß. Andere Kugeln waren ihm, wie sich erwies, in den Hals, die Lunge, die Kranzgefäße des Herzens gegangen. Er hob den Kopf mit dem Versuche, etwas zu sagen, doch traten sogleich blutige Blasen zwischen seinen Lippen hervor, deren sanfte Dicke mir auf einmal rührend schön erschien, er verdrehte die Augen, und der Kopf fiel hart auf das Holz zurück.
Ich kann nicht sagen, welches jammervolle Erbarmen mit dem Menschen mich fast überwältigend durchdrang. Ich fühlte, daß ich ihn auf eine Weise immer liebgehabt, und muß gestehen, daß meine Teilnahme weit inniger bei ihm war als bei der Unseligen, in ihrer Gesunkenheit gewiß Bedauernswerten, die durch Leiden und leidbetäubendes, entsittlichendes Laster zu der abscheulichen Tat bereitet worden war. Ich erklärte mich als guten Bekannten beider und riet, den Schwerverletzten hinüber in die Universität zu tragen, bei deren Pedell man nach der Sanität, der Polizei telephonieren könne, und wo sich meines Wissens auch eine kleine Unfallstation befinde. Ich ordnete an, daß man die Täterin gleichfalls dorthin bringen solle.
Dies alles geschah. Wir hoben, ein beflissener, bebrillter junger Mann und ich, den armen Rudolf zum Wagen hinaus, hinter dem schon zwei oder drei andere Trams sich aufgestaut hatten. Aus einer von diesen eilte nun doch ein Arzt, mit Instrumentenköfferchen, zu uns herüber und dirigierte, ziemlich überflüssig, das Tragewerk. Auch ein Presse-Reporter kam, Erkundigungen einziehend, herzu. Die Erinnerung quält mich, welche Mühe es machte, den Pedell aus seiner Wohnung im Erdgeschoß herauszuklingeln. Der Arzt, ein jüngerer Mann, der sich allen vorstellte, versuchte, als man den Bewußtlosen

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auf ein Sofa gebettet, erste Hilfe zu leisten. Das Sanitätsautomobil war überraschend schnell zur Stelle. Rudolf starb, wie der Arzt es mir nach der Untersuchung gleich als leider wahrscheinlich bezeichnete, auf dem Wege zum städtischen Krankenhaus.
Für mein Teil schloß ich mich den später eintreffenden Polizeibeamten und ihrer nun krampfhaft schluchzenden Arrestantin an, um den Kommissar mit ihren Bewandtnissen bekanntzumachen und ihre Einlieferung in die Psychiatrische Klinik zu befürworten. Es wurde dies jedoch für die heutige Nacht nicht mehr bewilligt.
Von den Kirchen schlug es Mitternacht, als ich dies Amt verließ und mich, nach einem Auto Ausschau haltend, zu einem noch übrigbleibenden sauren Gange aufmachte: dem in die Prinzregentenstraße. Ich betrachtete es als meine Obliegenheit, den kleinen Gatten, so schonend ich konnte, von dem Vorgefallenen zu verständigen. Eine Fahrgelegenheit bot sicherst, als es nicht mehr lohnte, sie wahrzunehmen. Ich fand die Haustür verschlossen, aber auf mein Schellen ging das Treppenlicht an, und Institoris selbst kam herunter, — um statt seiner Frau mich vor dem Tore zu finden. Er hatte eine Art, den Mund nach Luft schnappend zu öffnen und dabei die Unterlippe fest an die Zähne zu ziehen.
»Ja, wie denn?« stammelte er. »Sie sind es? Was führt Sie . . . Haben Sie mir ...«
Ich sagte auf der Treppe fast nichts. Droben in seinem Wohnzimmer, dort, wo ich Ines' beklemmende Bekenntnisse entgegengenommen, berichtete ich ihm nach einigen vorbereitenden Worten, was ich mitangesehen. Er hatte gestanden und setzte sich rasch in einen der Korbsessel, als ich ausgeredet, bewies dann aber die Fassung eines Mannes, der längst in drükkend bedrohlicher Atmosphäre gelebt hatte.
»So also«, sagte er, »sollte es kommen.« Und man verstand deutlich, daß er nur ängstlich darauf gewartet hatte, wie es kommen werde.
»Ich will zu ihr«, erklärte er und stand wieder auf. »Ich hoffe, man wird mich dort« (er meinte das Polizeigefängnis) »mit ihr sprechen lassen.«

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Für heute nacht konnte ich ihm darauf nicht viel Hoffnung machen, aber er meinte mit schwacher Stimme, es sei seine Pflicht, es zu versuchen, warf sich in den Mantel und eilte aus der Wohnung.
Allein in dem Zimmer, wo Inessens Büste distinguiert und fatal vom Sockel blickte, gingen meine Gedanken dorthin, wohin sie, wie man mir glauben wird, während der letzten Stunden schon öfters, schon anhaltend gegangen waren. Noch eine schmerzliche Benachrichtigung, so schien mir, war zu tätigen. Aber eine eigentümliche Starrheit, die meine Glieder beherrschte und sich sogar auf meine Gesichtsmuskeln schlug, hinderte mich, den Telephonhörer abzuheben und die Verbindung mit Pfeiffering zu verlangen. Das ist nicht wahr, ich hob ihn ab, ich hielt ihn gesenkt in der Hand und hörte gedämpft und unterseeisch in der Leitung das amtierende Fräulein sich melden. Aber eine aus meiner schon krankhaften Übermüdung geborene Vorstellung, nämlich, daß ich im Begriffe sei, ganz unnütz nächtlicherweile Haus Schweigestill zu alarmieren, daß es nicht nötig sei, Adrian meine Erlebnisse zu erzählen, ja, daß ich mich auf irgendeine Weise lächerlich damit machen würde, vereitelte mein Vorhaben, und ich legte den Hörer in die Gabel zurück.


XLIII

Meine Erzählung eilt ihrem Ende zu — das tut alles. Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt, — steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte, widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen durch dieses Ergebnis, ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankerott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet. Wenn es wahr ist, was der deutsche Spruch wahrhaben

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will, daß ein jeder Weg zu rechtem Zwecke auch recht ist in jeder seiner Strecken, so will eingestanden sein, daß der Weg, der in dies Unheil ging — und ich gebrauche das Wort in seiner strengsten, religiösesten Bedeutung —, heillos war überall, an jedem seiner Punkte und Wendungen, so bitter es die Liebe ankommen mag, in diese Logik zu willigen. Die unvermeidliche Anerkennung der Heillosigkeit ist nicht gleichbedeutend mit der Verleugnung der Liebe. Ich, ein schlichter deutscher Mann und Gelehrter, habe viel Deutsches geliebt, ja, mein unbedeutendes, aber der Faszination und Hingabe fähiges Leben war der Liebe, der oft verschreckten, der immer bangen, aber in Ewigkeit getreuen Liebe zu einem bedeutend deutschen Menschen- und Künstlertum geweiht, dessen geheimnisvolle Sündhaftigkeit und schrecklicher Abschied nichts über diese Liebe vermögen, welche vielleicht, wer weiß, nur ein Abglanz der Gnade ist.
Eingezogen, in Erwartung des Verhängnisses, nbtr dessen Erfüllung der Mensch nicht hinauszudenken vermag, halte ich mich in meiner Freisinger Klause und meide den Anblick unseres gräßlich zugerichteten München, der gefällten Statuen, der aus leeren Augenhöhlen blickenden Fassaden, die das hinter ihnen gähnende Nichts verstellen, aber geneigt scheinen, es offenbar zu machen, indem sie die schon das Pflaster bedeckenden Trümmer mehren. Mein Herz krampft sich in Erbarmen zusammen mit den törichten Gemütern meiner Söhne, die geglaubt haben wie die Masse des Volks, geglaubt, gejubelt, geopfert und gekämpft, und nun längst schon, wie Millionen ihrer Art, mit starrenden Augen die Ernüchterung schmecken, die bestimmt ist, zu letzter Ratlosigkeit, zu umfassender Verzweiflung zu werden. Mir, der an ihren Glauben nicht glauben, ihr Glück nicht teilen konnte, wird ihre Seelennot sie nicht näherbringen. Auch zur Last noch werden sie sie mir legen, — als ob die Dinge anders verlaufen wären, hätte ich ihren verworfenen Traum mitgeträumt. Gott helfe ihnen. Ich bin allein mit meiner alten Helene, die für mein Leibliches sorgt, und der ich zuweilen Abschnitte, denen ihre Schlichtheit gewachsen ist, aus diesem Schreibwerk vorlese, auf dessen Beendigung mitten im Untergang all mein Sinnen gerichtet ist. —

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Die Prophetie des Endes, genannt >Apocalipsis cum figuris<, erklang, schneidend und groß, im Februar 1926 zu Frankfurt am Main, ungefähr ein Jahr nach den schreckhaften Vorgängen, die ich zu berichten hatte, und es mochte zum Teil mit der Niedergeschlagenheit zusammenhängen, die diese ihm hinterlassen hatten, daß Adrian sich nicht überwand, seine übliche Zurückhaltung zu durchbrechen und dem hochsensationellen, wenn auch von viel bösem Geschrei und insipidem Gelächter begleiteten Ereignis beizuwohnen. Er hat das Werk, eines der beiden Haupt-Wahrzeichen seines herben und stolzen Lebens, niemals gehört, — was allerdings nach allem, was er wohl über das >Hören< zu sagen pflegte, nicht allzusehr zu beklagen erlaubt ist. Außer mir, der ich mich für die Reise frei zu machen wußte, war es aus unserem Bekanntenkreise nur die liebe Jeannette Scheurl, die trotz ihrer geringen Mittel zu der Aufführung nach Frankfurt fuhr und dem Freunde dann zu Pfeiffering in ihrem sehr persönlichen, aus Französisch und Bayerisch gemischten Dialekt darüber berichtete. Besonders gern sah er damals die elegante Bäuerin bei sich: sie besaß für ihn nun einmal eine wohltätig beruhigende Gegenwart, eine Art von beschützender Kraft, und tatsächlich habe ich ihn mit ihr in einem Winkel der Abtsstube Hand in Hand sitzen sehen, schweigend und wie geborgen. Dies Hand in Hand sah ihm nicht gleich, es war eine Veränderung, die ich mit Rührung, sogar mit Freude, aber auch nicht ganz ohne Ängstlichkeit wahrnahm.
Mehr als je liebte er es zu jener Zeit auch, Rüdiger Schildknapp, den Gleichäugigen, um sich zu haben. Zwar kargte der mit sich nach alter Art; wenn er aber, ein abgerissener Gentleman, sich einfand, so war er bereit zu den weiten Gängen über Land, die Adrian liebte, besonders wenn er nicht arbeiten konnte, und die Rüdiger ihm mit bitterlicher und grotesker Komik würzte. Arm wie eine Kirchenmaus, hatte er damals viel mit seinen vernachlässigten und verfallenden Zähnen zu tun und erzählte von nichts als treulosen Zahnärzten, die sich

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den Anschein gegeben hatten, ihn aus Freundschaft zu behandeln, dann aber plötzlich unerschwingliche Forderungen stellten, von Abzahlungssystemen, versäumten Terminen, nach denen er gezwungen gewesen war, wieder einen anderen Helfer, wohl wissend, daß er ihn nie werde befriedigen können und wollen, in Anspruch zu nehmen, und dergleichen mehr. Man hatte ihm unter Qualen eine umfangreiche Brücke auf verbleibende schmerzende Wurzeln gepreßt, die binnen kurzem unter der Last zu wanken begannen, so daß die makabre Auflösung des Kunstbaues, deren Folge die Kontrahierung neuer, nie zu begleichender Schulden sein würde, sich ankündigte. »Es — bricht — zusammen«, verkündete er schaurig, hatte aber nicht nur nichts dagegen, wenn Adrian Tränen lachte über all dies Elend, sondern schien es eben hierauf abgesehen zu haben und bog sich selber vor boyischem Lachen.
Seine galgenhumoristische Gesellschaft war dem Einsamen damals gerade recht, und ich, leider unbegabt, ihm d£s Komische zu bieten, tat das Meine, ihm diese Gesellschaft zu verschaffen, indem ich den meistens widerspenstigen Rüdiger zu Besuchen in Pfeiffering ermunterte. Adrians Leben war nämlich während dieses ganzen Jahres leer von Arbeit: Ideenlosigkeit, Reglosigkeit des Geistes hatten ihn, äußerst quälend, demütigend und ängstigend für ihn, wie aus seinen Briefen an mich hervorging, befallen und bildeten, wie er mir wenigstens erklärte, einen Hauptgrund für seine Absage nach Frankfurt. Unmöglich sei es, sich mit Getanem abzugeben im Zustande der Unfähigkeit, ein Besseres zu tun. Die Vergangenheit sei nur erträglich, wenn man sich ihr überlegen fühle, statt sie im Bewußtsein gegenwärtiger Ohnmacht blöde bestaunen zu müssen. »Öde, fast blöde« nannte er in Briefen, die er an mich nach Freising richtete, seine Verfassung, eine »Hundeexistenz«, ein »erinnerungsloses Pflanzendasein von unerträglicher Idyllik«, dessen Beschimpfung die einzige, klägliche Ehrenrettung sei, und das ihn dahin bringen könnte, neuen Krieg, Revolution oder dergleichen äußeren Lärm zu erwünschen, um nur dem Stumpfsinn entrissen zu werden. Vom Komponieren habe

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er buchstäblich nicht die geringste Vorstellung mehr, nicht mehr die schwächste Erinnerung, wie man das mache, und glaube zuversichtlich, daß er nie mehr eine Note aufschreiben werde. »Möge die Hölle sich meiner erbarmen«, »Bete für meine arme Seele!« — solche Wendungen wiederholten sich in diesen Dokumenten, die, mit wieviel Betrübnis sie mich erfüllten, mich doch auch wieder erhoben, da ich mir sagte, daß nun doch einmal nur ich, der Jugendgespiel, und sonst niemand in der Welt, den Empfänger solcher Bekenntnisse abgeben konnte.
In meinen Antworten suchte ich ihn zu trösten mit dem Hinweis, wie schwer es dem Menschen falle, über seinen gegenwärtigen Zustand hinauszudenken, den er immer, gefühlsmäßig, wenn auch gegen die Vernunft, als sein bleibendes Los anzusehen geneigt sei, unfähig, sozusagen, um die nächste Ecke zu sehen, — was vielleicht noch mehr für arge als für glückliche Zustände gelte. Seine Abspannung sei nur zu erklärlich durch die grausamen Enttäuschungen, die er jüngst erlitten. Und ich war schwach und >poetisch< genug, die Brache seines Geistes mit der »winterlich ruhenden Erde« zu vergleichen, in deren Schoß das Leben, neues Sprießen vorbereitend, sich heimlich fortrege, — ein, wie ich selber fühlte, unerlaubt gutmütiges Bild, das schlecht auf den Extremismus seines Daseins, den Wechsel von schöpferischer Entfesselung und abbüßender Lähmung paßte, dem er unterworfen war. Auch ging ja ein neues Tief seiner Gesundheit, mehr als Begleitung denn als Ursache wirkend, mit der Stagnation seiner schöpferischen Kräfte zusammen: Schwere Migräneanfälle hielten ihn im Dunkel, Magen-, Bronchial- und Rachenkatarrhe setzten ihm namentlich während des Winters 1926 wechselnd zu und hätten allein genügt, ihm die Reise nach Frankfurt zu verwehren, — ->wie sie ihm eine andere, menschlich gesehen noch dringlichere, unwidersprechlich, handgreiflich und nach dem kategorischen Spruch des Arztes verwehrten.
Gleichzeitig nämlich, fast auf den Tag — es ist sonderbar zu sagen — segneten gegen Ende des Jahres Max Schweigestill und

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Jonathan Leverkühn, beide fünfundsiebzigj ährig, das Zeitliche, — der Vater und Vorsteher von Adrians langjährigem oberbayerischem Gast-Haushalt und sein eigener Vater droben auf Hof Buchel. Das mütterliche Telegramm, das ihm das sanfte Verscheiden des >Spekulierers< meldete, traf ihn an der Bahre des ebenfalls still-gedankenvollen Schmauchers mit anderem Dialekt, der die Last der Wirtschaft längst mehr und mehr dem Erbsohne Gereon überlassen hatte, wie jener sie seinem Georg mochte überlassen haben und ihm nun endgültig abgetreten hatte. Adrian konnte sicher sein, daß Elsbeth Leverkühn diesen Hingang mit der gleichen stillen Gefaßtheit, demselben verständigen Willigen ins Menschliche hinnahm wie Mutter Schweigestill. An eine Fahrt ins Sächsisch-Thüringische zum Begräbnis war bei seinem damaligen Zustand nicht zu denken. Aber obgleich er an dem Sonntage fieberte und sich sehr schwach fühlte, bestand er, gegen die Abmahnung des Doktors, darauf, an der aus der ganzen Umgegend stark besuchten Bestattungsfeier für seinen Wirt in der Dorfkirche von Pf eiff ering teilzunehmen. Auch ich erwies dem Verblichenen die letzte Ehre, mit dem Gefühl, sie zugleich jenem anderen zu erweisen, und zu Fuß kehrten wir miteinander nach Haus Schweigestill zurück, eigentümlich berührt von der doch so wenig wunderbaren Wahrnehmung, daß trotz dem Verschwinden des Alten das knastrige Arom seiner Pfeife, aus der- offenstehenden Wohnstube hervordringend, aber auch wohl die Wände des Ganges tief imprägnierend, nach wie vor die Atmosphäre schwängerte.
»Das hält vor«, sagte Adrian. »Eine ganze Weile; vielleicht solange das Haus steht. Es hält auch in Buchel vor. Die Weile unseres Vorhaltens nachher, ein bißchen kürzer, ein bißchen länger, nennt man Unsterblichkeit.«
Es war nach Weihnachten, — das Fest hatten beide Väter, halb abgewandt schon, halb schon entfremdet dem Irdischen, noch mit den Ihren verbracht. Wie nun das Licht wuchs, schon in der Frühe des neuen Jahres, besserte sich zusehends Adrians Befinden, die Serie niederhaltender Krankheitsquälereien riß

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ab, seelisch schien er das Scheitern seiner Lebenspläne und was an erschütternder Einbuße damit verbunden gewesen war, überkommen zu haben, sein Geist erstand, — er mochte nun Mühe haben, seine Besonnenheit im Sturm andringender Ideen zu wahren, und dieses Jahr 1927 wurde das Jahr des kammermusikalischen Hoch- und Wunderertrages: zuerst der Ensemblemusik für drei Streicher, drei Holzbläser und Klavier, eines, ich möchte sagen, schweifenden Stückes mit sehr langen, phantasierenden Themen, die vielfältig verarbeitet und aufgelöst werden, ohne je offen wiederzukehren. Wie liebe ich die stürmisch vorwärtsdrängende Sehnsucht, die seinen Charakter ausmacht, das Romantische seines Tons! — da es doch mit den strengsten modernen Mitteln gearbeitet ist — thematisch zwar, aber mit so starken Abwandlungen, daß es eigentliche >Reprisen< nicht gibt. Ausdrücklich >Phantasie< heißt der erste Satz, der zweite ist ein in mächtiger Steigerung sich erhebendes Adagio, der dritte ein Finale, das leicht, fast spielerisch einsetzt, sich kontrapunktisch zunehmend verdichtet und zugleich immer mehr den Charakter tragischen Ernstes annimmt, bis es in einem düsteren, trauermarschähnlichen Epilog sich endigt. Nie ist das Klavier harmonisches Füllinstrument, sein Part ist solistisch wie in einem Klavierkonzert — darin wirkt wohl der Violinkonzertstil nach. Was ich vielleicht am tiefsten bewundere, ist die Meisterschaft, mit der das Problem der Klangkombination gelöst ist. Nirgends decken die Bläser die Streicher, sondern sparen diesen stets Klangraum aus und alternieren mit ihnen, nur an ganz wenigen Stellen sind Streicher und Bläser zum Tutti vereinigt. Und wenn ich den Eindruck zusammenfassen soll: Es ist, als würde man von einem festen und vertrauten Ausgang in immer entlegenere Regionen fortgelockt — alles geht anders zu, als man erwartet. »Ich habe«, sagte Adrian zu mir, »keine Sonate schreiben wollen, sondern einen Roman.«
Diese Tendenz zur musikalischen >Prosa< kommt auf ihre Höhe in dem Streichquartett, Leverkühns esoterischstem Werk vielleicht, das dem Ensemblestück auf dem Fuße folgte. Wenn

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sonst Kammermusik den Tummelplatz thematisch-motivischer Arbeit abgibt, so ist diese hier geradezu provokatorisch vermieden. Es gibt überhaupt keine motivischen Zusammenhänge, Entwicklungen, Variationen und keine Wiederholungen; ununterbrochen, in scheinbar völlig ungebundener Weise, folgt Neues, zusammengehalten durch Ähnlichkeit des Tones oder des Klanges oder, fast mehr noch, durch Kontraste. Von überlieferten Formen nicht eine Spur. Es ist, als ob der Meister in diesem scheinbar anarchischen Stück tief Atem holte zur FaustKantate, dem Gebundensten seiner Werke. In dem Quartett hat er sich nur seinem Ohr überlassen, der inneren Logik des Einfalls. Dabei ist die Polyphonie aufs äußerste gesteigert und jede Stimme in jedem Augenblick ganz selbständig. Artikuliert wird das Ganze durch sehr deutlich gegeneinander abgesetzte Tempi, obgleich die Teile ohne Unterbrechung durchzuspielen sind. Der erste, Moderato überschrieben, gleicht einem tief nachdenklichen, geistig angestrengten Gespräch und^Miteinander-zu-Rate-Gehen der vier Instrumente, einem Austausch ernsten und stillen Ganges, fast ohne dynamische Abwechslung. Es folgt ein wie im Delirium geflüsterter PrestoTeil, von allen vier Instrumenten mit Dämpfern gespielt, ein langsamer Satz sodann, kürzer gehalten, in welchem durchaus die Bratsche die Hauptstimme trägt, von Einwürfen der anderen Instrumente begleitet, so daß man an eine Gesangsszene erinnert ist. In dem >Allegro con fuoco< endlich lebt sich die Polyphonie in langen Linien aus. Ich kenne nichts Erregenderes als den Schluß, wo es ist, wie wenn von allen vier Seiten Flammen züngelten: eine Kombination von Läufen und Trillern, die den Eindruck erweckt, als höre man ein ganzes Orchester. Wirklich ist durch die Ausnutzung der weiten Lagen und der vorzüglichsten Klangmöglichkeiten jedes Instruments eine Sonorität erreicht, welche die üblichen Grenzen der Kammermusik sprengt, und ich zweifle nicht, daß die Kritik dem Quartett überhaupt entgegenhalten wird, es sei ein verkapptes Orchesterwerk. Sie wird unrecht haben. Das Studium der Partitur belehrt darüber, daß die subtilsten Erfahrungen des

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Streichquartett-Satzes verwertet sind. Freilich hat Adrian mir wiederholt die Ansicht geäußert, daß die alten Grenzen von Kammermusik und Orchesterstil nicht zu halten seien, und daß seit der Emanzipation der Farbe beides ineinander übergehe. Die Neigung zum Zwiestämmigen, zur Vermischung und Vertauschung, wie sie sich schon in der Behandlung des Vokalen und Instrumentalen in der >Apokalypse< anzeigt, war allerdings bei ihm im Wachsen. »Ich habe«, sagte er wohl, »im Philosophiekolleg gelernt, daß Grenzen zu setzen schon sie überschreiten heißt. Danach hab' ich's immer gehalten.« Was er meinte, war die Hegel'sche Kant-Kritik, und der Ausspruch zeigt, wie tief sein Schaffen vom Geistigen her — und von frühen Einprägungen — bestimmt war.
Und vollends dann das Trio für Geige, Viola und Violoncell, das, kaum spielbar, in der Tat nur von drei Virtuosen allenfalls technisch zu bezwingen, ebenso durch seinen konstruktiven Furor, die Hirnleistung, die es darstellt, wie durch die ungeahnten Klangmischungen in Erstaunen setzt, die ein das Unerhörte begehrendes Ohr, eine kombinatorische Phantasie sondergleichen den drei Instrumenten abgewonnen hat. »Unmöglich, aber dankbar«, so kennzeichnete Adrian in guter Laune das Stück, dessen Niederschrift er schon während der Entstehung der Ensemblemusik begonnen, und das er im Sinn getragen und ausgebildet hatte, beladen mit der Arbeit an dem Quartett, von dem man hätte denken sollen, daß es allein die organisierenden Kräfte eines Menschen auf lange und aufs letzte hätte verzehren müssen. Es war ein exuberantes Ineinander von Eingebungen, Forderungen, Erfüllungen und Abberufungen zur Bewältigung neuer Aufträge, ein Tumult von Problemen, die zusammen mit ihren Lösungen hereinbrachen, — »eine Nacht«, sagte Adrian, »in der es vor Blitzen nicht dunkel wird.«
»Eine etwas unmilde und zappelige Art von Beleuchtung«, fügte er wohl hinzu. »Was denn, ich zappele selbst, es hat mich verteufelt am Wickel und geht mit mir so dahin, daß mir wohl all mein Leichnam zittert. Einfälle, lieber Freund, sind ein

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unholdes Gelichter, sie haben heiße Backen, sie machen dir selber auf nicht ganz liebsame Art die Backen heiß. Zwischen Glück und Marter sollte man als Busenfreund eines Humanisten wohl jederzeit säuberlich unterscheiden können...« Und er gab an, daß er zuweilen nicht wisse, ob nicht die friedliche Unfähigkeit, in der er noch kürzlich gelebt, im Vergleich mit der gegenwärtigen Geplagtheit der wünschenswertere Zustand gewesen.
Ich verwies ihm den Undank. Mit Staunen, Tränen der Freude in den Augen und auch mit liebendem Schrecken insgeheim las und hörte ich von Woche zu Woche, was er — und zwar in reinlich-exakter, ja zierlicher Notation, die keine Spur von Fahrigkeit aufwies — zu Papier gebracht, — was, wie er sich ausdrückte, »sein Geist und Auerhahn« (er schrieb das Wort »Awerhan«) ihm eingesagt und abgefordert hatte. In einem Atem, besser gesagt: in einer Atemlosigkeit schrieb er die drei Stücke nieder, von denen eines genügt hätte, das Jahr seiner Entstehung denkwürdig zu machen, und begamvtatsächlich mit der Aufzeichnung des Trios an demselben Tage noch, an dem er das zuletzt komponierte >Lento< des Quartetts vollendet. »Es geht«, schrieb er mir, als ich einmal vierzehn Tage lang nicht kommen konnte, »als hätt' ich in Krakau studiert«, — eine Redensart, die ich nicht gleich verstand, bis ich mich erinnerte, daß es die Universität Krakau gewesen war, wo man im sechzehnten Jahrhundert die Magie öffentlich gelehrt hatte.
Ich kann versichern, daß ich sehr aufmerksam auf solche Stilisierungen seines Ausdrucks lauschte, die er zwar immer geliebt hatte, die aber jetzt häufiger als je —oder soll ich sagen: »zum offtermal«? — in seinen Briefen und selbst in seinem mündlichen Deutsch hervortraten. Bald sollte klarwerden, warum. Ein erster Wink war es für mich, als mir eines Tages auf seinem Arbeitstisch ein Notenblatt in die Augen fiel, worauf er mit breiter Feder die Worte geschrieben hatte:
»Die Trawrigkeit bewegte Doctor Faustum, daß er seine Weheklag auffzeichnete.«

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Er sah, was ich sah, und nahm mir mit einem »Was treibt der Herr und Bruder da für nichtwerden Fürwitz!« den Zettel vor den Augen weg. Was er plante und stille für sich, ohne eines Menschen Zutun, auszuführen gedachte, hielt er noch länger vor mir geheim. Aber von dem Augenblick an wußte ich, was ich wußte. Es steht über jedem Zweifel, daß das Jahr der Kammermusik 1927 auch das Jahr der Konzeption von >Doctor Fausti Weheklag< war. So unglaubwürdig es klingt: im Kampf mit Aufgaben, so hochkompliziert, daß man sich ihre Bewältigung nur bei höchster, ausschließendster Konzentration vorstellen kann, stand sein Geist zugleich schon, vorschauend, versuchend, Fühlung nehmend, im Zeichen des zweiten Oratoriums, — dieses zermalmenden Klage-Werkes, von dessen ernstlicher Angehung ein Lebenszwischenfall, so lieblich wie herzzerreißend, ihn zunächst noch ablenken sollte.


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