THOMAS MANN

Copyright 1947 by Thomas Mann
Alle Rechte vorbehalten durch S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

DOKTOR FAUSTUS
Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn
erzählt von einem Freunde


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XXVI

Es ist tröstlich, mir sagen zu können, daß der Leser den außerordentlichen Umfang des vorigen Abschnitts, der ja die beunruhigende Seitenzahl des Kapitels über Kretzschmars Vorträge noch beträchtlich übertrifft, nicht mir wird zur Last legen dürfen. Die damit verbundene Zumutung liegt außer meiner Autorenverantwortung und darf mich nicht kümmern. Adrians Niederschrift irgendeiner erleichternden Redaktion zu unter

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werfen; das »Zwiegespräch« (man beachte die protestierenden Gänsefüßchen, mit denen ich dies Wort versehe, ohne mir freilich zu verhehlen, daß sie ihm nur einen Teil des ihm innewohnenden Grauens zu entziehen vermögen) — dies Gespräch also in einzeln bezifferte Paragraphen aufzulösen, konnte keine Rücksicht auf die ermüdbare Rezeptionsfähigkeit des Publikums mich bewegen. Mit leidvoller Pietät hatte ich ein Gegebenes wiederzugeben, es von Adrians Notenpapier in mein Manuskript zu übertragen; und das habe ich nicht nur Wort für Wort, sondern, ich darf wohl sagen: Buchstaben für Buchstaben getan, — oft die Feder niederlegend, oft zu meiner Erholung mich unterbrechend, um mit gedankenschweren Schritten mein Arbeitszimmer zu durchmessen oder mich, die Hände über der Stirn gefaltet, aufs Sofa zu werfen, so daß mir tatsächlich, wie sonderbar das klingen möge, ein Kapitel, das ich nur zu kopieren hatte, nicht schneller von der so manches Mal zitternden Hand gegangen ist als irgendein früheres eigener Komposition.
Ein sinn- und gedankenvolles Abschreiben ist in der Tat (wenigstens für mich; aber auch Monsignore Hinterpförtner stimmt mir hierin bei) eine ebenso intense und zeitverzehrende Beschäftigung wie das Niederlegen eigener Gedanken, und wie schon an früheren Punkten der Leser die Zahl der Tage und Wochen, die ich der Lebensgeschichte meines verewigten Freundes schon gewidmet hatte, unterschätzt haben mag, so wird er auch jetzt bei seiner Vorstellung hinter dem Zeitpunkt zurückgeblieben sein, zu dem ich die gegenwärtigen Zeilen abfasse. Möge er meine Pedanterie belächeln, aber ich halte es für richtig, ihn wissen zu lassen, daß, seit ich diese Aufzeichnungen begann, schon fast ein Jahr ins Land gegangen und über der Abfassung der üngsten Kapitel der April 1944 herangekommen ist.
Selbstverständlich meine ich mit diesem Datum dasjenige, unter dem ich selbst mit meiner Tätigkeit stehe, — nicht das, bis zu welchem meine Erzählung fortgeschritten ist, und das ja auf den Herbst 1912, zweiundzwanzig Monate vor Ausbruch des vorigen Krieges, lautet, als Adrian mit Rüdiger Schildknapp

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von Palestrina nach München zurückkehrte und für sein Teil zunächst in einer Schwabinger Fremdenpension (Pension Gisella) Wohnung nahm. Ich weiß nicht, warum diese doppelte Zeitrechnung meine Aufmerksamkeit fesselt, und weshalb es mich drängt, auf sie hinzuweisen: die persönliche und die sachliche, die Zeit, in der der Erzähler sich fortbewegt, und die, in welcher das Erzählte sich abspielt. Es ist dies eine ganz eigentümliche Verschränkung der Zeitläufe, dazu bestimmt übrigens, sich noch mit einem Dritten zu verbinden: nämlich der Zeit, die eines Tages der Leser sich zur geneigten Rezeption des Mitgeteilten nehmen wird, so daß dieser es also mit einer dreifachen Zeitordnung zu tun hat: seiner eigenen, derjenigen des Chronisten und der historischen.
Ich will mich in diese Spekulationen, die in meinen eigenen Augen das Gepräge einer gewissen erregten Müßigkeit tragen, nicht weiter verlieren und nur hinzufügen, daß das Wort »historisch« mit weit düstererer Vehemenz auf die Zeit zutrifft, in welcher —, als auf die, über welche ich schreibe. In den letzten Tagen wütete der Kampf um Odessa, eine verlustreiche Schlacht, die mit dem Fall der berühmten Stadt am Schwarzen Meer in die Hände der Russen geendet hat, ohne daß freilich der Gegner vermocht hätte, unsere Ablösungsoperationen zu stören. Er wird dazu auch gewiß in Sebastopol nicht imstande sein, ein anderes unserer Faustpfänder, das der offenbar überlegene Gegner uns nunmehr entreißen zu wollen scheint. Unterdessen wächst der Schrecken der fast täglichen Luftangriffe auf unsere wohlumgürtete Festung Europa ins Überdimensionale. Was hilft es, daß viele dieser ein immer sprengmächtigeres Verderben niedersendenden Ungeheuer unserer heldenhaften Abwehr zum Opfer fallen? Tausende verdunkeln den Himmel des kühn geeinten Kontinents, und immer weitere unserer Städte sinken in Trümmer. Leipzig, das in Leverkühns Werdegang, seiner Lebenstragödie eine so bedeutsame Rolle spielt, hat es letzthin mit voller Wucht getroffen: sein berühmtes Verlagsviertel ist, wie ich hören muß, nur noch eine Schutthalde und unermeßliches literarisches Lehr- und Nutzgut ein

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Raub der Zerstörung geworden — ein schwerster Verlust nicht nur für uns Deutsche, sondern für die bildungsbeflissene Welt überhaupt, die ihn aber verblendeter- oder richtigerweise — ich wage das nicht zu entscheiden — in Kauf nehmen zu wollen scheint.
Ja, ich fürchte, es wird uns zum Verderben ausschlagen, daß eine fatal inspirierte Politik uns zugleich mit der menschenreichsten, überdies revolutionär gehobenen Macht und der an Erzeugungskapazität gewaltigsten in Konflikt gebracht hat, — wie es ja aussieht, als ob diese amerikanische Produktionsmaschine nicht einmal auf höchsten Touren zu laufen brauchte, um eine alles erdrückende Fülle von Kriegsgerät hervorzuschleudern. Daß die entnervten Demokratien diese furchtbaren Mittel sogar zu benutzen wissen, ist eine verblüffende, eine ernüchternde Erfahrung, unter der wir uns täglich mehr des Irrtums entwöhnen, als sei der Krieg ein deutsches Prärogativ, und in der Kunst der Gewalt müßten andere sich als dilettantische Stümper erweisen. Wir haben angefangen (Monsignore Hinterpförtner und ich sind darin keine Ausnahme mehr), uns von der Kriegstechnik der Anglosachsen durchaus aller Dinge zu versehen, und die Invasionsspannung wächst: Der Angriff von allen Seiten, mit überlegenem Material und Millionen Soldaten auf unser europäisches Kastell — oder soll ich sagen: unser Gefängnis, soll ich sagen: unser Narrenhaus? — wird erwartet, und nur die eindrucksvollsten Schilderungen der gegen die feindliche Landung getroffenen Vorkehrungen, die wahrhaftig großartig zu sein scheinen — Vorkehrungen, dazu bestimmt, uns und den Erdteil vor dem Verlust unserer gegenwärtigen Führer zu schützen —, vermögen dem allgemeinen Grauen vor dem Kommenden ein seelisches Gegengewicht zu halten.
Gewiß, die Zeit, in der ich schreibe, hat ungleich mächtigeren geschichtlichen Impetus als die, von der ich schreibe, die Zeit Adrians, die ihn nur an die Schwelle unserer unglaubwürdigen Epoche führte, und mir ist zumute, als sollte man ihm, als sollte man all denen, die nicht mehr mit uns sind und

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nicht mehr mit uns waren, als dies begann, ein »Wohl euch!«, ein herzliches »Ruht iit Frieden!« zurufen. Die Geborgenheit Adrians vor unseren Lebetagen ist mir teuer, ich halte sie wert vor mir und nehme dafür, daß ich mir ihrer bewußt sein darf, gern die Schrecken der Zeit in Kauf, in der ich fortwähre. Es ist mir, als stände und lebte ich für ihn, statt seiner, als trüge ich die Last, die seinen Schultern erspart geblieben, kurz, als erwiese ich ihm ein Liebes, indem ich's ihm abnähme zu leben; und diese Vorstellung, so illusorisch, ja närrisch sie sei, tut mir wohl, sie schmeichelt dem stets gehegten Wunsch, ihm zu dienen, zu helfen, ihn zu schützen, — diesem Bedürfnis, dem zu Lebzeiten des Freundes nur so geringfügige Befriedigung vergönnt war.

*

Bemerkenswert bleibt mir, daß Adrians Aufenthalt in der Schwabinger Pension nur einige Tage währte, und daß er überhaupt keinen Versuch machte, in der Stadt eine passende Dauerwohnung aufzutreiben. Schildknapp hatte schon von Italien aus an seine früheren Mietsleute in der Amalienstraße geschrieben und sich die gewohnte Unterkunft aufs neue gesichert. Adrian dachte nicht daran, etwa bei der Senatorin Rodde wieder Wohnung zu nehmen, noch überhaupt in München zu bleiben. Seine Entschlüsse schienen seit langem stillschweigend festgestanden zu haben — und zwar so, daß er auch nicht erst eine vorläufige Fahrt nach Pfeiffering bei Waldshut, zur Rekognoszierung und Abrede unternahm, sondern sie durch ein bloßes Telephon-Gespräch, noch dazu ein ganz bündiges, ersetzte. Er rief aus der Pension Gisella die Schweigestills an — es war Mutter Else selbst, die ihm am Apparat respondierte —, stellte sich als einen der beiden Radfahrer vor, die einst Haus und Hof hatten inspizieren dürfen, und fragte an, ob und zu welchem Preise man ihm ein Schlafzimmer im Oberstock und als Tagesaufenthalt die Abtsstube im Erdgeschoß überlassen wolle. Den Preis, der sich dann, Verköstigung und Bedienung eingeschlossen, als sehr mäßig erwies, ließ Frau Schweigestill

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zunächst noch dahinstehen; sie machte erst einmal aus, um welchen der beiden Besucher von damals es sich handelte, den Schriftsteller oder den Musiker, nahm mit einem spürbaren Nachprüfen ihres Eindrucks von damals zur Kenntnis, daß es der Musiker sei, und erhob Bedenken gegen sein Ansuchen dann allein in seinem eigenen Interesse und unter seinem eigenen Gesichtspunkt, — übrigens auch dies nur in der Form, daß sie meinte, er müsse am besten wissen, was ihm fromme. Sie, Schweigestills, sagte sie, seien keine Gewohnheitsvermieter von Erwerbs wegen, sondern nähmen nur gelegentlich, sozusagen von Fall zu Fall, Mieter und Kostgänger auf; das hätten die Herren ja damals gleich aus ihren Mitteilungen entnehmen können, und ob er, Sprecher, nun eine solche Gelegenheit und einen solchen Fall darstelle, das zu beurteilen müsse sie ihm überlassen. Recht still und einförmig werde er es halt haben bei ihnen, übrigens auch primitiv, was die Bequemlichkeiten angehe: kein Badezimmer, kein WC, sondern was Bäurisches statt dessen, außer dem Hause, und sie wundere sich doch, daß ein Herr von, wenn sie recht verstanden habe, noch nicht Dreißig, der einer von den schönen Künsten nachgehe, so abseits von den Stätten, wo die Kultur sich abspiele, auf dem Lande, sein Quartier machen wolle. Vielmehr »wundern« sei nicht das rechte Wort, es liege nicht in ihrer und ihres Mannes Art, sich zu wundern, und wenn es vielleicht gerade das sei, was er suche, weil sich ja'wirklich die meisten Leut zu viel wunderten, dann möge er nur kommen. Zu überlegen aber sei es, besonders da Max, ihr Mann, und sie selbst Wert darauf legten, daß ein solches Verhältnis nicht bloßer Laune entspringe, kündbar nach kurzem Versuch, sondern daß ihm von vornherein eine gewisse Dauer zugedacht sei, net wahr, gellen S' ja? und so weiter.
Er komme für die Dauer, antwortete Adrian, und überlegt sei die Sache seit Jahr und Tag. Die Lebensform, die ihn erwarte, sei innerlich geprüft, gut befunden und angenommen. Mit dem Preis, einhundertzwanzig Mark monatlich, sei er einverstanden. Die Auswahl des Schlafzimmers droben lasse er

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ihre Sache sein und freue sich auf die Abtsstube. Über drei Tage wolle er einziehen.
Und so geschah es. Adrian benutzte seinen kurzen Aufenthalt in der Stadt zu Verabredungen mit einem ihm empfohlenen (ich glaube: von Kretzschmar empfohlenen) Kopisten, erstem Fagottbläser des Zapfenstößer-Orchesters, Griepenkerl mit Namen, der sich durch diesen Nebenberuf ein Stück Geld verdiente, und ließ einen Teil der Partitur von >Love's Labour's Lost< schon in seinen Händen zurück. Ganz fertig war er in Palestrina mit seinem Werk nicht geworden, instrumentierte noch an den beiden letzten Akten, war auch mit der sonatenförmigen Ouvertüre noch nicht im reinen, deren ursprüngliche Konzeption sich ihm durch die Einführung jenes frappierenden und der Oper selbst ganz fremden, in der Wiederholung und im Schluß-Allegro eine so geistvolle Rolle spielenden Nebenthemas stark verändert hatte, und hatte überdies viel Mühe mit der Eintragung der Vortrags- und Tempobezeichnungen, die er während des Komponierens über weite Strecken hin anzumerken versäumt hatte. Übrigens war mir klar, daß es nicht zufällig mit der Beendigung seines italienischen Aufenthaltes und dem Abschluß des Werkes nicht hatte stimmen wollen. Selbst wenn er bewußterweise nach dieser Koinzidenz gestrebt hatte, war sie nach heimlicher Absicht nicht zustande gekommen. Viel zu sehr war er der Mann des Semper idem und der Selbstbehauptung gegen die Umstände, um es als wünschenswert anzusehen, bei einem Szenenwechsel des Lebens mit der im vorigen Zustand betriebenen Sache rein zu Rande gekommen zu sein. Besser, um der inneren Kontinuität willen, sei es, so sagte er selbst, in die neuen Verhältnisse einen Rest der den alten zugehörigen Beschäftigung mitzubringen und innerlich Neues erst ins Auge zu fassen, wenn das äußerlich Neue Routine geworden sei.
Mit seinem niemals schweren Gepäck, zu dem eine die Partitur bergende Aktenmappe und die Gummiwanne gehörten, die ihm schon in Italien das Bad ersetzt hatte, fuhr er vom Starnberger Bahnhof in einem der Personenzüge, die nicht nur

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in Waldshut, sondern, zehn Minuten später, auch in Pf eiff ering halten, an sein Ziel, indem er zwei Kisten mit Büchern und Utensilien der Fracht überließ. Es ging der Oktober zu Ende, das Wetter, noch trocken, war rauh schon und düster. Die Blätter fielen. Der Sohn des Hauses Schweigestill, Gereon, derselbe, der die neue Düngerstreu-Maschine eingeführt hatte, ein eher unverbindlicher und kurz angebundener, aber offenbar seiner Angelegenheiten sicherer junger Ackerbürger, erwartete vor der kleinen Station den Gast auf dem Bock eines Char ä bancs, das hoch von Gestell und hart gefedert war, und ließ, während der Träger die Handkoffer einlud, die Peitschenschnur über den Rücken des Gespanns, zweier muskulöser Braunen, spielen. Es wurden auf der Fahrt nicht viele Worte gewechselt. DenRohmbühel mit seinem Baumkranz, den grauen Spiegel des Klammerweihers hatte Adrian schon vom Zuge aus wiedergesehen; jetzt ruhte sein Auge von nahebei auf diesen Erscheinungen. Bald war das Klosterbarock von Haus Schweigestill in Sicht; im offenen Viereck des Hofes beschrieb das Gefährt einen Bogen um die im Wege stehende alte Ulme herum, deren Blätter zum guten Teil schon auf der sie einfassenden Rundbank lagen.
Frau Schweigestill stand mit Clementine, ihrer Tochter, einem braunäugigen Landmädchen in züchtig bäuerlicher Tracht, vor dem Haustor mit dem geistlichen Wappen. Ihre Begrüßungsworte gingen unter in dem Gebell des Kettenhundes, der vor Aufregung in seine Schüsseln trat und fast seine strohbelegte Hütte von der Stelle gerissen hätte. Es fruchtete nichts, daß sowohl Mutter wie Tochter wie auch die beim Abladen des Gepäcks behilfliche mistfüßige Stallmagd (Waltpurgis) ihm ihr »Geh, Kaschperl, sei stat!« zuriefen (das im Dialekt stehengebliebene althochdeutsche »stäti«, im Mittelhochdeutschen »staete«, dann »stet«, das ist: »ruhig« und »unbeweglich«). Der Hund tobte weiter, und Adrian, nachdem er eine Weile lächelnd hinübergesehen, ging zu ihm heran. »Suso, Suso«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, mit einer gewissen erstaunt mahnenden Betonung, und siehe: wohl rein unter dem Einfluß des beschwichtigend summenden Lautes kam fast ohne

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Übergang das Tier zur Ruhe und ließ es zu, daß der Beschwörer die Hand ausstreckte und sanft seine von alten Beißereien narbige Schädeldecke streichelte, wobei es mit seinen gelben Augen in tiefem Ernst zu ihm emporblickte.
»Mut haben S', Respekt!« sagte Frau Else, als Adrian zum Tor zurückkehrte. »Die meisten Leut haben Angst vor dem Viech, und wenn sich's anstellt wie grad jetzt, kann man's auch keinem verdenken. Der junge Lehrer vom Dorf, den wo früher die Kinder g'habt ham — o mei, er war bloß ein Krischperl — hat alleweil g'sagt: >Den Hund, Frau Schweigestill, fiacht i nämlich!<«
»Ja, ja!« lachte Adrian kopfnickend, und sie gingen ins Haus, in die Knaster-Atmosphäre, gingen hinauf in den Oberstock, wo die Frau ihn in das ihm zugedachte Schlafzimmer am weißen, modrig riechenden Gang einführte, mit dem bunten Spind, dem hoch aufgemachten Bett. Man hatte ein übriges getan und noch einen grünen Lehnstuhl hineingestellt mit einer Flickendecke zu Füßen davor auf dem fichtenen Boden. Gereon und Waltpurgis stellten die Handkoffer dorthin.
Schon hier und auf dem Wege die Treppe wieder hinab begannen die Verabredungen für des Gastes Bedienung und Lebensordnung, die dann in der Abtsstube drunten, diesem charaktervoll altvaterischen Raum, von dem Adrian längst innerlich Besitz ergriffen hatte, fortgesetzt und festgelegt wurden: der große Krug heißen Wassers am Morgen, der starke Kaffee im Schlafzimmer, die Stunde der Mahlzeiten, — Adrian sollte sie nicht mit der Familie nehmen, man hatte das nicht erwartet, auch lagen für ihn die Zeiten zu früh; um ein einhalb und acht Uhr sollte ihm einzeln aufgedeckt sein, am besten im großen Zimmer vorn (dem Bauernsaal mit der Nike und dem Tafelklavier), meinte Frau Schweigestill, das ihm ohnehin auch nach Bedarf zur Verfügung stehe. Und sie versprach leichte Kost, Milch, Eier, geröstetes Brot, Gemüsesuppen, ein gutes rotes Beefsteak mit Spinat zu Mittag und hinterdrein eine handliche Omelette mit Apfel-Marmelade darin, kurz, Dinge, die nährten und dabei einem heikligen Magen genehm seien wie also dem seinen.

»Der Magen, mei Liaba, das ist meist gar net der Magen, es ist der Kopf, der heiklige, angestrengte Kopf, der wo einen so großen Einfluß hat auf den Magen, auch wenn dem selber gar nichts fehlt«, wie man es ja an der Seekrankheit kenne und an der Migräne . . . Aha, Migräne habe er manchmal, und zwar recht schwer? Sie habe sich's doch gedacht! Sie habe sich's tatsächlich vorhin schon gedacht, als er im Schlafzimmer die Läden und die Verdunkelungsmöglichkeit so genau untersucht habe; denn Dunkelheit, im Dunkeln liegen, Nacht, Finsternis, überhaupt kein Licht in die Augen, das sei ja das Rechte, solang die Misere daure, und dazu recht starken Tee, recht sauer von viel Zitrone. Frau Schweigestill war nicht unbekannt mit der Migräne, — will sagen: sie selbst hatte sie nie gekannt, wohl aber hatte ihr Max in früheren Jahren periodisch daran gelitten; mit der Zeit habe bei ihm sich das Übel verloren. Von Entschuldigungen des Gastes seiner Infirmität wegen, und daß er mit seiner Person sozusagen einen Quartalspatienten ins Haus geschmuggelt habe, wollte sie nichts hören und sagte nur: »A, geh!« dazu. Irgend etwas dergleichen, meinte sie, habe man sich doch gleich denken müssen; denn wenn einer wie er sich von dort, wo die Kultur vor sich gehe, nach Pfeiffering zurückziehe, so werde er ja seine Gründe dafür haben, und offenbar handle es sich denn doch um einen Fall, der Anspruch auf Verständnis habe, »gellen S', Herr Leverkühn?« Dies aber sei ein Ort des Verständnisses, wenn auch nicht der Kultur. Und was die brave Frau sonst noch sagte.
Zwischen ihr und Adrian wurden damals im Stehen und Umhergehen Abmachungen getroffen, die, unerwartet vielleicht für beide, auf achtzehn Jahre sein äußeres Leben ordnen sollten. Es wurde der Dorfschreiner gerufen, daß er in der Abtsstube zu Seiten der Tür den Raum ausmäße für Borte zur Aufnahme von Adrians Büchern, nicht höher jedoch als die alte Holzverkleidung unter der Ledertapete; auch wurde die Elektrifizierung des Kronleuchters mit den Wachskerzenstummeln gleich ausgemacht. Noch diese und jene Veränderung erfuhr mit der Zeit das Zimmer, dem es bestimmt war, die Geburt so

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vieler, der öffentlichen Kenntnisnahme und Bewunderung heute noch mehr oder weniger vorenthaltener Meisterwerke zu sehen. Ein fast die Fläche füllender Teppich bedeckte bald, im Winter nur allzu notwendig, die schadhaften Bretter dielen; und zu der, außer dem Savonarola-Sessel vorm Arbeitstisch, die einzige Sitzgelegenheit bildenden Eckbank kam, ohne Stilzärtelei, die nicht Adrians Sache war, schon nach einigen Tagen ein sehr tiefer, mit grauem Sammet bezogener, bei Bernheimer in München erworbener Lese- und Ruhestuhl, ein löbliches Stück, das im Verein mit dem heranzuschiebenden Fußteil, einem KissenTaburett, eher den Namen der >Chaiselongue< verdiente als der übliche Diwan, und seinem Besitzer fast zwei Jahrzehnte lang gute Dienste leistete.
Die Einkäufe (Teppich und Stuhl) in dem Ausstattungspalast am Maximiliansplatz erwähne ich teilweise zu dem Zweck, um deutlich zu halten, daß dem Verkehr mit der Stadt durch reichliche Zugverbindungen, darunter mehrere Schnellzüge, die weniger als eine Stunde brauchten, bequemer Vorschub geleistet war und Adrian sich denn, doch nicht, wie die Ausdrucksweise Frau Schweigestills vermuten lassen könnte, durch seine Niederlassung in Pfeiffering völlig in Einsamkeit vergrub und vom >Kulturleben< abschnitt. Selbst wenn er eine abendliche Veranstaltung, ein Akademie-Konzert oder ein solches der Zapfenstößer-Kapelle, eine Opern-Aufführung oder eine Gesellschaft — auch das kam vor — besuchte, stand ihm ein Elf-UhrZug zur nächtlichen Heimkehr zur Verfügung. Freilich durfte er dann nicht auf Abholung von der Station durch Schweigestill'sches Fuhrwerk rechnen; Abmachungen mit einem Waldshuter Fuhrgeschäft galten in solchen Fällen, und übrigens liebte er es sogar, in klaren Winternächten den Weg am Weiher entlang zum schlummernden Schweigestill-Hof zu Fuße zu machen, wobei er dem um diese Stunde der Kette ledigen Kaschperl oder Suso von weitem ein Zeichen zu geben wußte, damit er nicht Lärm schlüge. Er tat es auf einem durch Schräubwerk umzustimmenden Metallpfeifchen, dessen oberste Töne von so extrem hoher Schwingungszahl waren, daß das menschliche Ohr

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sie selbst in der Nähe kaum aufnahm. Dagegen wirkten sie sehr stark und aus erstaunlich weiter Ferne auf das ganz anders geartete Trommelfell des Hundes, und Kaschperl verhielt sich mucksmäuschenstill, wenn der geheime, sonst von niemandem vernommene Laut durch die Nacht zu ihm gedrungen war.
Es war Neugier, es war aber auch die Anziehungskraft, die meines Freundes kühl verschlossene, ja in Hochmut scheue Person auf so manchen ausübte, daß umgekehrt bald auch dieser und jener Besuch aus der Stadt sich in seinem Refugium einfand. Ich will Schildknappen den Vortritt lassen, den er in Wirklichkeit besaß: Natürlich war er der erste, der herüberkam, um zu sehen, wie Adrian es an der gemeinsam ausfindig gemachten Stätte triebe; und in der Folge, besonders zur Sommerszeit, verbrachte er oft das Wochenende bei ihm in Pf eiffering. Zink und Spengler sprachen zu Rade vor, denn Adrian hatte, zu Einkäufen in der Stadt, die Roddes in der Rambergstraße wieder begrüßt, und durch die Töchter hatten die Malerfreunde von seiner Rückkehr gehört, seinen Aufenthalt erfahren. Aller Vermutung nach war die Initiative zu dem Besuch in Pfeiffering bei Spengler gewesen, denn Zink, als Maler begabter und antriebsvoller als jener, aber menschlich viel unfeiner, hatte gar keinen Sinn für Adrians Wesen und war gewiß eben nur, als der Unzertrennliche, dabei, — österreichisch einschmeichelnd, mit »Küß die Hand« und falscher JessasjaBewunderung für alles, was man ihm zeigte, im Grunde feindselig. Seine Clownerien, die possierlichen Wirkungen, die er aus seiner langen Nase, seinen dicht beieinanderliegenden, die Frauen lächerlich hypnotisierenden Augen zog, verfingen nun wieder bei Adrian nicht, so dankbar empfänglich der sonst für das Komische war. Es leidet aber dieses unter der Eitelkeit; und dann war da bei dem faunischen Zink eine schon langweilige Art, im Gespräch auf jedes Wort aufzupassen, ob ihm nicht ein geschlechtlicher Doppelsinn beizulegen sei, in den er einhaken konnte, — eine Manie, die Adrian, wie Zink wohl merkte, auch nicht eben entzückte.
Spengler, blinzelnd und ein Grübchen in der Wange, lachte

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herzlich meckernd bei diesen Zwischenfällen. Das Geschlechtliche amüsierte ihn in einem literarischen Sinn; sexus und Geist hingen ihm eng zusammen, — was an sich nicht falsch ist. Seine Bildung (wir wissen es ja), sein Sinn für Verfeinerung, Esprit, Kritik gründete in seinem akzidentellen und malheurhaften Verhältnis zur geschlechtlichen Sphäre, der körperlichen Festlegung darauf, die das reine Pech und für sein Temperament, seine Leidenschaftlichkeit in dieser Beziehung weiter gar nicht charakteristisch war. Lächelnd plauderte er, in der Art jener ästhetischen Kulturepoche, die heute so tief versunken scheint, von künstlerischen Vorkommnissen, literarischen und bibliophilen Erscheinungen, referierte Münchener Stadtklatsch und verweilte sehr drollig auch bei einer Geschichte, wie der Großherzog von Weimar und der Theaterdichter Richard Voß, zusammen in den Abruzzen reisend, von einer echten Räuberbande überfallen worden waren, — was bestimmt von Voß arrangiert gewesen sei. Adrianen sagte er gescheite Artigkeiten über die Brentano-Gesänge, die er gekauft und am Piano studiert hatte. Er tat damals die Äußerung, daß die Beschäftigung mit diesen Liedern eine entschiedene und fast gefährliche Verwöhnung bedeute: Nicht leicht wolle einem etwas anderes von der Gattung danach noch gefallen. Sagte auch weiter noch ganz gute Dinge über die Verwöhnung, — als welche ja zuerst den hochbedürftigen Künstler selbst betreffe und ihm gefährlich werden könne. Denn mit jedem zurückgelegten Werk mache er sich das Leben schwerer und endlich doch wohl unmöglich, da die Selbstverwöhnung durch das Außergewöhnliche und an allem anderen den Geschmack Verderbende ihn zuletzt in die Disintegration, ins Unmachbare, nicht mehr zu Bewerkstelligende treiben müsse. Das Problem für den Hochbegabten sei, wie er sich, trotz der immer fortschreitenden Verwöhnung und um sich greifenden Ekeligkeit, immer doch noch im Machbaren halte.
So gescheit war Spengler — nur auf Grund seiner spezifischen Festgelegtheit, wie sein Blinzeln und Meckern andeuteten. — Nach diesen kamen Jeannette Scheurl und Rudi Schwerdtfeger zum Tee, um zu sehen, wie Adrian wohnte.

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Jeannette und Schwerdtfeger musizierten manchmal zusammen, sowohl vor den Gästen der alten Madame Scheurl wie auch privatim, und so hatten sie sich zu der Fahrt nach Pfeiffering verabredet, wobei Rudolf die telephonische Anmeldung übernommen hatte. Ob auch die Anregung sein gewesen oder diese von Jeannette ausgegangen war, blieb dahingestellt. Sie stritten sogar darüber in Adrians Gegenwart und schoben einander das Verdienst an der Aufmerksamkeit zu, welche sie ihm erwiesen. Jeannettens drollige Impulsivität spricht für ihre Autorschaft; aber gar zu gut stimmte der Einfall doch auch wieder mit Rudi's erstaunlicher Zutraulichkeit zusammen. Er schien der Meinung zu sein, daß er sich vor zwei Jahren mit Adrian geduzt habe, während es doch nur ganz gelegentlich, im Karneval, und auch dann durchaus einseitig, nämlich auf Rudi's Seite, zu dieser Anrede gekommen war. Nun nahm er sie treuherzig wieder auf und stand — übrigens ohne jede Empfindlichkeit — erst davon ab, als Adrian schon zum zweiten oder dritten Mal das Eingehen darauf verweigert hatte. Die unverhohlene Erheiterung der Scheurl über diese Niederlage seiner Zutunlichkeit berührte ihn gar nicht. Kein Anflug von Verwirrung zeigte sich in seinen blauen Augen, die mit so dringlicher Naivität in den Augen dessen wühlen konnten, der etwas Gescheites, Gelehrtes oder Gebildetes sagte. Noch heute denke ich nach über Schwerdtfeger und frage mich, wie weit er sich eigentlich auf Adrians Einsamkeit und damit auch auf die Bedürftigkeit, Verführbarkeit solchen Alleinseins verstand und seine gewinnenden oder, um mich derb auszudrücken, herumkriegenden Talente daran zu bewähren wünschte. Zweifellos war er zum Gewinnen und Erobern geboren; aber ich müßte fürchten, ihm unrecht zu tun, wenn ich ihn nur von dieser Seite sähe. Er war auch ein guter Kerl und ein Künstler, und daß Adrian und er einander später tatsächlich duzten und mit Vornamen nannten, möchte ich nicht als einen schnöden Erfolg von Schwerdtfegers Gefallsucht betrachten, sondern darauf zurückführen, daß er den Wert des außerordentlichen Menschen redlich empfand, ihm wahrhaft zugetan war und daraus die verblüffende

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Unbeirrbarkeit schöpfte, die schließlich über die Kälte der Melancholie den Sieg—übrigens einen Verhängnis vollen Sieg—davontrug. — Aber nach alter, fehlerhafter Gewohnheit greife ich vor.
In ihrem großen Hut, von dessen Rand sich ein feiner Schleier zur Nasenspitze spannte, spielte Jeannette Scheurl Mozart auf dem Tafelklavier im Schweigestill'schen Bauersalon, und Rudi Schwerdtfeger pfiff dazu mit einer bis zur Lächerlichkeit erfreulichen Kunstfertigkeit: Ich habe das später auch bei Roddes und Schlaginhaufens gehört und mir von ihm erzählen lassen, wie er schon als ganz kleiner Junge, bevor er Violinunterricht bekam, diese Technik auszubilden begonnen und sich im reinen Nachpfeifen vernommener Musikstücke, fast wo er ging und stand, geübt, auch später an dem Erworbenen immer fortentwickelt hatte. Es war glänzend, — eine kabarettreife Fertigkeit, die fast mehr imponierte als sein Geigenspiel, und für die er organisch besonders glücklich angelegt sein mußte. Die Kantilene war höchst angenehm, mehr von Violin- als von Flötencharakter, die Phrasierung meisterhaft, und die kleinen Noten kamen, im staccato wie in der Gebundenheit, nie oder fast nie versagend, mit ergötzlicher Präzision. Kurzum, es war vorzüglich, und die Vereinigung des Schusterbubenhaften, das nun einmal dieser Technik anhaftet, mit dem künstlerisch Ernstzunehmenden erregte eine besondere Heiterkeit. Unwillkürlich applaudierte man lachend, und auch Schwerdtfeger lachte knabenhaft, indem er die Schulter in den Kleidern rückte und mit dem Mundwinkel jene kurze Grimasse vollführte.
Dies also waren Adrians erste Gäste in Pfeiffering. Und bald denn nun auch kam ich selbst und wandelte an seiner Seite sonntags um seinen Weiher und den Rohmbühel hinauf. Nur den Winter noch, nach seiner Rückkehr von Italien, verlebte ich fern von ihm; zu Ostern 1913 hatte ich meine Anstellung am Freisinger Gymnasium erreicht, wobei mir das katholische Bekenntnis meiner Familie zustatten gekommen war. Ich verließ Kaisersaschern und siedelte mit Weib und Kind an den Strand der Isar über, an diesen würdigen Ort und vielhundertjährigen Bischofssitz, wo ich, in bequemem Kontakt mit der Hauptstadt

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und also auch mit meinem Freunde, einige Kriegsmonate ausgenommen, mein Leben verbracht und der Tragödie des seinen in liebender Erschütterung beigewohnt habe.

XXVII

Fagottist Griepenkerl hatte mit der Abschrift der Partitur von >Love's Labour's Lost< sehr Anerkennenswertes geleistet. Ziemlich die ersten Worte, die Adrian beim Wiedersehen zu mir sprach, galten der fast vollkommenen Fehlerlosigkeit der Kopie und seiner Freude daran. Auch zeigte er mir einen Brief, den der Mann ihm mitten aus der peniblen Arbeit heraus geschrieben, und worin intelligenterweise eine Art von besorgtem Enthusiasmus für das Objekt seiner Mühewaltung zum Ausdruck kam. Er könne nicht sagen, meldete er dem Autor, wie das Werk ihn durch seine Kühnheit, die Neuheit seiner Ideen in Atem halte. Nicht genug könne er die Feingliedrigkeit der Faktur, die rhythmische Versatilität bewundern, die Instrumentationstechnik, durch welche ein oft kompliziertes Stimmengewebe vollkommen klar gehalten sei, vor allem die kompositorische Phantasie, die sich in der Abwandlung eines Gegebenen in vielfachen Variationen bekunde: zum Beispiel die Verwendung der schönen und dabei halb komischen Musik, die der Figur der Rosaline zugehöre oder vielmehr Birons desperates Gefühl für sie ausdrücke, in dem Mittelstück der dreiteiligen Bourree im Schlußakt, dieser witzigen Erneuerung der altfranzösischen Tanzform, sei überaus geistvoll und wendig in einem höchsten Sinn zu nennen. Er fügte hinzu: Diese Bourree sei nicht wenig charakteristisch für das verspieltarchaische Element gesellschaftlicher Gebundenheit, das so reizvoll, aber auch herausfordernd mit den »modernen«, den freien und überfreien, rebellischen, auch die tonale Bindung verschmähenden Partien des Werks kontrastiere; und da müsse er nun befürchten, daß diese Gegenden der Partitur in all ihrer Unvertrautheit und frondierenden Ketzerei der Rezeption fast

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zugänglicher sein würden als die frommen und strengen. Hier komme es oft zu einer erstarrenden, mehr denkerischen als künstlerischen Spekulation in Noten, einem musikalisch kaum noch wirksamen Töne-Mosaik, das eher zum Lesen als zum Hören bestimmt scheine, — etc.
Wir lachten.
»Wenn ich vom Hören höre!« sagte Adrian. »Nach meiner Meinung genügt es völlig, wenn etwas einmal gehört worden ist, nämlich, als der Komponist es erdachte.«
Nach einer Weile setzte er hinzu:
»Als ob die Leute je hörten, was da gehört worden ist. Komponieren heißt: einen Engelschor dem Zapfenstößer-Orchester zur Exekution auftragen. Übrigens halte ich die Chöre der Engel für äußerst spekulativ.«
Meinerseits gab ich Griepenkerln unrecht in seiner scharfen Unterscheidung zwischen den »archaischen« und den »modernen« Elementen des Werkes. Das gehe ineinander über und durchdringe einander, sagte ich, und er ließ es gelten, zeigte aber wenig Neigung, das Fertiggestellte zu erörtern, sondern schien es als abgetan und nicht weiter interessant hinter sich liegenzulassen. Erwägungen, was etwa damit anzufangen, wohin es zu schicken, wem es vorzulegen sei, überließ er mir. Daß Wendell Kretzschmar die Partitur zu lesen bekomme, daran war ihm'gelegen. Er sandte sie ihm nach Lübeck, wo der Stotterer noch amtierte, und dieser brachte die Oper dort tatsächlich ein Jahr später, schon nach Kriegsausbruch, in einer deutschen Bearbeitung, an der ich nicht unbeteiligt war, zur Aufführung, —mit dem Erfolg, daß während der Vorstellung zwei Drittel des Publikums das Theater verließen, — ganz so, wie es sechs Jahre zuvor in München bei der Premiere von Debussy's >Pelleas und Melisande< sich ereignet haben soll. Es kam nur zu zwei Wiederholungen, und das Werk sollte vorläufig nicht über die Hansestadt an der Trave hinausdringen. Auch schloß sich die lokale Kritik fast einstimmig dem Urteil der Laien-Hörerschaft an und spöttelte über die »dezimierende Musik«, deren Herr Kretzschmar sich da angenommen. Nur im

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>Lübischen Börsen-Kurien sprach ein alter, seither zweifellos längst verstorbener Musikprofessor namens Jimmerthal von einem Justizirrtum, den die Zeit richtigstellen werde, und erklärte in schrullig altfränkisch gesetzten Worten die Oper für ein zukunftshaltiges Werk voll tiefer Musik, deren Autor wohl ein Spötter, dabei aber »ein gottgeistiger Mensch« sei. Diese rührende Wendung, die ich vorher nie gehört oder gelesen hatte, und die mir auch nachher nie wieder vorgekommen ist, machte mir den eigentümlichsten Eindruck, und wie ich sie dem wissenden Kauz, der sich ihrer bediente, nie vergessen habe, so, denke ich, wird sie ihm zu Ehren angerechnet sein von der Nachwelt, die er gegen seine kritisch schlaffen und stumpfen Schreibkollegen als Zeugen beschwor.
Adrian war zu der Zeit, als ich nach Freising kam, mit der Komposition einiger Lieder und Gesänge beschäftigt, deutscher und fremdsprachiger, nämlich englischer. Erstens war er auf William Blake zurückgekommen und hatte ein sehr sonderbares Poem dieses ihm so lieben Autors, >Silent, silent night<, in Töne gesetzt, jenen Vierstropher zu je drei gleichlautend gereimten Versen, deren letzte Gruppe, befremdlich genug, lautet:

But an honest joy
Does itself destroy
For a harlot coy.

Diesen geheimnisvoll anstößigen Versen nun hatte der Komponist sehr simple Harmonien verliehen, die im Verhältnis zu der Tonsprache des Ganzen — >falscher<, zerrissener, unheimlicher wirkten als die gewagtesten Spannungen, tatsächlich das Ungeheuerlich-Werden des Dreiklangs erfahren ließen. — >Silent, silent night< ist für Klavier und Singstimme gesetzt. Dagegen hatte Adrian zwei- Hymnen von Keats, die achtstrophige >Odeto a nightingale< und die kürzere > An die die Melancholie< mit einer Begleitung von Streichquartett versehen, die nun freilich den Begriff der Begleitung in seiner Herkömmlichkeit weit hinter und unter sich ließ. Denn in Wahrheit handelte es sich

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um eine äußerst kunstvolle Form der Variation, in welcher kein Ton der Singstimme und der vier Instrumente unthematisch war. Ohne Unterbrechung herrscht hier zwischen den Stimmen die engste Beziehung, so daß das Verhältnis nicht das von Melodie und Begleitung, sondern in aller Strenge das von stetig alternierenden Haupt- und Nebenstimmen ist.
Es sind herrliche Stücke — und fast stumm geblieben bis heute durch Schuld der Sprache. Zum Lächeln merkwürdig war mir dabei der tiefe Ausdruck, womit der Komponist in der >Nightingale< auf das Verlangen nach südlicher Lebenssüße eingeht, das der Gesang des »immortal bird« in der Seele des Dichters wachruft, — wo doch Adrian in Italien nie viel enthusiastische Dankbarkeiten den Tag gelegt hatte für die Tröstungen einer Sonnenwelt, welche vergessen läßt—»The weariness, the fever, and the fret — Here, where men sit and hear each other groan«. Das musikalisch Kostbarste und Kunstvollste, ohne Zweifel, ist die Auflösung und das Verwehen des Traumes am Schluß, dieses

Adieu! the fancy cannot cheat so well
As she is fame'd to do, deceiving elf.
Adieu! adieu! thy plaintive anthem fades
--------------------------
Fled is that music: — Do I wake or sleep?

Ich kann die Herausforderung wohl verstehen, die von der vasenhaften Schönheit dieser Oden auf die Musik ausgegangen war, sie zu umkränzen: nicht um sie vollkommener zu machen — denn sie sind vollkommen—, sondern um ihre stolze, schwermutsvolle Anmut stärker zu artikulieren und ins Relief zu treiben, dem kostbaren Augenblick ihrer Einzelheiten vollere Dauer zu verleihen, als dem gehauchten Wort vergönnt ist: solchen Augenblicken gedrängter Bildhaftigkeit, wie, in der dritten Strophe der >Melancholie<, die Aussagen von dem »sovran shrine«, den die verschleierte Schwermut im Tempel des Entzückens selbst besitze, — von niemandem gesehen freilich als von dem, dessen kühne Zunge die Weinbeere der Lust an

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zartem Gaumen zu sprengen wisse, — was einfach glänzend ist und schwerlich der Musik etwas zu sagen übrigläßt. Mag sein, daß sie nur vermeiden kann, ihm zu schaden, indem sie es verlangsamend mitspricht. Ich habe oft sagen hören, ein Gedicht dürfe nicht zu gut sein, um ein gutes Lied abzugeben. Die Musik sei viel besser daran bei der Aufgabe, das Mäßige zu vergolden. So glänzt virtuose Schauspielkunst am hellsten in schlechten Stücken. Aber Adrians Verhältnis zur Kunst war zu stolz und kritisch, als daß er Lust gehabt hätte, sein Licht in der Finsternis leuchten zu lassen. Er mußte geistig wahrhaft hochachten, wo er sich als Musiker aufgerufen fühlen sollte, und so war auch das deutsche Gedicht, dem er sich produktiv hingegeben, vom höchsten Range, wenngleich ohne die intellektuelle Distinktion der Keats'schen Lyrik. Für diese literarische Erlesenheit trat hier ein Monumentaleres, das hochgestimmte und rauschende Pathos religiös-hymnischer Lobpreisung ein, das mit seinen Anrufungen und Schilderungen von Majestät und Milde der Musik sogar mehr vorgab, ihr treuherziger entgegenkam als der griechische Adel jener britischen Bildungen.
Es war Klopstocks Ode >Die Frühlingsfeyen, der berühmte Gesang vom »Tropfen am Eimer«, den Leverkühn, mit wenigen textlichen Kürzungen, für Bariton, Orgel und Streichorchester komponiert hatte, — ein erschütterndes Stück Werk, das während des ersten deutschen Weltkrieges und einige Jahre nach ihm an mehreren deutschen Musik-Zentren und auch in der Schweiz unter der enthusiastischen Zustimmung einer Minorität, und freilich natürlich auch hämisch-banausischem Widerspruch, durch mutige und der neuen Musik freundliche Dirigenten zur Aufführung gelangt ist und sehr dazu beigetragen hat, daß, spätestens in den zwanziger Jahren, eine Aura esoterischen Ruhms sich um den Namen meines Freundes zu breiten begann. Ich will aber folgendes sagen: So tief ich bewegt — wenn auch nicht eigentlich überrascht — war von diesem Ausbruch religiösen Gefühls, der desto reiner und frommer wirkte durch die Enthaltsamkeit von billigen Wirkungsmitteln (kein Harfengetön, zu dem der Wortlaut doch geradezu

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auffordert; keine Pauke zur Wiedergabe des Donners des Herrn); so nahe ans Herz mir gewisse, keineswegs durch verbrauchte Tonmalerei gewonnene Schönheiten oder großartige Wahrheiten des Lobliedes gingen, wie der bedrückend langsame Wandel der schwarzen Wolke, der zweimalige »Jehovah!«-Ruf des Donners, wenn der » geschmetterte Wald dampft« (eine mächtige Stelle), der so neue und verklärte Zusammenklang der hohen Register der Orgel mit den Streichern am Schluß, wenn die Gottheit nicht mehr im Wetter, sondern in stillem Säuseln kommt und unter ihr »sich der Bogen des Friedens neigt«, — so habe ich doch damals das Werk nicht nach seinem wahren seelischen Sinn, nicht nach seiner geheimsten Not und Absicht, nach seiner Angst, die im Preisen Gnade sucht, verstanden. Kannte ich denn das Dokument, das nun auch meine Leser kennen, die Niederschrift des »Zwiegesprächs« im steinernen Saal? Nur bedingt hätte ich mich »a partner in your sorrow's mysteries«, wie es einmal in der >Ode on Melancholy< heißt, vor ihm nennen können: nur mit dem Recht einer schon aus Knabenzeiten stammenden vagen Sorge um sein Seelenheil, nicht von wirklichen Wissens wegen, wie es darum stand. Erst später habe ich die Komposition der >Frühlingsfeyer< als das werbende Sühneopfer an Gott verstehen gelernt, das es war: als ein Werk der attritio cordis, geschaffen, wie ich schaudernd vermute, unter den Drohungen jenes auf seinem Schein bestehenden Besuchers.
Aber noch in einem andern Sinn habe ich die persönlichen und geistigen Hintergründe dieser auf Klopstocks Gedicht fußenden Produktion damals nicht verstanden. Ich hätte sie in Verbindung bringen sollen mit Gesprächen, die ich um jene Zeit mit ihm führte, oder die vielmehr er mit mir führte, indem er mir, höchst lebhaft, höchst angelegentlich, von Studien und Forschungen erzählte, die meiner Neugier, meiner Art von wissenschaftlichem Sinn immer ganz ferne lagen: aufregende Bereicherungen seines Wissens von der Natur und vom Kosmos, mit denen er mich sehr an seinen Vater und dessen sinnige Manie erinnerte, »die elementa zu spekulieren«.

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Für den Komponisten der >Frühlingsfeyer< traf nämlich die Aussage des Dichters nicht zu, daß er davon abstehe, »sich in den Ozean der Welten alle zu stürzen«, und nur um den »Tropfen am Eimer«, um die Erde nur schweben und anbeten wolle. Er stürzte sich allerdings in das Unermeßliche, das die astrophysische Wissenschaft zu messen sucht, nur um dabei zu Maßen, Zahlen, Größenordnungen zu gelangen, zu denen der Menschengeist gar kein Verhältnis mehr hat, und die sich im Theoretischen und Abstrakten, im völlig Unsinnlichen, um nicht zu sagen: Unsinnigen verlieren. Übrigens will ich nicht vergessen, daß es mit einem Schweben um den »Tropfen«, der ja diesen Namen nicht übel verdient, da er überwiegend aus Wasser, aus den Wassern der Meere besteht, und der bei Gelegenheit des Gesamtwurfes »auch der Hand des Allmächtigen entrann«, — daß es, sage ich, mit Erkundungen über ihn und seine dunklen Verstecktheiten doch seinen Anfang nahm; denn die Wunder der Meerestiefe, die Tollheiten des Lebens dort unten, wohin kein Sonnenstrahl dringt, waren das erste, wovon Adrian mir erzählte — und zwar auf eine besondere, wunderliche Weise, die mich zugleich amüsierte und verwirrte, nämlich im Stil eigener Anschauung und persönlichen Dabeigewesenseins.
Selbstverständlich hatte er von diesen Dingen nur gelesen, hatte sich Bücher darüber verschafft und seine Phantasie damit gespeist; aber sei es nun, weil er so sehr bei der Sache gewesen war, sich dieser Bilder so klar bemächtigt hatte, oder aus was für einer Laune immer: er fingierte, daß er selber hinabgefahren sei, nämlich in der Gegend der Bermuda-Inseln, einige Seemeilen Östlich von St. Georg, und sich die natürlichen Phantastereien des Abgrundes von einem Begleiter habe zeigen lassen, den er als einen amerikanischen Gelehrten namens Capercailzie charakterisierte, und mit dem er einen neuen Tiefenrekord aufgestellt haben wollte.
Ich erinnere mich dieser Unterhaltung sehr lebhaft. Ich genoß sie an einem Wochenende, das ich in Pfeiffering verbrachte, nach der einfachen Abendmahlzeit, die Clementine Schweigestill uns im großen Klavierzimmer aufgetischt hatte. Freundlich hatte

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die streng Gekleidete dann einem jeden von uns einen irdenen Halbliter-Krug Bier in die Abtsstube gebracht, und dort saßen wir, Zechbauer-Zigarren rauchend, leichte und gute. Es war um die Stunde, wo Suso, der Hund, Kaschperl also, schon von der Kette los war und frei um den Hof strich.
Da also gefiel Adrian sich in dem Scherz, mir höchst anschaulich vorzuerzählen, wie er mit Mr. Capercailzie eine kugelförmige Tauchergondel von nur 1,20 m Innendurchmesser und ausgerüstet ungefähr wie ein Stratosphärenballon bestiegen habe und sich mit ihm darin durch den Kran des Begleitschiffes in das hier ungeheuer tiefe Meer habe versenken lassen. Es war mehr als aufregend gewesen, — wenigstens für ihn, wenn auch nicht für seinen Mentor oder Cicerone, dem er dies Erlebnis abgefordert hatte, und den die Sache kühler ließ, da es nicht seine erste Niederfahrt war. Ihre Lage im engen Inneren der zwei Tonnen schweren Hohlkugel war nichts weniger als bequem gewesen, dafür aber hatte das Bewußtsein der absoluten Zuverlässigkeit ihrer Behausung sie entschädigt: durchaus wasserdicht gebaut/wie sie war, einem gewaltigen Druck gewachsen, versehen mit einem ergiebigen Sauerstoff-Vorrat, Telephon, Starkstrom-Scheinwerfern und Quarzfenstern zur Ausschau nach allen Seiten. Etwas länger als drei Stunden, alles in allem, hatten sie unter dem Meeresspiegel darin verweilt, die ihnen im Fluge vergangen waren dank den Gesichten und Einblicken, die ihnen gestattet gewesen in eine Welt, deren stille, närrische Fremdheit sich durch ihre angeborene Kontaktlosigkeit mit der unsrigen rechtfertigte, sich gewissermaßen aus ihr erklärte.
Immerhin war es ein seltsamer, das Herz ein wenig stocken machender Augenblick gewesen, als, eines Morgens um neun Uhr, die vierhundert Pfund schwere Panzertür sich hinter ihnen geschlossen hatte und sie vom Schiffe herabgeschwebt und dann ins Element getaucht waren. Anfangs hatte das kristallklare, von der Sonne durchleuchtete Wasser sie umgeben. Aber diese Erhellung des Inneren unseres »Tropfens am Eimer« durch das obere Licht reicht nur etwa 57 Meter hinab; dann hört alles

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auf, vielmehr: eine neue, bezuglose und nicht mehr heimatliche Welt beginnt, in welche Adrian mit seinem Führer bis zum beinahe Vierzehnfachen dieser Tiefe, auf rund 2500 Fuß vorgedrungen sein und dort wohl eine halbe Stunde verweilt haben wollte, beinahe jeden Augenblick eingedenk der Tatsache, daß nun ein Druck von 500 000 Tonnen auf ihrer Wohnung lastete.
Allmählich, auf dem Weg dorthin, hatte das Wasser eine graue Farbe angenommen, — diejenige eines Dunkels also, das mit einigem unverzagtem Licht noch vermischt gewesen war. Nicht leicht stand dieses von jedem weiteren Vordringen ab; es war sein Wesen und Wille, zu erleuchten, und es tat es bis zum Äußersten, indem es das nächste Stadium der Ermüdung und des Zurückbleibens sogar farbiger gestaltete als das vorige: durch ihre Quarzfenster blickten die Reisenden nun in ein schwer zu beschreibendes Blauschwarz hinaus, am ehesten vergleichbar der Düsternis am Horizont eines klaren Föhnhimmels. Dann freilich, und zwar lange schon bevor der Tiefenanzeiger auf 750, auf 765 Meter wies, herrschte vollkommene Schwärze ringsum, die von keinem schwächsten Sonnenstrahl seit Ewigkeiten erlangte Finsternis des interstellaren Raumes, die ewig stille und jungfräuliche Nacht, welche es sich nun hatte gefallen lassen müssen, von einem aus der Oberwelt mitgebrachten gewaltsamen Kunstlicht nicht kosmischer Herkunft durchhellt und durchsichtet zu werden.
Adrian sprach von dem Erkenntniskitzel, den es bereitete, das Unerschaute, nicht zu Erschauende, des Geschautwerdens nicht sich Versehende dem Blicke bloßzustellen. Das damit verbundene Gefühl der Indiskretion, ja der Sündhaftigkeit wurde nicht ganz beschwichtigt und ausgeglichen durch das Pathos der Wissenschaft, der erlaubt sein muß, so weit vorzudringen, wie es ihrem Witz eben gegeben ist. Allzu deutlich war, daß die unglaublichen, teils grausigen, teils lächerlichen Exzentrizitäten, die Natur und Leben sich hier geleistet, Formen und Physiognomien, die mit den oberirdischen kaum noch Verwandtschaft zu haben und einem anderen Planeten anzugehören schienen, das Produkt der Verstecktheit, des Pochens

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auf das Gehülltsein in ewiges Dunkel waren. Die Ankunft eines menschlichen Raum-Fahrzeuges auf dem Mars, oder sagen wir lieber auf der der Sonne ewig abgewandten Hälfte des Merkur, hätte denn auch unter etwaigen Bewohnern dieser »nahen« Körper keine größere Sensation erregen können als das Erscheinen der Capercailzie'schen Senkglocke hier unten. Die volkstümliche Neugier, mit der die abstrusen Kreaturen des Abgrundes das Haus der Gäste umdrängt hatten, war unbeschreiblich gewesen — und unbeschreiblich, was da in verwirrtem Flitzen an tollen Geheimfratzen des Organischen, an räuberischen Mäulern, schamlosen Gebissen, Teleskopaugen, an Papierbootfischen, Silberbeilen mit aufwärts gerichteten Glotzern, Kiel- und Flossenfüßern, bis zwei Meter lang, vor den Fenstern der Gondel vorüberhuschte. Selbst die willenlos in der Flut schwebenden, fangarmigen Ungeheuer aus Schleim, die Staatsquallen, Polypen und Skyphomedusen, schienen von krampfig zappelnder Erregung ergriffen gewesen zu sein.
Übrigens hatte es wohl sein mögen, daß alle diese »natives« der Tiefe den zu ihnen niedergestiegenen scheinwerfenden Gast als eine überdimensionierte A.bart ihrer selbst betrachteten, denn die meisten von ihnen konnten auch, was er konnte, nämlich aus eigenen Kräften leuchten. Die Besucher hätten, erzählte Adrian, ihr Dynamo-Licht nur verlöschen dürfen, damit ein Schauspiel anderer absonderlicher Art sich ihnen enthüllte. Denn weithin sei dann das Meeresdunkel von kreisenden und dahinschießenden Irrlichtern illuminiert gewesen, dem Selbstleuchten der Fische, mit dem sehr viele von ihnen begabt waren, und zwar so, daß einige am ganzen Körper phosphoreszierten, andere aber wenigstens mit einem Leuchtorgan, einer elektrischen Laterne ausgestattet waren, mit der sie sich mutmaßlich nicht nur in der ewigen Nacht den Weg erhellten, sondern auch Beute anlockten oder zur Liebe winkten. Einige größere hätten tatsächlich ein so intensives Weißlicht vor sich hingestrahlt, daß die Augen der Beobachter davon geblendet gewesen seien. Die röhrenförmig vorgebauten

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Stielaugen mancher von ihnen seien aber wahrscheinlich dafür gemacht, aus möglichst weiter Ferne schon den leisesten Lichtschimmer zu ihrer Warnung oder Lockung wahrzunehmen.
Der Berichterstatter bedauerte, daß nicht daran zu denken gewesen sei, .einige dieser Larven der Tiefe, die allerunbekanntesten wenigstens, zu fangen und nach oben zu bringen. Dazu wäre vor allem eine Vorrichtung nötig gewesen, ihren Leibern bei der Auffahrt den ungeheueren Atmosphärendruck zu bewahren, den sie gewohnt und dem sie angepaßt seien, — denselben, der, beklemmend, wenn man es bedachte, auf den Wänden der Gondel wuchtete. Sie glichen ihn aus durch eine ebenso hohe Innenspannung ihrer Gewebe und Körperhöhlen, so daß sie bei nachlassendem Druck notwendig zerplatzen mußten. Einigen, leider, sei dies schon bei der Begegnung mit dem Fahrzeug von oben geschehen, — wie denn ein besonders großer, fleischfarbener und fast edel gestalteter Nix, den man gesichtet, bei nur leisem Zusammenstoß mit der Gondel in tausend Stücke zersprungen sei...
In dieser Weise erzählte Adrian bei der Zigarre, ganz in dem Geist, als sei er selber mit niedergefahren und habe dies alles sich zeigen lassen, — eine scherzhafte Form, die er mit nur halbem Lächeln so konsequent durchführte, daß ich nicht umhinkonnte, ihn unterm Lachen und Wundern auch ein wenig erstaunt anzusehen. Sein Lächeln war wohl auch derAusdruck neckenden Amüsements über einen gewissen Widerstand von meiner Seite, der ihm spürbar sein mußte, gegen seine Mitteilungen; denn er kannte wohl meine bis zur Abneigung gehende Interesselosigkeit an den Faxen und Geheimnissen des Natürlichen, an >Natur< überhaupt, und meine Anhänglichkeit an die Sphäre des Sprachlich-Humanen. Offenbar war es nicht zuletzt das Wissen darum, das ihn reizte, mir diesen Abend immer weiter mit seinen Erkundungen oder, wie er tat, Erfahrungen in den Gebieten des ungeheuerlich Außermenschlichen zuzusetzen und sich nun dennoch, mich mit sich reißend, »in den Ozean der Welten alle zu stürzen«.

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Der Übergang dazu war ihm leicht gemacht durch seine vorangegangenen Schilderungen. Das Grotesk-Fremdartige des Tiefseelebens, das nicht mehr unserm Planeten anzugehören schien, war ein Anknüpfungspunkt. Ein zweiter war die Klopstock'sche Redewendung vom »Tropfen am Eimer«, die in ihrer bewundernden Demut nur zu gerechtfertigt war durch die ganz nebensächlich-abseitige und wegen der Geringfügigkeit des Objektes für den großen Blick fast unauffindbare Situiertheit nicht nur der Erde, sondern unseres ganzen Planetensystems, also der Sonne mit ihren sieben Trabanten, innerhalb des Milchstraßenwirbels, dem es angehört, >unserer< Milchstraße, — von den Millionen anderer hier noch zu schweigen. Das Wort >unsere< verleiht der Ungeheuerlichkeit, auf die es sich bezieht, eine gewisse Intimität, es vergrößert auf eine fast komische Weise den Begriff des Heimatlichen ins sinnbenehmend Ausgedehnte, als dessen bescheiden, aber sicher untergebrachte Bürger wir uns zu fühlen haben. In dieser Geborgenheit, einer tief inneren Geborgenheit, scheint die Neigung der Natur zum Sphärischen sich durchzusetzen, — und dies war ein dritter Punkt, an den Adrian seine kosmischen Erörterungen knüpfte: zum Teil kam er auf sie durch die seltsame Erfahrung des Aufenthaltes in einer Hohlkugel, nämlich der • Capercailzie'schen Tiefseegondel, die er einige Stunden mitbewohnt haben wollte. In einer Hohlkugel, so war er belehrt, lebten wir allesamt alle Tage, denn um den galaktischen Raumbezirk, worin uns irgendwo seitab ein winziger Platz zugewiesen sei, stehe es so:
Er sei ungefähr gestaltet wie eine flache Taschenuhr, das heißt rund und viel weniger dick als umfangreich, — eine nicht unermeßliche, aber freilich ungeheuere Wirbelscheibe konzentrierter Mengen von Sternen, Sterngruppen, Sternhaufen, Doppelsternen, welche elliptische Bahnen umeinander beschrieben, von Nebelflecken, Leuchtnebeln, Ringnebeln, Nebelsternen und so fort. Diese Scheibe aber gleiche nur dem ebenen Rundplan, der entstehe, wenn man eine Orange in der Mitte durchschneide; denn rundum sei sie eingeschlossen von einem

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Dunstmantel anderer Sterne, den man wieder nicht als unermeßlich, aber als ungeheuer in hoher Potenz bezeichnen müsse, und in dessen Räumen, vorwiegend leeren Räumen, die gegebenen Objekte so verteilt seien, daß die ganze Struktur eine Kugel bilde. Tief im Innern dieser unsinnig geräumigen Hohlkugel also, der Scheibe verdichteten Weltengewimmels zugehörig, befinde sich, ganz nebensächlicher, schwer auffindbarer und kaum erwähnenswerter Weise, der Fixstern, um den, nebst größeren und kleineren Genossen, die Erde und ihr Möndchen spielten. »Die Sonne«, die so wenig den bestimmten Artikel verdiente, ein auf seiner Oberfläche 6000 Grad heißer Gasball von mäßigen anderthalb Millionen Kilometern im Durchmesser, sei vom Mittelpunkt des galaktischen Innenplanes ebenso weit entfernt, wie dieser dick sei, nämlich 30 000 Lichtjahre.
Meine allgemeine Bildung erlaubte mir, mit diesem Wort >Lichtjahr< einen ungefähren Begriff zu verbinden. Es war, versteht sich, ein räumlicher Begriff, und das Wort bezeichnete die Strecke, die das Licht im Lauf eines ganzen Erdenjahres zurücklegt — bei einer ihm eigenen Geschwindigkeit, von der ich eine vage Vorstellung hegte, die aber Adrian exakt als 297 600 Kilometer per Sekunde im Kopfe hatte. Damit kam ein Lichtjahr auf rund und nett 9,5 Billionen Kilometer zu stehen, und auf dreißigtausendmal soviel belief sich also die Exzentrizität unseres Solarsystems, während der Gesamtdurchmesser der galaktischen Hohlkugel 200000 Lichtjahre betrug.
Nein, er war nicht unermeßlich, aber so war er zu bemessen. Was soll man auf einen solchen Angriff auf den Menschenverstand sagen? Ich bekenne, so geartet zu sein, daß mir nichts als ein verzichtendes, aber auch etwas verächtliches Achselzucken übrigbleibt für das Unrealisierbar-Überimposante. Bewunderung der Größe, Enthusiasmus für sie, ja Überwältigtsein von ihr, ein seelischer Genuß ohne Zweifel, ist nur möglich in faßlich-irdischen und menschlichen Verhältnissen. Die Pyramiden sind groß, der Montblanc und das Innere des Petersdomes sind groß, wenn man dies Attribut nicht

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überhaupt lieber der moralischen und geistigen Welt, der Erhabenheit des Herzens und des Gedankens vorbehalten will. Die Daten der kosmischen Schöpfung sind ein nichts als betäubendes Bombardement unserer Intelligenz mit Zahlen, ausgestattet mit einem Kometenschweif von zwei Dutzend Nullen, die so tun, als ob sie mit Maß und Verstand noch irgend etwas zu tun hätten. Es ist in diesem Unwesen nichts, was meinesgleichen als Güte, Schönheit, Größe ansprechen könnte, und nie werde ich die Hosianna-Stimmung verstehen, in die gewisse Gemüter durch die sogenannten >Werke Gottes<, sofern sie Weltphysik sind, sich versetzen lassen. Ist überhaupt eine Veranstaltung als Gottes Werk anzusprechen, zu der man ebensogut >Wenn schon< wie >Hosianna< sagen kann? Mir scheint eher das erste als das zweite die rechte Antwort zu sein auf zwei Dutzend Nullen hinter einer Eins oder auch hinter einer Sieben, was schon gleich nichts mehr ausmacht, und keinerlei Grund kann ich sehen, anbetend vor der Quinquillion in den Staub zu sinken.
Kennzeichnend war ja auch, daß der hochgestimmte Dichter, Klopstock, sich zum Ausdruck und zur Erregung enthusiastischer Ehrfurcht auf das Irdische, den »Tropfen am Eimer«, beschränkte und die Quinquillionen beiseite ließ. Der Komponist seiner Hymne, mein Freund Adrian, wie gesagt, erging sich über diese; aber ich täte unrecht, den Eindruck zu erwecken, daß er es mit irgendwelcher Rührung oder Emphase getan hätte. Seine Art und Weise, diese Tollheiten zu behandeln, war kalt, lässig, von Belustigung gefärbt über meine unverhohlene Abneigung, dabei aber auch von einer gewissen initiierten Vertrautheit mit diesen Verhältnissen, will sagen: von der fortdauernden Fiktion, als habe er seine Kenntnisse nicht unterderhand, durch Lektüre, sondern durch persönliche Überlieferung, Belehrung, Demonstration, Erfahrung gewonnen, etwa mit Hilfe seines obgenannten Mentors, des Professors Capercailzie, der, so kam es heraus, nicht nur mit ihm in die Nacht der Tiefsee, sondern auch ins Gestirn gefahren war . . . Er tat halb und halb, als habe er es von ihm, und zwar

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mehr oder weniger durch Anschauung, daß das physische Weltall — dies Wort in seiner umfassenden, auch das Fernste mit einschließenden Bedeutung genommen — weder endlich noch unendlich zu nennen sei, weil beide Ausdrücke doch etwas irgendwie Statisches bezeichneten, während der wahre Sachverhalt durch und durch dynamischer Natur sei und der Kosmos sich, seit langem wenigstens, genauer gesagt: seit 1900 Millionen Jahren, im Zustande rasender Ausdehnung, das heiße: der Explosion befinde. Hieran lasse die Rotverschiebung des Lichtes keinen Zweifel, welches uns von zahlreichen Milchstraßensystemen erreiche, deren Entfernung von uns allenfalls bekannt sei, — die um so stärkere Veränderung der Farbe dieses Lichtes nach dem roten Ende des Spektrums hin, in je größerem Abstand von uns sich diese Nebelflecke befänden. Offenbar strebten sie von uns weg, und bei den am weitesten, um 150 Millionen Lichtjahre, abliegenden Komplexen komme die Geschwindigkeit, mit der sie das täten, derjenigen gleich, die die Alpha-Teilchen radioaktiver Substanzen entwickelten, und die 25 000 Kilometer in der Sekunde betrage, eine Schnellkraft, gegen die der Splitterflug einer krepierenden Granate ein Schneckentempo annehme. Wenn also alle Milchstraßensysteme in übertriebenstem Zeitmaß voneinander wegjagten, so reiche das Wort >Explosion< gerade eben noch, oder auch schon längst nicht mehr, hin, den Zustand des Weltmodells und seine Art von Ausgedehntheit zu bezeichnen. Diese mochte früher einmal statisch gewesen sein und einfach eine Milliarde Lichtjahre im Durchmesser betragen haben. Wie die Dinge jetzt lägen, könne zwar von Ausdehnung, aber nicht von irgendwelcher stehenden Ausgedehntheit, >endlich< oder >unendlich<, die Rede sein. Alles, was, wie es schien, Capercailzie dem Frager hatte zusichern können, war, daß die Summe sämtlicher überhaupt vorhandenen Milchstraßenbildungen in der Größenordnung von hundert Milliarden liege, von denen nur eine geringe Million unseren heutigen Fernrohren erreichbar sei.
So Adrian, rauchend und lächelnd. Ich redete ihm nun ins

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Gewissen und verlangte von ihm das Eingeständnis, daß dieser ganze ins Nichts entweichende Zahlenspuk unmöglich das Gefühl von Gottes Herrlichkeit erregen, irgendwelche sittliche Erhebung schenken könne. Nach einem Teufelsjux viel eher sähe das alles ja aus.
»Gib zu«, sagte ich ihm, »daß die Horrendheiten der physikalischen Schöpfung auf keine Weise religiös produktiv sind. Welche Ehrfurcht und welche der Ehrfurcht entstammende Sittigung des Gemütes kann ausgehen von der Vorstellung eines unermeßlichen Unfugs wie des explodierenden Weltalls? Absolut keine. Frömmigkeit, Ehrfurcht, seelischer Anstand, Religiosität sind nur über den Menschen und durch den Menschen, in der Beschränkung auf das Irdisch-Menschliche möglich. Ihre Frucht sollte, kann und wird ein religiös tingierter Humanismus sein, bestimmt von dem Gefühl für das transzendente Geheimnis des Menschen, von dem stolzen Bewußtsein, daß er kein bloß biologisches Wesen ist, sondern mit einem entscheidenden Teil seines Wesens einer geistigen Welt angehört; daß ihm das Absolute gegeben ist, die Gedanken der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, daß ihm die Verpflichtung auferlegt ist zur Annäherung an das Vollkommene. In diesem Pathos, dieser Verpflichtung, dieser Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst ist Gott; in hundert Milliarden Milchstraßen kann ich ihn nicht finden.«
»So bist du gegen die Werke«, antwortete er, »und gegen die physische Natur, der der Mensch entstammt und mit ihm sein Geistiges, das sich am Ende auch noch an anderen Orten des Kosmos findet. Die physische Schöpfung, dieses dir ärgerliche Ungeheuer von Weltveranstaltung, ist unstreitig die Voraussetzung für das Moralische, ohne die es keinen Boden hätte, und vielleicht muß man das Gute die Blüte des Bösen nennen — une fleur du mal. Dein Homo Dei ist doch schließlich — oder nicht schließlich, ich bitte um Entschuldigung, aber vor allem einmal — ein Stück scheußlicher Natur mit einem nicht gerade freigebig zugemessenen Quantum potentieller Vergeistigung. Übrigens ist es amüsant zu sehen, wie sehr

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dein Humanismus, und wohl aller Humanismus, zum Mittelalterlich-Geozentrischen neigt, — mit Notwendigkeit offenbar. Populärerweise hält man den Humanismus für wissenschaftsfreundlich; aber er kann es nicht sein, denn man kann nicht die Gegenstände der Wissenschaft für Teufelswerk erachten, ohne auch in ihr selbst dergleichen zu sehen. Das ist Mittelalter. Das Mittelalter war geozentrisch und anthropozentrisch. Die Kirche, in der es überlebte, hat sich gegen die astronomischen Erkenntnisse im humanistischen Geist zur Wehr gesetzt, hat sie verteufelt und verboten zu Ehren des Menschen, hat auf Unwissenheit bestanden aus Humanität. Du siehst, dein Humanismus ist reines Mittelalter. Seine Sache ist eine Kaisersascherner Kirchturmskosmologie, die zur Astrologie, zur Beachtung des Planetenstandes, der Konstellation und ihrer glücklichen oder verderblichen Ansagen führt, — ganz natürlich und mit Recht; denn die intime Abhängigkeit der Körper einer so eng zusammengehörigen kosmischen Winkelgruppe wie unseres Sonnensystems voneinander, ihr innignachbarlicher gegenseitiger Bezug liegt ja auf der Hand.«
»Von astrologischer Konjunktur haben wir schon einmal gesprochen«, fiel ich ein. »Es ist lange her, wir gingen um die Kuhmulde spazieren, und es war ein musikalisches Gespräch. Damals hast du die Konstellation verteidigt.«
»Ich verteidige sie auch heute«, antwortete er. »Astrologische Zeiten wußten sehr viel. Sie wußten oder ahnten Dinge, auf die heute die ausgedehnteste Wissenschaft wieder verfällt. Daß Krankheiten, Seuchen, Epidemien mit dem Sternenstande zu tun haben, war jenen Zeiten eine intuitive Gewißheit. Heute ist man soweit, darüber zu debattieren, ob nicht Keime, Bakterien, Organismen, die, sagen wir, eine Influenza-Epidemie auf Erden erregen, von anderen Planeten, Mars, Jupiter oder Venus, stammen.«
Und nun erzählte er mir, wie ein kalifornischer Gelehrter lebende Bakterien eingeschlossen gefunden haben wolle in Meteoriten, die Millionen von Jahren alt gewesen seien. Man könne ihm das nicht gut als unmöglich nachweisen, da feststehe, daß Keime, lebende Zellen, Kältegraden standhalten könnten, die dem absoluten Nullpunkt, Minus 273 Grad Celsius, der Temperatur des interplanetaren Raumes, mindestens nahe kämen. Ansteckende Krankheiten, Seuchen wie die Pest, der Schwarze Tod, seien wahrscheinlich nicht von diesem Stern, zumal, da fast gewiß das Leben selbst und überhaupt seinen Ursprung nicht auf Erden habe, sondern von außen eingewandert sei.

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Er habe es aus bester Quelle, daß es von Nachbarsternen stamme, die in eine ihm ungleich günstigere, viel Methan und Ammoniak enthaltende Atmosphäre gehüllt seien, wie Jupiter, Mars und Venus. Von ihnen, oder von einem von ihnen, er überlasse mir cjie Wahl, sei das Leben einmal, getragen von kosmischen Wurfgeschossen, oder einfach durch Strahlendruck, auf unseren eher sterilen und unschuldigen Planeten gelangt. Mein humanistischer Homo Dei, diese Krone des Lebens, sei also mitsamt seiner Verpflichtung aufs Geistige mutmaßlich das Produkt der Sumpfgas-Fertilität eines Nachbargestirns ...
»Die Blüte des Bösen«, wiederholte ich kopfnickend.
»Und blühend in Bösheit zumeist«, setzte er hinzu.
So neckte er mich, nicht nur mit meiner wohlwollenden Weltanschauung, sondern auch mit der während dieses Gespräches in grillenhafter Laune immer festgehaltenen Vortäuschung einer gewissen besonderen, persönlichen, direkten Informiertheit seinerseits über die Bewandtnisse von Himmel und Erde. Ich wußte nicht, hätte es mir aber sagen können, daß es mit alldem auf ein Werk hinauswollte, nämlich auf die kosmische Musik, mit der er sich damals, nach der Episode der neuen Lieder, trug. Es war die erstaunliche einsätzige Symphonie oder Orchester-Phantasie, die er während der letzten Monate des Jahres 1913 und der ersten von 1914 ausarbeitete, und die den Titel >Die Wunder des Alls< erhielt, — sehr gegen meinen Wunsch und Vorschlag. Denn ich scheute die Frivolität jener Überschrift und riet zu dem Namen >Symphonia cosmologica<. Aber Adrian bestand lachend auf der anderen scheinpathetisch-ironischen Benennung, die den Wissenden allerdings besser auf den durch und durch skurrilen und grotesken, wenn auch oft auf eine streng-feierliche, mathematisch-zeremoniöse Weise grotesken Charakter dieser Schilderungen des Ungeheuerlichen vorbereitet. Mit dem Geist der >Frühlingsfeyer<, die doch auch wieder in gewissem Sinn die Vorbereitung dazu bildete, mit dem Geist demütiger Verherrlichung also, hat diese Musik nichts zu tun, und wenn nicht

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gewisse persönliche Merkmale der musikalischen Handschrift auf denselben Autor deuteten, sollte man kaum glauben, daß die gleiche Seele beides hervorgebracht. Wesen und Essenz jenes ungefähr dreißig Minuten dauernden orchestralen WeltPortraits ist der Spott, — ein Spott, der meine im Gespräch behauptete Meinung, daß die Beschäftigung mit dem MaßlosAußermenschlichen der Frömmigkeit keine Nahrung gebe, nur zu sehr bestätigt; eine luziferische Sardonik, ein travestierendes Schalkslob, das nicht nur dem fürchterlichen Uhrwerk des Weltenbaus, sondern auch dem Medium zu gelten scheint, in dem es sich malt, ja wiederholt: der Musik, dem Kosmos der Töne, und nicht wenig dazu beigetragen hat, dem Künstlertum meines Freundes den Vorwurf einer virtuos antikünstlerischen Gesinnung, der Lästerung, des nihilistischen Frevels zuzuziehen.
Doch hiervon genug. Die nächsten beiden Kapitel gedenke ich einigen gesellschaftlichen Erfahrungen zu widmen, die ich um jene Jahres- und Zeitenwende 1913—14, während des letzten Münchener Faschings vor Ausbruch des Krieges, mit Adrian Leverkühn teilte.

XXVIII

Daß der Mietgast der Schweigestills sich nicht ganz in seiner von Kaschperl-Suso bewachten klösterlichen Einsamkeit vergrub, sondern, wenn auch sporadisch und mit Zurückhaltung, einer gewissen städtischen Geselligkeit pflog, sagte ich schon. Lieb und beruhigend schien ihm allerdings dabei die stehende und allen bekannte Notwendigkeit seines frühzeitigen Aufbruchs, die Gebundenheit an den Elf-Uhr-Zug zu sein. Wir trafen bei den Roddes in der Rambergstraße zusammen, mit deren Kreise, den Knöterichs, Dr. Kranich, Zink und Spengler, Schwerdtfeger, dem Geiger und Pfeifer, ich denn also auf recht freundschaftlichen Fuß kam; ferner bei Schlaginhaufens, auch wohl bei Schildknapps Verleger Radbruch in der Fürstenstraße

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und in der eleganten Bel-Etage des Papierindustriellen Bullinger (übrigens rheinischer Herkunft), bei dem gleichfalls Rüdiger uns eingeführt hatte.
Bei Roddes sowohl wie im Schlaginhaufen'schen SäulenSalon hörte man gern mein Viola d'amore-Spiel, das allerdings der gesellschaftliche Beitrag war, den ich, der schlichte und in der Konversation niemals sehr vive Gelehrte und Schulmann, vornehmlich zu bieten hatte. In der Rambergstraße waren es namentlich der asthmatische Dr. Kranich und Baptist Spengler, die mich dazu anhielten: der eine aus numismatisch-antiquarischem Interesse (er unterhielt sich gern mit mir in seiner wohlartikulierten und klar gesetzten Sprechweise über die geschichtlichen Formen der Violen-Familie), der andere aus allgemeiner Sympathie für das Unalltägliche, ja Ausgefallene. Doch hatte ich in jenem Hause Rücksicht zu nehmen auf Konrad Knöterichs Begier, sich schnaubend auf dem Cello vernehmen zu lassen, und auf die übrigens berechtigte Vorliebe des kleinen Publikums für Schwerdtfegers einnehmendes Violinspiel. Desto mehr schmeichelte es meiner Eitelkeit (ich leugne das gar nicht), daß die Nachfrage des viel weiteren und gehobeneren Kreises, den der Ehrgeiz der Frau Dr. Schlaginhaufen, geborene von Plausig, um sich und ihren schwäbelnden, dabei sehr schwerhörigen Gatten zu versammeln wußte, nach meiner doch immer nur als Liebhaberei gepflegten Produktion sehr lebhaft war und mich fast immer nötigte, mein Instrument in die Brienner Straße mitzubringen, um die Gesellschaft mit einer Chaconne oder Sarabande aus dem siebzehnten Jahrhundert, einem >Plaisir d'Amour< aus dem achtzehnten zu regalieren oder ihnen eine Sonate von Ariosti, dem Freunde Händeis, oder eines der von Haydn für die Viola di Bordone geschriebenen, aber auf der Viola d'amore wohl spielbaren Stücke vorzuführen.
Nicht nur von Jeannette Scheurl pflegte die Anregung auszugehen, sondern auch von dem Generalintendanten, Exzellenz von Riedesel, dessen Gönnertum für das alte Instrument und die alte Musik nun freilich nicht, wie bei Kranich, gelehrt

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antiquarischer Neigung entstammte, sondern rein konservativer Tendenz war. Das ist, versteht sich, ein großer Unterschied. Dieser Hofmann, ein ehemaliger Reiteroberst, der auf seinen gegenwärtigen Posten einzig und allein aus dem Grunde befohlen worden war, weil er dafür bekannt gewesen war, ein wenig Klavier zu spielen (wie viele Jahrhunderte scheint heute die Zeit zurückzuliegen, wo man Generalintendant wurde, weil man von Adel war und dabei etwas Klavier spielte!) — Baron Riedesel also sah in allem Alten und Historischen eine Trutzburg gegen das Neuzeitliche und Umstürzlerische, eine Art von feudaler Polemik dagegen, und unterstützte es in dieser Gesinnung, ohne in Wahrheit irgend etwas davon zu verstehen. Denn sowenig man das Neue und Junge verstehen kann, ohne in der Tradition zu Hause zu sein, so unecht und steril muß die Liebe zum Alten bleiben, wenn man sich dem Neuen verschließt, das mit geschichtlicher Notwendigkeit daraus hervorgegangen. So schätzte und protegierte Riedesel das Ballett, und zwar, weil es >graziös< sei. Das Wort >graziös< bedeutete ihm ein konservativ-polemisches Schibboleth gegen das Modern-Aufrührerische. Von der künstlerischen Traditionswelt des russisch-französischen Balletts, deren Repräsentanten etwa Tschaikowski, Ravel und Strawinski sind, hatte er gar keine Ahnung und war weit entfernt von Ideen, wie der zuletzt genannte russische Musiker sie später über das klassische Ballett äußerte: es sei, als Triumph maßvoller Planung über das schweifende Gefühl, der Ordnung über den Zufall, als Muster apollinisch bewußten Handelns, das Paradigma der Kunst. Was ihm vielmehr dabei vorschwebte, waren einfach Gazeröckchen, Spitzengetrippel und >graziös< über den Kopf gebogene Arme — unter den Augen einer das >Ideale< behauptenden, das Häßlich-Problematische verpönenden Hofgesellschaft in den Logen und eines gezügelten Bürgertums im Parterre.
Nun wurde freilich bei Schlaginhaufens viel Wagner produziert, da ja die dramatische Sopranistin Tanja Orlanda, eine gewaltige Frau, und der Heldentenor Harald Kjoejelund, ein

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schon dicker Mann mit Zwicker und erzener Stimme, dort häufig Gäste waren. Aber Wagners Werk, ohne das sein Hoftheater auch nicht hätte bestehen können, hatte Herr von Riedesel, laut und heftig wie es war, mehr oder weniger ins Bereich des Feudal->Graziösen< einbezogen und brachte ihm Achtung entgegen, um so bereitwilliger, als es schon Neueres, darüber Hinausgehendes gab, das man ablehnen und gegen das man Wagner konservativ ausspielen konnte. So kam es sogar vor, daß Seine Exzellenz die Sänger selbst am Flügel begleitete, was ihnen schmeichelte, obgleich seine pianistischen Künste dem Klavierauszug wenig gewachsen waren und ihnen mehr als einmal die Effekte gefährdeten. Ich hatte es gar nicht gern, wenn Kammersänger Kjoejelund Siegfrieds endlose und recht stumpfsinnige Schmiedelieder schmetterte, so daß die empfindlicheren Dekorationsstücke des Salons, Vasen und Kunstgläser in ein erregtes Mitschwingen und -schwirren gerieten. Aber ich gestehe, daß ich der Erschütterung durch eine heroische Frauenstimme, wie die der Orlanda es damals war, schwer widerstehe. Die Wucht der Person, die Macht des Organs, die Geübtheit der dramatischen Akzente geben uns die Illusion einer königlichen Frauenseele in hohem Affekt, und nach dem Vortrage etwa von Isoldens »Frau Minne kenntest du nicht?« bis zu ihrem ekstatischen: »Die Fackel, und wär's meines Lebens Licht, lachend sie zu löschen zag' ich nicht« (wobei die Sängerin das theatralische Tun durch eine energisch niederstoßende Bewegung ihres Armes markierte) hätte nicht viel gefehlt, daß ich, Tränen in den Augen, vor der mit Beifall überschütteten, triumphierend Lächelnden hingekniet wäre. Übrigens war es diesmal Adrian, der sich bereit gefunden hatte, sie zu begleiten, und auch er lächelte, als er sich vom Klaviersessel davonmachte und sein Blick meine bis zum Weinen erschütterte Miene streifte.
Es tut wohl, unter solchen Eindrücken selbst etwas zur künstlerischen Unterhaltung der Gesellschaft beitragen zu können, und so rührte es mich, wenn danach Exzellenz von Riedesel, sogleich unterstützt von der hochbeinig eleganten Hausfrau,

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mich in seiner zwar süddeutsch gefärbten, aber vom Offizierston geschärften Sprechweise ermutigte, das Andante und Menuett von Milandre (1770) zu wiederholen, das ich schon kürzlich einmal auf meinen sieben Saiten hier zum besten gegeben. • Wie schwach ist der Mensch! Ich war ihm dankbar, ich vergaß völlig meinen Widerwillen gegen seine glatte und leere, ja vor unverwüstlicher Unverschämtheit gewissermaßen klare Aristokratenphysiognomie mit dem gezwirbelten blonden Schnurrbart vor den rasierten Rundbacken und der blitzenden Monokelscheibe im Auge unter der weißlichen Braue. Für Adrian, das wußte ich wohl, stand die Figur dieses Ritters sozusagen jenseits jeder Bewertung, jenseits von Haß und Verachtung, ja jenseits des Gelächters; sie war ihm kein Achselzucken wert, und so empfand eigentlich auch ich. In solchen Augenblicken aber, wenn er mich zu spendender Aktivität aufforderte, damit die Gesellschaft sich vom Ansturm des Arriviert-Revolutionären bei etwas >Graziösem< erhole, konnte ich nicht umhin, ihm gut zu sein.
Sehr seltsam, teils peinlich und teils komisch war es nun aber, wenn von Riedesels Konservatismus auf einen anderen stieß, bei dem es sich nicht sowohl um ein >Noch< als um ein >Schon wieder< handelte, einen nach- und gegenrevolutionären Konservatismus, ein Frondieren gegen bürgerlich-liberale Wertsetzungen von der anderen Seite, nicht von vorher, sondern von nachher. Zu solcher für den alten und unkomplizierten Konservatismus sowohl ermutigenden wie auch verblüffenden Begegnung bot der Zeitgeist nachgerade Gelegenheit, und auch in dem ehrgeizigerweise so farbig wie möglich komponierten Salon der Frau Schlaginhaufen war Gelegenheit dazu geboten: nämlich durch diePersondesPrivatgelehrtenDr.Chaim Breisacher, eines hochgradig rassigen und geistig fortgeschrittenen, ja waghalsigen Typs von faszinierender Häßlichkeit, der hier, offenbar mit einem gewissen boshaften Vergnügen, die Rolle des fermentösen Fremdkörpers spielte. Die Hausfrau schätzte seine dialektische Redefertigkeit, die übrigens stark pfälzerisch getönt war, und seine Paradoxalität, die die Damen

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mit einer Art von prüdem Jubel die Hände über dem Kopf zusammenschlagen ließ. Ihn selbst angehend, so war es wohl Snobismus, der ihn sich in diesem Kreise gefallen ließ, nebst dem Bedürfnis, die elegante Einfalt mit Ideen in Erstaunen zu setzen, die am Literaten-Stammtisch wahrscheinlich weniger Sensation gemacht hätten. Ich mochte ihn nicht im mindesten, sah immer einen intellektuellen Quertreiber in ihm und hielt mich überzeugt, daß er auch Adrianen widerwärtig war, obgleich es aus mir nicht ganz klaren Gründen niemals zu einem näheren Austausch zwischen uns über Breisacher kam. Aber seine witternde Fühlung mit der geistigen Bewegung der Zeit, seine Nase für ihre neuesten Willensmeinungen habe ich nie geleugnet, und manches davon trat mir in seiner Person und seinem Salongespräch zuallererst entgegen.
Er war ein Polyhistor, der über alles und jedes zu reden wußte, ein Kulturphilosoph, dessen Gesinnung aber insofern gegen die Kultur gerichtet war, als er in ihrer ganzen Geschichte nichts als einen Verfallsprozeß zu sehen vorgab. Die verächtlichste Vokabel in seinem Munde war das Wort Fortschritt; er hatte eine vernichtende Art, es auszusprechen, und man fühlte wohl, daß er den konservativen Hohn, den er dem Fortschritt widmete, als den wahren Rechtsausweis für seinen Aufenthalt in dieser Gesellschaft, als Merkmal seiner Salonfähigkeit verstand. Es hatte Geist, aber keinen so recht sympathischen, wie er den Fortschritt der Malerei von der primitiv flächenhaften zur perspektivischen Darstellung verhohnigelte. Die Ablehnung der perspektivischen Augentäuschung durch die vor-perspektivische Kunst für Unfähigkeit, für Hilflosigkeit, eben für linkischen Primitivismus zu halten und wohl gar mitleidig die Achseln darüber zu zucken, das war es, was er für einen Gipfel alberner neuzeitlicher Arroganz erklärte. Ablehnung, Verzicht, Geringschätzung seien nicht Unvermögen, Unbelehrtheit, kein Armutszeugnis. Als ob nicht die Illusion das allerniedrigste, dem Pöbel gerechteste Prinzip der Kunst, als ob es nicht einfach ein Zeichen noblen Geschmacks sei, nichts von ihr wissen zu wollen! Von gewissen Dingen nichts wissen

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zu wollen, diese Fähigkeit, der Weisheit sehr nahestehend oder vielmehr ein Teil von ihr, sei leider abhanden gekommen, und die ordinäre Naseweisheit heiße sich Fortschritt.
Irgendwie fühlte die Salonbesatzung der geborenen von Plausig sich von diesen Ansichten angeheimelt, und eher noch, glaube ich, hatte sie ein Gefühl dafür, daß Breisacher nicht ganz der Rechte war, sie zu vertreten, als dafür, daß sie nicht die rechten Leute sein möchten, ihnen zu applaudieren.
Ähnlich, sagte er, verhalte es sich mit dem Übergang der Musik von der Monodie zur Mehrstimmigkeit, zur Harmonie, den man so gern als einen kulturellen Fortschritt betrachte, wo er doch gerade eine Akquisition der Barbarei gewesen sei.
»Das heißt... pardon . . . der Barbarei?« krähte Herr von Riedesel, der wohl gewohnt war, in der Barbarei eine, wenn auch leicht kompromittierende, Form des Konservativen zu sehen.
»Allerdings, Exzellenz. Die Ursprünge der mehrstimmigen Musik, das heißt des Gesanges in Quinten- oder Quartenzusammenklängen, liegen weitab vom Zentrum der musikalischen Zivilisation, von Rom, wo die schöne Stimme und ihr Kultus zu Hause waren; sie liegen im rauhkehligen Norden und scheinen eine Art von Kompensierung der Rauhkehligkeit gewesen zu sein. Sie liegen in England und Frankreich, namentlich im wilden Britannien, das sogar zuerst die Terz in die Harmonie aufnahm. Die sogenannte Höherentwicklung, die Komplizierung, der Fortschritt sind also zuweilen die Leistung der Barbarei. Ich stelle anheim, ob man diese dafür loben soll...«
Es war klar und deutlich, daß er die Exzellenz und die ganze Gesellschaft zum besten hatte, indem er sich zugleich konservativ bei ihnen anbiederte. Offenbar war ihm nicht wohl, solange noch irgend jemand wußte, was er denken sollte. Selbstverständlich wurde die polyphone Vokal-Musik, diese Erfindung fortschrittlicher Barbarei, zum Gegenstand seiner konservativen Protektion, sobald der geschichtliche Übergang von ihr zum harmonisch-akkordischen Prinzip und damit zur

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Instrumental-Musik der jüngsten beiden Jahrhunderte sich vollzog. Nun war diese der Verfall, nämlich der Verfall der großen und einzig wahren Kunst des Kontrapunkts, des heilig kühlen Spieles der Zahlen, welches gottlob mit Gefühlsprostitution und frevelhafter Dynamik noch nichts zu tun gehabt habe; und in diesen Verfall gehöre der große Bach aus Eisenach, den Goethe ganz zu Recht einen Harmoniker genannt habe, schon mitten hinein. Man sei nicht der Erfinder des temperierten Klaviers, also der Möglichkeit, jeden Ton mehrdeutig zu verstehen und ihn enharmonisch zu verwechseln, also der neueren harmonischen Modulationsromantik, ohne den harten Namen zu verdienen, den der Bescheidwisser von Weimar ihm gegeben habe. Harmonische Kontrapunktik? Das gebe es nicht. Das sei nicht Fleisch und nicht Fisch. Die Erweichung, Verweichlichung und Verfälschung, die Umdeutung der alten und echten, als Ineinanderklingen verschiedener Stimmen empfundenen Polyphonie ins Harmonisch-Akkordische habe schon im sechzehnten Jahrhundert begonnen, und Leute wie Palestrina, die beiden Gabrieli und unser braver Orlando di Lasso hier auf dem Platz hätten bereits schimpflich daran teilgehabt. Diese Herrschaften brächten uns den Begriff der vokal-polyphonen Kunst >menschlich< am nächsten, o ja, und erschienen uns darum als die größten Meister dieses Stils. Das komme aber einfach daher, daß sie sich großenteils schon in einer rein akkordischen Satzart gefielen und ihre Art, den polyphonen Stil zu traktieren, schon recht erbärmlich von der Rücksicht auf den harmonischen Zusammenklang, auf die Beziehung von Konsonanz und Dissonanz erweicht gewesen sei.
Während alles sich wunderte und erheiterte und sich auf die Knie schlug, suchte ich nach Adrians Augen bei diesen ärgerlichen Reden; doch gewährte er mir nicht seinen Blick. Was von Riedesel anging, so war er die Beute völliger Konfusion.
»Pardon«, sagte er, »erlauben Sie . . . Bach, Palestrina ...«
Diese Namen besaßen für ihn den Nimbus konservativer Autorität, und nun wurden sie dem Bereich modernistischer Zersetzung überwiesen. Er sympathisierte — und war zugleich

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so unheimlich berührt, daß er sogar sein Monokel aus dem Auge nahm, wodurch sein Gesicht jedes Schimmers von Intelligenz beraubt war. Auch ging es ihm nicht besser, wenn Breisachers kulturkritisches Perorieren ins Alt-Testamentarische fiel, sich also seiner persönlichen Ursprungssphäre, dem jüdischen Stamm oder Volk und dessen Geistesgeschichte zuwandte und auch hier einen höchst equivoquen, ja hanebüchenen und dabei boshaften Konservativismus bewährte. Wenn man ihn hörte, setzten da Verfall, Verdummung und der Verlust jeder Fühlung mit dem Alten und Echten so frühzeitig und an so respektabler Stelle ein, wie niemand es sich hatte träumen lassen. Ich kann nur sagen: es war im ganzen wahnsinnig komisch. Für ihn waren solche jedem Christenkinde ehrwürdigen biblischen Personnagen wie die Könige David und Salomo, sowie die Propheten mit ihrem Salbadern vom lieben Gott im Himmel, bereits die heruntergekommenen Repräsentanten einer verblasenen Spät-Theologie, die von der alt- und echten hebräischen Wirklichkeit des Volks-Elohim Jahwe keine Ahnung mehr hatte und in den Riten, mit denen man zur Zeit echten Volkstums diesem Nationalgott diente oder vielmehr ihn zu körperlicher Gegenwart zwang, nur noch »Rätsel der Urzeit« sah. Besonders auf den »weisen«. Salomo war er scharf und sprang mit ihm um, daß die Herren durch die Zähne pfiffen und die Damen ein erstauntes Jauchzen hören ließen.
»Pardon!« sagte von Riedesel. »Ich bin, gelinde gesagt. . . König Salomo in seiner Herrlichkeit.. . Sollten Sie nicht...«
»Nein, Exzellenz, ich sollte nicht«, erwiderte Breisacher. »Der Mann war ein von erotischen Genüssen entnervter Ästhet und in religiöser Beziehung ein fortschrittlicher Dummkopf, typisch für die Rückbildung vom Kult des wirkend gegenwärtigen Nationalgottes, dieses Inbegriffs der metaphysischen Volkskraft, zur Predigt eines abstrakten und allgemeinmenschlichen Gottes im Himmel, von der Volksreligion also zur Allerweltsreligion. Des zum Beweise brauchen wir nur die skandalöse Rede nachzulesen, die- er nach Fertigstellung des ersten Tempels hielt, und worin er fragte: >Kann denn Gott bei den Menschen

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auf Erden wohnen?< — als ob nicht Israels ganze und alleinige Aufgabe darin bestünde, Gott eine Wohnung, ein Zelt zu schaffen und mit allen Mitteln für seine ständige Anwesenheit zu sorgen. Salomo aber entblödet sich nicht, zu deklamieren: >Die Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dies Haus, das ich gebaut habe!< Das ist Geschwätz und der Anfang vom Ende, nämlich von der entarteten Gottesvorstellung der Psalmenpoeten, bei denen Gott bereits vollständig in den Himmel verbannt ist, und die beständig von Gott im Himmel singen, wo1 doch der Pentateuch den Himmel als Sitz der Gottheit gar nicht kennt. Dort geht der Elohim dem Volk in einer Feuersäule voran, dort will er im Volke wohnen, im Volke umhergehen und seinen Schlachttisch haben, — um das dünne und menschheitliche Spätwort >Altar< zu vermeiden. Sollte man es für möglich halten, daß ein Psalmist Gott fragen läßt: >Esse ich denn das Fleisch der Stiere, und trinke ich das Blut der Böcke?< So etwas Gott in den Mund zu legen, ist nun schon einfach unerhört, ein Schlag impertinenter Aufklärung ins Gesicht des Pentateuch, der das Opfer ausdrücklich als >das Brot< also als die wirkliche Nahrung Jahwe's bezeichnet. Es ist nur ein Schritt von dieser Frage, aber auch schon von den Redensarten des weisen Salomo, bis zu Maimonides, dem angeblich größten Rabbiner des Mittelalters, einem Aristotelischen Assimilanten in Wahrheit, der es fertigbringt, die Opfer als eine Konzession Gottes an die heidnischen Instinkte des Volkes zu >erklären<, ha, ha! Gut, das Opfer von Blut und Fett, das einst, gesalzen und mit Reizgerüchen gewürzt, den Gott speiste, ihm einen Körper machte, ihn zur Gegenwart anhielt, ist für den Psalmisten nur noch ein >Symbol<« (ich höre noch den Akzent unbeschreiblicher Verachtung, mit dem Dr. Breisacher dies Wort aussprach); »man schlachtet nicht mehr das Tier, sondern, es ist kaum zu glauben, Dank und Demut. >Wer Dank schlachtet^ heißt es nun, >der ehrt mich.< Und ein ander Mal: >Die Schlachtopfer Gottes sind ein reuiges Gemüt.< Kurzum, Volk und Blut und religiöse Wirklichkeit ist das längst nicht mehr, sondern humane Wassersuppe ...«

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Dies als Probe von Breisachers hoch-konservativen Expektorationen. Es war so amüsant wie widerwärtig. Er konnte sich nicht genug darin tun, den echten Ritus, den Kult des realen und keineswegs abstrakt universellen, darum auch nicht >allmächtigen< und >allgegenwärtigen< Volksgottes als eine magische Technik, eine körperlich nicht ungefährliche Manipulation des Dynamischen hinzustellen, bei der es leicht zu Unglücksfällen, katastrophalen Kurzschlüssen infolge von Fehlern und Mißgriffen kommen konnte. Die Söhne Aarons waren gestorben, weil sie »artfremdes Feuer« herangebracht hatten. Das war so ein technischer Unglücksfall, die kausale Folge eines Fehlers. Einer namens Usa hatte unbesonnen den Kasten, die sogenannte Bundeslade, angefaßt, als sie beim Transport vom Wagen zu gleiten drohte, und war sofort tot umgefallen. Das war ebenfalls so eine transzendental-dynamische Entladung, entstanden durch Fahrlässigkeit, und zwar durch die Fahrlässigkeit des allzuviel die Harfe spielenden Königs David, der nämlich auch schon nichs mehr verstand und nach Philisterart den Kasten auf einem Wagen befördern ließ, statt ihn nach der nur zu wohl begründeten Vorschrift des Pentateuch auf Tragstangen tragen zu lassen. David war eben bereits nicht weniger ursprungsfremd und verdummt, um nicht zu sagen: verroht gewesen wie Salomo. Von den dynamischen Gefahren einer Volkszählung etwa hatte er nichts mehr gewußt und durch die Veranstaltung einer solchen einen schweren biologischen Schlag, eine Epidemie, ein Sterben herbeigeführt, als voraussehbare Reaktion der metaphysischen Volkskräfte. Denn ein echtes Volk ertrug einfach nicht solche mechanisierende Registrierung, die numerierende Auflösung des dynamischen Ganzen in gleichartige Einzelne...
Es war Breisachern nur lieb, daß eine Dame einschaltete, sie habe gar nicht gewußt, daß eine Volkszählung eine solche Sünde sei.
»Sünde??« erwiderte er in übertriebenem Frageton. Nein, in der echten Religion eines echten Volkes kämen solche matt theologischen Begriffe wie >Sünde< und >Strafe< in ihrem bloß

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noch ethischen Kausalzusammenhang gar nicht vor. Um was es sich handle, sei die Kausalität von Fehler und Betriebsunfall. Religion und Ethik hätten nur insofern etwas miteinander zu tun, als diese den Verfall der ersteren darstelle. Alles Moralische war ein >rein geistiges< Mißverständnis des Rituellen. Gab es etwas Gottverlasseneres als das >Rein GeistigeGebet<, sit venia verbo, eine Bettelei, ein Gnadengesuch, ein >Ach, du Herr< und >Gott, erbarme dich<, ein >Hilf< und >Gib< und >Sei so gut< zu machen. Das sogenannte Gebet...
»Pardon!« sagte von Riedesel, diesmal mit wirklichem Nachdiuck. »Alles, was recht ist, aber das >Helm ab zum Gebet< war mir immer . . .«
»Das Gebet«, vollendete Dr.Breisacher unerbittlich, »ist die vulgarisierte und rationalistisch verwässerte Spätform von etwas sehr Energischem, Aktivem und Starkem: der magischen Beschwörung, des Gotteszwanges.«
Der Baron tat mir wahrhaftig leid. Seinen Kavalierskonservativismus übertrumpft zu sehen durch das fürchterlich gescheite Ausspielen des Atavistischen, durch einen Radikalismus der Bewahrung, der nichs Kavaliermäßiges mehr, sondern eher etwas Revolutionäres hatte und zersetzender anmutet als jeder Liberalismus, dabei aber eben doch, wie zum Hohn, einen löblich konservativen Appell besaß, mußte ihn in tiefster Seele verwirren, — ich stellte mir vor, daß es ihm eine schlaflose Nacht bereiten würde, wobei ich in meinem Mitgefühl aber vielleicht zu weit ging. Dabei war in Breisachers Reden durchaus nicht alles in Ordnung; man hätte ihm leicht widersprechen, ihn etwa darauf hinweisen können, daß die spirituelle Geringschätzung des Opfers nicht erst bei den Propheten, sondern im Pentateuch selbst zu finden ist, nämlich bei Moses, der das Opfer unumwunden für nebensächlich erklärt und alles Gewicht auf den Gehorsam gegen Gott, das Halten seiner Gebote, legt. Aber dem zarter empfindenden Menschen widersteht es, zu stören; es widersteht ihm, mit logischen oder historischen Gegenerinnerungen in eine erarbeitete Gedanken

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Ordnung einzubrechen, und noch im Anti-Geistigen ehrt und schont er das Geistige. Heute sieht man wohl, daß es der Fehler unserer Zivilisation war, diese Schonung und diesen Respekt allzu hochherzig geübt zu haben, — wo sie es doch auf der Gegenseite mit barer Frechheit und der entschlossensten Intoleranz zu tun hatte.
An alle diese Dinge dachte ich schon, als ich gleich am Beginn dieser Aufzeichnungen das Bekenntnis meiner Judenfreundlichkeit durch die Bemerkung einschränkte, daß mir auch recht ärgerliche Beispiele dieses Geblüts über den Weg gelaufen seien, und der Name des Privatgelehrten Breisacher mir verfrüht aus der Feder schlüpfte. Kann man es übrigens dem jüdischen Geist verargen, wenn seine hellhörige Empfänglichkeit für das Kommende, Neue sich auch in vertrackten Situationen bewährt, wo das Avantgardistische mit dem Reaktionären zusammenfällt? Jedenfalls habe ich die neue Welt der Anti-Humanität, von der meine Gutmütigkeit gar nichts wußte, damals bei Schlaginhaufens durch eben diesen Breisacher zuerst zu spüren bekommen.


XXIX

Der Münchener Fasching von 1914, diese lockeren und verbrüdernden Wochen der festheißen Backen zwischen Epiphanias und Aschermittwoch mit ihren mancherlei öffentlichen und privaten Veranstaltungen, an denen ich, der noch jugendliche Gymnasialprofessor von Freising, auf eigene Hand oder auch in Gesellschaft Adrians teilnahm, ist mir in lebhafter, ich sage besser: verhängnisschwerer Erinnerung geblieben. War es ja der letzte vor Eintritt des vierjährigen JKrieges, der sich jetzt für unseren geschichtlichen Blick mit den Schrecken unserer Tage zu einer Epoche zusammenschließt: des sogenannten ersten Weltkrieges, der der ästhetischen Lebensunschuld der Isarstadt, ihrer dionysischen Behaglichkeit, wenn ich mich so ausdrücken darf, für immer ein Ende machte. War es ja

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doch auch die Zeit, in der gewisse individuelle Schicksalsentwicklungen in unserem Bekanntenkreis unter meinen Augen sich anspannen, die, von der weiteren Welt natürlich fast unbeachtet, zu Katastrophen führen sollten, von denen in diesen Blättern die Rede sein muß, weil sie sich zum Teil mit dem Leben und Schicksal meines Helden, Adrian Leverkühns, nahe berührten, ja, weil er in eine davon nach meinem tiefsten Wissen auf eine geheimnisvoll-tödliche Weise handelnd verwickelt war.
Damit ist nicht das Los Clarissa Rodde's gemeint, dieser stolzen und spöttischen, mit dem Makabren spielenden Hochblondine, die damals noch unter uns weilte, noch bei ihrer Mutter lebte und an den Karnevalsbelustigungen teilnahm, aber sich schon darauf vorbereitete, die Stadt zu verlassen, um ein Engagement als jugendliche Liebhaberin an einer Provinzbühne anzutreten, welches ihr Lehrer, der Hof theater-Heldenvater, ihr verschafft hatte. Das sollte sich als ein Unglück erweisen, und ihr theatralischer Mentor, Seiler mit Namen, ein erfahrener Mann, ist von jeder Verantwortung dafür zu entlasten. Er hatte eines Tages der Senatorin Rodde einen Brief geschrieben, worin er erklärte, seine Schülerin sei zwar außerordentlich intelligent und von Enthusiasmus für das Theater erfüllt, aber ihr natürliches Talent reiche nicht aus, eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn zu gewährleisten; es fehle ihr an der primitiven Grundlage alles dramatischen Künstlertums, an komödiantischem Instinkt, an dem, was man Theaterblut nenne, und er müsse gewissenhafterweise davon abraten, daß sie den eingeschlagenen Weg weiter verfolge. Das aber hatte zu einer Tränenkrise, einem Verzweiflungsausbruch auf Seiten Clarissa's geführt, der der Mutter zu Herzen ging, und Hofschauspieler Seiler, der sich ja mit dem Briefe gedeckt hatte, war bestimmt worden, die Ausbildung zu beenden und durch seine Verbindungen dem jungen Mädchen zum Start in einer Anfängerstellung zu verhelfen.
Es sind nun schon zweiundzwanzig Jahre, seit sich das beklagenswerte Schicksal Clarissa's erfüllte; und in chronologi-

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scher Ordnung werde ich davon berichten. Hier habe ich dasjenige ihrer zarten und schmerzlichen, die Vergangenheit und das Leid kultivierenden Schwester Ines im Auge — nebst demjenigen des armen Rudi Schwerdtfeger, an welches ich mit Schrecken dachte, als ich soeben von der Involviertheit des einsamen Adrian Leverkühn in diese Vorgänge vorläufig zu sprechen nicht unterlassen konnte. Solche Antizipationen ist ja der Leser bei mir schon gewohnt, und er möge sie nicht als schriftstellerische Zügellosigkeit und Wirrköpfigkeit deuten. Es ist einfach so, daß ich gewisse Dinge, die ich dann und dann werde zu erzählen haben, mit Furcht und Sorge, ja mit Grauen von weitem ins Auge fasse, daß sie mir sehr drückend vorstehen, und daß ich ihr Gewicht zu verteilen suche, indem ich sie schon vorzeitig anspielungsweise und freilich nur mir selbst verständlich zu Worte kommen — sie halb und halb bereits aus dem Sacke lasse. Damit meine ich mir ihre künftige Mitteilung zu erleichtern, ihnen den Stachel des Entsetzens zu nehmen, ihre Unheimlichkeit zu verdünnen. Soviel zur Entschuldigung einer >fehlerhaften< Vortragstechnik und zum Verständnis meiner Nöte. — Daß Adrian den Anfängen der Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, ganz ferne stand, ihnen kaum Augenmerk schenkte und nur durch mich, dem viel mehr gesellschaftliche Neugier, oder soll ich sagen: menschliche Teilnahme, eigen war als ihm, in gewissem Grade darauf hingelenkt wurde, brauche ich nicht erst zu sagen. Es handelt sich um folgendes.
Wie früher schon angedeutet, harmonierten beide Schwestern Rodde, Clarissa sowohl wie Ines, nicht sonderlich mit ihrer Mutter, der Senatorin, und gaben nicht selten zu erkennen, daß ihnen die zahme, leicht lüsterne Halb-Boheme ihres Salons, ihres entwurzelten, wenn auch mit Resten patrizischer Bürgerlichkeit möblierten Daseins auf die Nerven ging. Beide strebten in verschiedenen Richtungen aus dem hybriden Zustande fort: die stolze Clarissa hinaus in ein entschiedenes Künstlertum, zu dem es ihr doch, wie ihr Meister nach einiger Zeit hatte feststellen müssen, an der rechten Blutsberufung

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fehlte; die fein-melancholische und von Grund aus lebensängstliche Ines dagegen zurück in das Obdach, den seelischen Schutz gesicherten Bürgerstandes, wozu der Weg eine respektable, womöglich aus Liebe, sonst aber in Gottes Namen auch ohne Liebe geschlossene Heirat war. Ines beschritt, natürlich mit der herzlich sentimentalen Zustimmung ihrer Mutter, diesen Weg — und scheiterte auf ihm ebenso wie ihre Schwester auf dem ihren. Es stellte sich tragisch heraus, daß weder ihr persönlich dies Ideal eigentlich zukam, noch die alles verändernde und unterwühlende Epoche seine Erfüllung länger gestattete.
Damals näherte sich ihr ein gewisser Dr. Helmut Institoris, Ästhetiker und Kunsthistoriker, Privatdozent an der Technischen Hochschule, wo er, Photographien im Hörsaal herumschickend, über die Theorie des Schönen und die Baukunst der Renaissance las, aber mit guten Aussichten, eines Tages auch an die Universität berufen und Professor, Ordinarius, Mitglied der Akademie etc. zu werden, besonders wenn er, der Junggeselle aus vermöglicher Würzburger Familie, Anwärter eines bedeutenden Erbteils, die Stattlichkeit seines Daseins durch die Gründung eines die Gesellschaft versammelnden Hausstandes erhöhte. Er ging auf Freiersfüßen und brauchte dabei nicht Sorge zu tragen um die finanziellen Verhältnisse des Mädchens seiner Wahl, — im Gegenteil, er gehörte wohl zu den Männern, die in der Ehe ganz allein das wirtschaftliche Heft in Händen zu haben und die Gattin ganz von sich abhängig zu wissen wünschen.
Von Stärkegefühl zeugt das nicht, und Institoris war in der Tat kein starker Mann, — was sich auch an der ästhetischen Bewunderung erkennen ließ, die er für alles Starke und rücksichtslos Blühende hegte. Er war ein blonder Langschädel, eher klein und recht elegant, mit glattem, gescheiteltem, etwas geöltem Haar. Den Mund überhing leicht ein blonder Schnurrbart, und hinter der goldenen Brille blickten die blauen Augen mit zartem, edlem Ausdruck, der es schwerverständlich — oder vielleicht eben gerade verständlich — machte, daß er die Brutalität verehrte, natürlich nur, wenn sie schön war. Er gehörte

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dem von jenen Jahrzehnten gezüchteten Typ an, der, wie Baptist Spengler es einmal treffend ausdrückte, »während ihm die Schwindsucht auf den Wangenknochen glüht, beständig schreit: Wie ist das Leben so stark und schön!«
Nun, Institoris schrie nicht, er sprach vielmehr leise und lispelnd, selbst wenn er die italienische Renaissance als eine Zeit verkündete, die »von Blut und Schönheit geraucht« habe. Und er war auch nicht schwindsüchtig, hatte höchstens, wie fast jedermann, in früher Jugend eine leichte Tuberkulose durchgemacht. Aber zart und nervös war er, litt am Sympathikus, dem Sonnengeflecht, von dem so viele Beängstigungen und verfrühte Todesgefühle ausgehen, und war Stammgast eines Sanatoriums für reiche Leute in Meran. Sicherlich versprach er sich — und versprachen seine Ärzte ihm — von dem Gleichmaß eines gepflegten Ehelebens auch eine Stärkung seiner Gesundheit.
Winter 1913-14 also näherte er sich unserer Ines Rodde auf eine Weise, die erraten ließ, daß es auf eine Verlobung hinauslaufen würde. Diese ließ zwar noch eine geraume Weile, bis in die erste Kriegszeit hinein, auf sich warten: Ängstlichkeit und Gewissenhaftigkeit auf beiden Seiten drangen wohl auf längere, sorgfältige Prüfung der Frage, ob man auch wirklich füreinander geboren sei. Aber eben diese Frage schien, wenn man das »Pärchen«, sei es im Salon der Senatorin, wo Institoris sich schicklich eingeführt hatte, oder auf öffentlichen Festen, oft in gesondertem Plauderwinkel, beieinander sah, zwischen ihnen, geradezu oder in halben Worten, erörtert zu werden, und der beobachtende Menschenfreund, der etwas wie eine Vor- und Probeverlobung schweben sah, fühlte sich unwillkürlich gehalten, an dieser Erörterung innerlich teilzunehmen.
Daß Helmut gerade auf Ines seine Augen geworfen, darüber mochte man sich wundern, um es am Ende doch ganz wohl zu verstehen. Ein Renaissance-Weib war sie nicht, — nichts weniger als das in ihrer seelischen Gebrechlichkeit, mit ihrem verhängten Blick voll distinguierter Trauer, ihrem schräg

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vorgeschobenen Halschen und ihrem zu schwacher und prekärer Schelmerei gespitzten Mund. Aber mit seinem ästhetischen Ideal hätte dieser Freier ja auch gar nicht zu leben gewußt; seine männliche Überlegenheit wäre dabei völlig zu kurz gekommen, — man brauchte ihn sich nur an der Seite einer tönenden Vollnatur wie der Orlanda vorzustellen, um sich davon humoristisch zu überzeugen. Auch war Ines keineswegs ohne weiblichen Reiz; daß ein Umschau haltender Mann sich in ihr schweres Haar, ihre kleinen, Grübchen bildenden Hände, ihre vornehm auf sich haltende Jugend verliebt hatte, war sehr begreiflich. Sie mochte sein, was er brauchte. Ihre Umstände zogen ihn an: nämlich ihre patrizische Abkunft, die sie betonte, die aber durch ihren gegenwärtigen Zustand, ihre Verpflanztheit, eine gewisse Deklassiertheit leicht herabgesetzt war, so daß sie sein Übergewicht nicht bedrohte; vielmehr konnte er das Gefühl haben, sie zu heben, zu rehabilitieren, indem er sie zu der Seinen machte. Eine Mutter, die Witwe, halb verarmt und ein wenig vergnügungssüchtig war; eine Schwester, die zum Theater ging; ein mehr oder weniger zigeunerischer Umgangskreis, — das waren Verhältnisse, die ihm im Interesse seiner eigenen Würde nicht mißfielen, besonders, da er sich durch diese Verbindung auch wieder gesellschaftlich nichts vergab, seine Carriere nicht durch sie gefährdete und sicher sein konnte, daß Ines, von der Senatorin korrekt und gemütvoll mit einer Leinen-, vielleicht auch Silbermitgift ausgestattet, ihm eine tadellos repräsentierende Hausfrau sein werde.
So stellten sich mir die Dinge, von Dr. Institoris aus gesehen, dar. Versuchte ich, mit den Augen des Mädchens auf ihn zu blicken, so verlor die Sache an Stimmigkeit. Ich konnte dem durchaus kleinlichen und um sich selbst besorgten, zwar feinen und trefflich gebildeten, aber körperlich durchaus unherrlichen Mann (er hatte übrigens auch einen trippelnden Gang) mit dem Aufgebot meiner ganzen Phantasie keinen Appell für das andere Geschlecht zuschreiben, — während ich doch fühlte, daß Ines, bei aller verschlossenen Strenge ihrer

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Magdschaft, eines solchen Appells im Grunde bedurfte. Hinzu kam der Gegensatz zwischen den philosophischen Gesinnungen, der theoretischen Lebensstimmung der beiden, — der diametral und geradezu exemplarisch zu nennen war. Es war, auf die kürzeste Formel gebracht, der Gegensatz zwischen Ästhetik und Moral, der ja zu einem guten Teil die kulturelle Dialektik jener Epoche beherrschte und sich in diesen beiden jungen Leuten gewissermaßen personifizierte: der Widerstreit zwischen einer schulmäßigen Glorifizierung des >Lebens< in seiner prangenden Unbedenklichkeit — und der pessimistischen Verehrung des Leidens mit seiner Tiefe und seinem Wissen. Man kann sagen, daß an seiner schöpferischen Quelle dieser Gegensatz eine persönliche Einheit gebildet hatte und erst in der Zeit streitbar auseinandergefallen war. Dr. Institoris war — man muß hinzufügen: Du lieber Gott! — mit Haut und Haar ein Renaissancemensch und Ines Rodde ganz ausgesprochen ein Kind des pessimistischen Moralismus. Für eine Welt, die »von Blut und Schönheit rauchte«, hatte sie nicht das geringste übrig, und was das >Leben< betraf, so suchte sie ja gerade Schutz davor in einer streng bürgerlichen, vornehmen und wirtschaftlich wohlgepolsterten Ehe, die nach Möglichkeit jeden Stoß abhielt. Es war eine Ironie, daß der Mann — oder das Männchen —, der ihr diese Zuflucht bieten zu wollen schien, so sehr für schöne Ruchlosigkeit und italienische Giftmorde schwärmte.
Ich bezweifle, daß die beiden sich in weltanschaulichen Kontroversen ergingen, wenn sie allein waren. Sie sprachen dann wohl von näherliegenden Dingen und versuchten einfach, wie es sein würde, wenn sie sich verlobten. Die Philosophie war mehr ein Gegenstand höherer gesellschaftlicher Unterhaltung, und ich erinnere mich allerdings an mehrere Gelegenheiten, bei denen, in größerem Kreise, am Rast- und Weintisch in einer Ballsaal-Laube, ihre Gesinnungen konversationeil aufeinanderstießen: wenn etwa Institoris behauptete, nur Menschen mit starken, brutalen Trieben könnten große Werke schaffen, und Ines dagegen protestierte, indem sie geltend machte, es

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seien oft höchst christliche, vom Gewissen gebeugte, vom Leiden verfeinerte und gegen das Leben düster gestimmte Verfassungen gewesen, aus denen in der Kunst das Große hervorgegangen sei. Mir schienen solche Antithesen müßig und zeitgebunden, der Wirklichkeit, nämlich dem selten geglückten und gewiß immer prekären Gleichgewicht von Vitalität und Infirmität, das offenbar das Genie ausmacht, schienen sie mir gar nicht gerecht zu werden. Aber hier vertrat nun einmal der eine Part das, was er war, nämlich die Lebenskränklichkeit, und der andere das, was er anbetete, nämlich die Kraft, und so mußte man sie gewähren lassen.
Einmal, wie ich mich erinnere, als wir so beisammen saßen (auch Knöterichs, Zink und Spengler, Schildknapp und sein Verleger Radbruch waren von der Partie), entspann sich der freundschaftliche Streit gar nicht zwischen den Liebesleuten, wie man wohl anfangen konnte sie zu nennen, sondern, fast, komischerweise, zwischen Institoris und Rudi Schwerdtfeger, der, sehr nett als Jägerbursche gekleidet, eben einmal bei uns saß. Ich weiß wirklich nicht mehr genau, um was es sich handelte; jedenfalls war die Meinungsverschiedenheit aus einer ganz unschuldigen Bemerkung Schwerdtfegers hervorgegangen, bei der er sich wenig oder nichts gedacht hatte. Sie betraf das >Verdienst<, soviel weiß ich, ein Erkämpftes, Errungenes, durch Willensanstrengung und Selbstüberwindung Geleistetes, und Rudolf, der das Vorkommnis von Herzen gelobt und es verdienstvoll genannt hatte, konnte gar nicht verstehen, was Institoris nur einfiel, daß er ihm das verwies und kein Verdienst anerkennen wollte, welches schwitzte. Vom Standpunkt der Schönheit, sagte er, sei nicht der Wille zu loben, sondern die Gabe und diese allein als verdienstlich anzusprechen. Die Anstrengung sei pöbelhaft, vornehm allein und darum allein auch verdienstvoll, was aus Instinkt, unwillkürlich und mit Leichtigkeit geschehe. Nun war der gute Rudi gar kein Held und Überwinder und hatte seiner Lebtag nie etwas getan, was ihm nicht leichtgefallen wäre, wie zum Beispiel, und hauptsächlich, sein ausgezeichnetes Violinspiel. Aber was der

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andere da sagte, ging ihm doch gegen das Gemüt, und obgleich er dunkel fühlte, daß es eine irgendwie >höhere<, ihm nicht zugängliche Bewandtnite er in Institoris' Gesicht, und seine blauen Augen bohrten sich abwechselnd in dessen s damit habe, wollt' er es sich nicht bieten lassen. Mit entrüstet aufgeworfenen Lippen blickrechtes und linkes.
»Nein, wie denn, das ist doch Unsinn«, sagte er eher leise und gedrückt, worin sich andeutete, daß er seiner Sache nicht so ganz sicher war. »Verdienst ist Verdienst, und Gabe ist eben keines. Du sprichst immer von Schönheit, Doktor, aber es ist doch sehr schön, wenn einer es über sich gewinnt und es besser macht, als ihm von Natur gegeben ist. Was sagst du, Ines?« wandte er sich hilfesuchend an diese, eine Anfrage, in der nun wieder völlige Naivität sich äußerte, denn er hatte keine Ahnung von der Grundsätzlichkeit, mit der Ines in solchen Dingen entgegengesetzter Meinung war als Helmut.
»Du hast recht«, antwortete sie, indem eine feine Röte ihr Gesicht überzog. »Jedenfalls gebe ich dir recht. Die Gabe ist belustigend, aber in dem Worte >Verdienst< liegt eine Bewunderung, die ihr und überhaupt dem Instinktiven nicht zukommt.«
»Da hast du's!« rief Schwerdtfeger triumphierend, und Institoris lachte zurück:
»Allerdings. Du bist vor die rechte Schmiede gegangen.«
Nun war hier aber etwas Sonderbares, das wenigstens flüchtig zu empfinden wohl niemand umhinkonnte, und das sich auch in Ines' nicht gleich wieder verschwindendem Erröten bezeugte. Es lag ja durchaus in ihrer Linie, daß sie ihrem Freier in dieser und jeder ähnlichen Frage unrecht gab. Aber daß sie dem Knaben Rudolf recht gab, das lag nicht in ihrer Linie. Diesem war ja ganz unbekannt, daß es so etwas gäbe wie Immoralismus, und man kann nicht gut jemandem recht geben, der die Gegenthesis gar nicht versteht, — wenigstens nicht, bevor man sie ihm erklärt hat. In Ines' Urteilsspruch lag, obgleich er logisch ganz natürlich und gerechtfertigt war, dennoch etwas Befremdliches, und für mich wurde es unterstrichen

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durch das Auflachen, mit dem ihre Schwester Clarissa Schwerdtfegers unverdienten Sieg begleitete, — diese stolze Person mit zu kurzem Kinn, der es sicher nicht entging, wenn die Überlegenheit, aus Gründen, die nichts mit Überlegenheit zu tun haben, sich etwas vergab, und die ebenso gewiß der Meinung war, daß sie sich nichts damit vergab.
»Nun«, rief sie, »Rudolf, hopp! bedanken Sie sich, steh auf, Jüngling, und neige dich! Hole deiner Retterin ein Eis und engagier sie zum nächsten Walzer!«
So machte sie es immer. Sie hielt sehr stolz mit ihrer Schwester zusammen und sagte immer »Hopp!«, wenn es deren Würde galt. »Na, hopp!« sagte sie auch zu Institoris, dem Bewerber, wenn der sich in der Galanterie irgendwie langsam und begriffsstutzig erwies. Sie hielt überhaupt, aus Stolz, mit der Überlegenheit zusammen, sorgte für sie und zeigte sich höchlichst erstaunt, wenn ihr nicht gleich nach Gebühr geschah. »Wenn der von dir etwas will«, schien sie sagen zu wollen, »so hast du zu springen.« Ich erinnere mich wohl, wie sie zu Schwerdtfeger auch einmal »Hopp!« sagte um Adrians willen, der in Sachen eines Zapfenstößer-Konzerts irgendeinen Wunsch (ich glaube, es handelte sich um eine Karte für Jeannette Scheurl) geäußert hatte, gegen dessen Erfüllung Schwerdtfeger dies oder das einzuwenden hatte.
»Ja, Rudolf! Hopp!« rief sie. »Um Gottes willen, was ist denn? Muß man Ihnen Beine machen?«
»Nein doch, das muß man gar nicht«, erwiderte er. »Ich bin doch gewiß . . . Nur .. .«
»Da gibt es kein >Nur<», trumpfte sie von oben herab, halb humoristisch, halb ernstlich strafend. Und Adrian sowohl wie Schwerdtfeger lachten, — dieser, indem er seine bekannte Jungegengrimasse mit dem Mundwinkel, der Schulter vollführte und alle zu ordnen versprach.
Es war, als ob Clarissa in Rudolf eine Art von Bewerber sah, der zu »springen« hatte; und tatsächlich bemühte er sich ja beständig in der naivsten und zutraulich-unabschreckbarsten Weise um Adrians Gunst. Wegen des wirklichen Bewer-

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bers, desjenigen, der um ihre Schwester warb, suchte sie mich öfters um meine Meinung auszuholen, — was übrigens in zarterer, scheuerer Weise, gleich wieder zurückzuckend gleichsam und so, als wollte sie hören und auch wieder nichts hören und wissen, Ines selber ebenfalls tat. Beide Schwestern hatten Vertrauen zu mir, das heißt: sie schienen mir den Wert beizulegen, der dazu befähigt und berechtigt, andere zu bewerten, wozu allerdings, das Vertrauen zu vollenden, auch noch ein gewisses Außerhalb-des-Spieles-Stehen, eine ungetrübte Neutralität gehört. Die Rolle des Vertrauten ist immer zugleich wohltuend und schmerzlich, denn man spielt sie ja immer nur unter der Voraussetzung, daß man selber nicht in Betracht kommt. Aber wieviel besser ist es doch, habe ich mir oft gesagt, der Welt Vertrauen einzuflößen, als ihre Leidenschaften zu erregen! Wieviel besser, ihr >gut<, als ihr >schön< zu erscheinen !
Ein >guter Mensch<, das war in Ines Roddes Augen wohl ein solcher, zu dem die Welt in einem rein moralischen, nicht in einem ästhetisch gereizten Verhältnis steht; daher ihr Vertrauen zu mir. Ich muß aber sagen, daß ich die Schwestern etwas ungleich bediente und meine Meinungsauskünfte über den Freier Institoris doch ein wenig nach der Person der Fragerin einrichtete. Im Gespräch mit Clarissa ging ich weit mehr aus mir heraus, äußerte mich über die Motive seiner zögernden (übrigens ja nicht einseitig zögernden) Wahl als Psychologe und scheute mich nicht, mich über den die »brutalen Instinkte« vergötternden Schwachmatikus mit ihrem Einverständnis ein wenig lustig zu machen. Anders, wenn Ines selbst mich befragte. Dann nahm ich Rücksicht auf Gefühle, die ich pro forma bei ihr voraussetzte, ohne doch eigentlich an sie zu glauben, Rücksicht also vielmehr auf die Vernunftgründe, aus denen sie aller Voraussicht nach den Mann heiraten würde, und sprach mit gehaltener Achtung von seinen soliden Eigenschaften, seinem Wissen, seiner menschlichen Sauberkeit, seinen vortrefflichen Aussichten. Meinen Worten hinlängliche Wärme zu geben, und auch wieder nicht zu viel davon, war

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eine heikle Aufgabe; denn gleich verantwortungsvoll schien es mir, das Mädchen in ihren Zweifeln zu bestärken und ihr das Obdach zu verleiden, nach dem es sie verlangte, wie sie zu überreden, daß sie sich, diesen Zweifeln entgegen, darunter begäbe; ja, dann und wann wollte mir, aus einem besonderen Grunde, das Zureden noch verantwortungsvoller erscheinen als das Abraten.
Sie hatte nämlich meistens bald genug davon, meine Meinung über Helmut Institoris zu hören, und ging weiter in ihrem Vertrauen, verallgemeinerte es gewissermaßen, indem sie mein Urteil auch über andere Personen unseres Kreises hören wollte, zum Beispiel über Zink und Spengler oder, daß ich noch ein Beispiel nenne, über Schwerdtfeger. Wie ich über sein Geigenspiel dächte, wollte sie wissen, über seinen Charakter; ob und in welchem Grade ich ihn achtete, welche Tönung von Ernst oder Humor diese Achtung aufweise. Ich antwortete ihr nach bestem Ermessen, mit möglichster Gerechtigkeit, geradeso, wie ich auch in diesen Blättern hier über Rudolf gesprochen habe, und sie hörte mir aufmerksam zu, um dann meine freundlich bedingten Lobsprüche durch eigene Bemerkungen zu ergänzen, denen wieder ich nur zustimmen konnte, die mich aber zum Teil auch durch ihre Eindringlichkeit frappierten: eine leidende Eindringlichkeit, die ja bei dem Charakter des Mädchens, ihrem von Mißtrauen verhängten Blick auf das Leben nicht überraschen konnte, aber, angewandt auf diesen Gegenstand, doch etwas Befremdendes hatte.
Dabei war es am Ende kein Wunder, daß sie, die den anziehenden jungen Mann so viel länger kannte als ich und, wie ihre Schwester, in einer Art von brüderlichem Verhältnis zu ihm stand, näher auf ihn hingeblickt hatte als ich, und im Vertrauen Genaueres über ihn zu sagen wußte. Er sei ein Mensch ohne Laster, sagte sie (sie gebrauchte nicht das Wort, sondern irgendein schwächeres, aber es war klar, daß sie es meinte), ein reiner Mensch — daher seine Zutraulichkeit; denn Reinheit ist zutraulich. (Ein ergreifendes Wort in ihrem Munde, da sie selber ja keineswegs zutraulich war, wenn auch ausnahms-

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weise zu mir.) Er trinke nicht — immer nur leicht gezuckerten Tee ohne Rahm, diesen allerdings dreimal am Tage —, und rauche nicht — höchstens nur ganz gelegentlich und in völliger Unabhängigkeit von einem Gewohnheitszwange. Für all solche Mannesbetäubung (ich glaube mich zu erinnern, daß sie sich so ausdrückte), für jene Narkotika also trete bei ihm der Flirt ein, dem er allerdings ganz ergeben, und für den er geboren sei — nicht für Liebe und Freundschaft, die ihm beide seiner Natur nach und gleichsam unter den Händen zum Flirt würden. Ein leichter Vogel? Ja und nein. Gewiß nicht im Sinne platter Gewöhnlichkeit. Man brauche ihn nur etwa mit Fabrikant Bullinger zusammen zu sehen, der sich so Ungeheures auf seinen Reichtum zugute tue und spottweise zu trällern pflege:

Ein frohes Herz, gesundes Blut
ist besser als viel Geld und Gut —,

nur um die Leute noch neidischer auf sein Geld zu machen, — wenn man des Unterschiedes innewerden wollte. Aber seines Wertes immer gewahr und sich desselben bewußt zu bleiben, erschwere Rudolf einem durch seine Nettigkeit, seine Koketterie, sein gesellschaftliches Stutzertum, überhaupt seine Lust am Gesellschaftlichen, das doch eigentlich etwas Fürchterliches sei. Ob ich nicht fände, fragte sie, daß dieses ganze aufgeräumte und schmuckhafte Künstlerwesen hier am Ort, das zierliche Biedermeierfest zum Beispiel im Cococello-Club, das wir neulich mitgemacht hätten, in einem quälenden Kontrast stände zu der Traurigkeit und Verdächtigkeit des Lebens. Ob ich es nicht auch kennte, das Grauen vor der geistigen Leere und Nichtigkeit, die bei einer durchschnittlichen >Einladung< herrschten, in grellem Gegensatz zu der damit verbundenen fieberhaften Erregung infolge des Weins, der Musik und des Unterstroms von Beziehungen zwischen den Menschen. Manchmal könne man mit Augen sehen, wie einer sich mit jemandem unter mechanischer Wahrung der gesellschaftlichen Formen unterhalte und dabei mit seinen Gedanken völlig abwesend sei, nämlich bei einer anderen Person, die er beobachte...

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Und dabei der Verfall des Schauplatzes, das fortschreitende Derangement, das aufgelöste und unsaubere Bild eines Salons gegen Ende der >Einladung<. Sie gestehe, daß sie manchmal in ihrem Bett eine Stunde lang weine nach einer Gesellschaft...
So sprach sie noch weiter, äußerte mehr allgemeinen Kummer und Kritizismus und schien Rudolf vergessen zu haben. Als sie aber auf ihn zurückkam, hatte man wenig Zweifel, daß er ihr auch zwischendurch nicht aus dem Sinn gekommen war. Wenn sie von seinem gesellschaftlichen Stutzertum spreche, sagte sie, so meine sie etwas sehr Harmloses, worüber man lachen könne, das aber gelegentlich doch auch wieder melancholisch stimme. So komme er in Gesellschaft immer als letzter, aus dem Bedürfnis, auf sich warten zu lassen, immer di.e anderen auf sich. Dann trage er der Konkurrenz, der gesellschaftlichen Eifersucht Rechnung, indem er erzähle, daß er gestern da und da gewesen sei, bei Langewiesches, oder wie seine Freunde hießen; bei Rollwagens, wo die beiden rassigen Töchter seien. (»Wenn ich das Wort >rassig< höre, wird mir schon angst und bange.«) Aber entschuldigend, beschwichtigend erwähne er das, in dem Sinne etwa: »Einmal mußte ich mich auch dort wieder sehen lassen«, — wobei man sicher sein könne, daß er bei jenen spreche wie hier, da er jedermann in die Illusion zu wiegen wünsche, er sei am liebsten mit ihm, — gerade als ob jeder das größte Gewicht darauf legen müßte. Aber seine Überzeugung, daß er jedem eine Herzensfreude damit bereite, habe etwas Ansteckendes. Er komme um fünf Uhr zum Tee und sage, daß er versprochen habe, zwischen halb sechs und sechs Uhr irgendwo anders zu sein, bei Langewiesches oder Rollwagens, was gar nicht wahr sei. Danach bleibe er bis halb sieben, zum Zeichen, daß er hier lieber sei, gefesselt sei, daß die anderen warten könnten — und sei so sicher dabei, daß einen das freuen müsse, daß man sich womöglich wirklich darüber freue.
Wir lachten, aber ich tat es mit Zurückhaltung, da ich Gram zwischen ihren Brauen sah. Dabei sprach sie, als hielte sie es für nötig — oder hielt sie es wirklich für nötig? —, mich vor

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Schwerdtfegers Liebenswürdigkeiten, das heißt davor zu warnen, ihnen allzuviel Gewicht beizulegen. Es habe nichts damit auf sich. Zufällig habe sie wohl einmal aus einiger Entfernung Wort für Wort mit angehört, wie er jemanden, von dem sie mit Sicherheit wisse, daß er ihm vollständig gleichgültig sei, aufgefordert habe, noch bei der Gesellschaft zu bleiben, — mit netten, zutraulichen Dialekt-Redensarten wie: »Gehn S', san S' fesch, bleiben S' da!« —, wodurch ihr solches Zureden von seiner Seite, wie es ihr auch wohl vorgekommen sei, und wie es mir vorkommen möge, auf immer entwertet worden sei.
Kurz, sie bekannte sich zu einem schmerzlichen Mißtrauen in seinen Ernst, seine Sympathiebezeugungen und Aufmerksamkeiten: wenn man etwa krank sei und er komme, nach einem zu sehen. Das geschehe alles, wie ich selbst noch erfahren würde, nur »in netter Weise« und weil er es für passend, für gesellschaftlich angezeigt halte, nicht aus tieferem Antrieb; man dürfe sich nur ja nichts daraus machen. Wirklicher Geschmacklosigkeiten müsse man sich auch von ihm versehen, zum Beispiel des greulichen Ausrufs: »Es sind schon so viele unglücklich!« Das habe sie mit eigenen Ohren von ihm gehört. Jemand habe ihn im Scherz gewarnt, ein Mädchen, oder vielleicht habe es sich auch um eine verheiratete Frau gehandelt, nicht unglücklich zu machen, und darauf habe er tatsächlich im Übermut geantwortet: »Ach, es sind schon so viele unglücklich!« Man habe da nur bei sich denken können: »Bewahre der Himmel einen jeden! Welche lächerliche Schmach, zu denen zu gehören!«
Übrigens wolle sie nicht zu hart sein, — was sie mit dem Worte >Schmach< vielleicht gewesen sei. Ich möge sie nicht mißverstehen: an einem gewissen edleren Fond von Rudolfs Wesen sei nicht zu zweifeln. Zuweilen könne man ihn in Gesellschaft mit einer gedämpften Antwort, einem einzigen stillen und fremden Blick der lauten, gewöhnlichen Stimmung entreißen, ihn gewissermaßen dem ernsteren Geiste gewinnen. Oh, dem scheine er so manches Mal wirklich gewonnen, außer-

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ordentlich beeinflußbar, wie er ja sei. Langewiesches und Rollwagens, und wie sie hießen, seien dann nur noch Schatten und Schemen für ihn. Aber freilich, es genüge, daß er andere Luft geatmet habe, anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, damit vollständige Entfremdung, hoffnungslose Fernheit an die Stelle des Vertrauens, des Einander-Verstehens träten. Das fühle er dann, denn er sei ja feinfühlig und suche reuig, es gutzumachen. Es sei komisch-rührend, aber um sich wieder in Beziehung zu bringen, wiederhole er dann wohl irgendein mehr oder weniger gutes Wort, das man selbst einmal gesprochen, oder das Wort eines Buches, das man gelegentlich angeführt, — zum Zeichen, daß er es nicht vergessen habe und im Höheren zu Hause sei. Im Grunde sei es zum Tränen-Vergießen. Und schließlich sein Abschiednehmen für diesen Abend, — dabei zeigte sich auch wohl seine Bereitschaft zur Reue und Korrektur. Er komme und verabschiede sich mit Dialekt-Jökeleien, die einem die Miene verzögen, und auf die die Müdigkeit vielleicht etwas leidend reagiere. Nachdem er dann aber rundum den andern die Hand gegeben, kehre er noch einmal zurück und sage einfach und herzlich Adieu, worauf natürlich ein besser Erwidern sei. So habe er einen guten Abschluß, denn den müsse er haben. Auf den zwei Gesellschaften, die er danach noch besuche, mache er's wahrscheinlich wieder so ...
Ist es genug? Dies ist kein Roman, bei dessen Komposition der Autor die Herzen seiner Personnagen dem Leser indirekt, durch szenische Darstellung erschließt. Als biographischer Erzähler steht es mir durchaus zu, die Dinge unmittelbar bei Namen zu nennen und einfach seelische Tatsachen zu konstatieren, welche auf die von mir darzustellende Lebenshandlung von Einfluß gewesen sind. Aber nach den eigentümlichen Äußerungen, die mein Gedächtnis mir soeben in die Feder diktiert, Äußerungen von einer, ich möchte sagen: spezifischen Intensität, kann über das mitzuteilende Faktum wohl kein Zweifel sein. Ines Rodde liebte den jungen Schwerdtfeger, und dabei fragte sich nur zweierlei: erstens, ob sie es wußte, und zweitens, wann, zu welchem Zeitpunkt, ihr ursprünglich

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geschwisterlich-kameradschaftliches Verhältnis zu dem Geiger diesen heißen und leidenden Charakter angenommen hatte.
Die erste Frage beantwortete ich mit ja. Ein so belesenes, man kann wohl sagen: psychologisch geschultes und ihr Erleben dichterisch überwachendes Mädchen wie sie hatte selbstverständlich Einsicht in die Entwicklung ihrer Gefühle, — so überraschend, ja unglaubwürdig ihr diese Entwicklung vielleicht anfangs erschienen war. Die scheinbare Naivität, mit der sie ihr Herz vor mir bloßstellte, bewies nichts gegen ihr Wissen; denn teils war, was aussah wie Einfalt, ein Ausdruck zwanghaften Mitteilungsdranges, teils war es eine Sache des Vertrauens zu mir, eines eigentümlich verkleideten Vertrauens: denn sie fingierte gewissermaßen, daß sie mich für simpel genug halte, nichts zu merken, was ja auch eine Art von Vertrauen gewesen wäre, wünschte und wußte aber eigentlich, daß mir die Wahrheit nicht entging, weil sie, zu meiner Ehre, ihr Geheimnis bei mir für gut aufgehoben erachtete. Das war es unbedingt. Meines humanen und diskreten Mitgefühls durfte sie sicher sein, so schwer es von Natur wegen einem Manne fällt, sich in Seele und Sinn einer Frau zu versetzen, die für ein Individuum seines Geschlechtes entbrannt ist. Selbstverständlich ist es für uns viel leichter, den Gefühlen eines Mannes für ein weibliches Wesen zu folgen — und sage dieses einem selbst auch gar nichts —, als sich in die Ergriffenheit des anderen Geschlechts durch eine Person des eigenen zu versetzen. Man >versteht< das im Grunde nicht, man nimmt es nur gebildeterweise, in objektiver Achtung vor dem Naturgesetz hin — und zwar pflegt da das Verhalten des Mannes wohlwollend-duldsamer zu sein als das der Frau, welche meistens die Geschlechtsgenossin, von der sie erfährt, daß sie ein Männerherz in Flammen gesetzt, recht grünen Blicks zu- betrachten pflegt, auch wenn dieses Herz ihr selber ganz gleichgültig ist.
An freundschaftlichem guten Willen zum Verständnis fehlte es mir also nicht, mochte mir das Verstehen im Sinne der Einfühlung auch durch die Natur verbaut sein. Mein Gott, der kleine Schwerdtf eger! Seine Gesichtsbildung hatte doch schließlich

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etwas Möpsliches, seine Stimme war gaumig, und mehr vom Jungen hatte er als vom Mann, — das schöne Blau seiner Augen, seinen richtigen Wuchs und sein einnehmendes Geigen und Pfeifen, nebst seiner allgemeinen Nettigkeit, bereitwillig zugegeben. Also denn, Ines Rodde liebte ihn, nicht blind, aber in desto tieferem Leide; und innerlich verhielt ich mich dazu wie ihre spöttische, gegen das andere Geschlecht durchaus hochnäsige Schwester Clarissa: Auch ich hätte »Hopp!« zu ihm sagen mögen, »Hopp, Mensch, was denken Sie sich? Springen Sie gefälligst!«
Nur war das mit dem Springen, auch wenn Rudolf die Verpflichtung dazu anerkannt hätte, nicht so einfach. Denn da war ja Helmut Institoris, der Bräutigam oder Bräutigam in spe, Institoris, der Bewerber, — und damit komme ich auf die Frage zurück, seit wann denn Inessens schwesterliche Beziehung zu Rudolf sich ins Leidenschaftliche gewandelt hatte. Mein menschliches Ahnungsvermögen sagte es mir: Es war damals geschehen, als Dr. Helmut sich ihr, der Mann dem Weibe, genähert und um sie zu werben begonnen hatte. Ich war überzeugt und bin es geblieben, daß Ines sich nie in Schwerdtfeger verliebt hätte ohne den Eintritt Institoris', des Freiers, in ihr Leben. Der warb um sie, aber er tat es gewissermaßen für einen anderen. Denn der mäßige Mann konnte zwar durch sein Werben und die damit verbundenen Gedankenreihen das Weib in ihr erwecken, — so weit reichte es. Aber nicht für sich konnte er es erwecken, obgleich sie ihm aus Vernunftgründen zu folgen bereit war, so weit reichte es nicht bei ihm. Sondern ihre erweckte Weiblichkeit wandte sich sofort einem anderen zu, für den ihr Bewußtsein solange nur gelassen-halbgeschwisterliche Gefühle gekannt hatte, und für den nun ganz andere in ihr frei wurden. Keine Rede davon, daß sie ihn für den Rechten, den Würdigen gehalten hätte. Sondern ihre Melancholie, die das Unglück suchte, fixierte sich auf ihn, den sie mit Widerwillen hatte sagen hören: »Es sind schon so viele unglücklich!«
Und sonderbar übrigens! Sie nahm von der Bewunderung des ungenügenden Bräutigams für das geistlos triebhafte

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>Leben<, die ihrer Gesinnung doch so entgegen war, etwas in ihre Verfallenheit an den anderen hinein, hinterging ihn gewissermaßen mit seiner eigenen Geistesrichtung. Denn stellte nicht Rudolf etwas dar wie das liebe Leben in den Augen ihrer wissenden Schwermut?
Gegen Institoris, einen bloßen Dozenten des Schönen, hatte er den Vorteil der Kunst selbst, dieser Nährerin der Leidenschaft undVerklärerin des Menschlichen, auf seiner Seite. Denn die Person des Geliebten wird natürlich dadurch erhöht, und die Gefühle für ihn ziehen begreiflicherweise immer wieder neue Nahrung daraus, wenn mit dem Eindruck seiner Person fast stets berauschende Kunsteindrücke verbunden sind. Ines verachtete im Grunde den Schönheitsbetrieb der sinnenfrohen Stadt, in welche die mütterliche Neugier auf größere Sittenfreiheit sie verpflanzt hatte, aber sie nahm um ihres bürgerlichen Unterkommens willen an den Festen einer Gesellschaft teil, die ein einziger großer Kunstverein war, und gerade das war der Ruhe gefährlich, die sie suchte. Mein Gedächtnis bewahrt prägnante und ängstliche Bilder aus dieser Zeit. Ich sehe uns, die Roddes, die Knöterichs etwa dazu und mich selbst nach der besonders glänzenden Aufführung einer Tschaikowski-Symphonie im Z*apfenstößer-Saal in einer der vordersten Reihen unter der Menge stehen und applaudieren. Der Dirigent hatte das Orchester zum Aufstehen veranlaßt, damit es, zusammen mit ihm, den Dank des Publikums für seine schöne Arbeit entgegennehme. Schwerdtfeger, nicht weit links vom Konzertmeister (dessen Platz er binnen kurzem einnehmen sollte), stand, sein Instrument im Arm, erhitzt und strahlend gegen den Saal gewandt und grüßte nickend, in nicht ganz zulässiger Intimität, persönlich zu uns herüber, während Ines, auf die einen Blick zu werfen ich mir nicht versagen konnte, mit schräg vorgeschobenem Kopf, den Mund in schwieriger Schalkheit gespitzt, ihre Augen hartnäckig auf einen anderen Punkt dort oben, auf den Kapellmeister, nein, irgendwohin weiter weg, auf die Harfen, gerichtet hielt. Oder: Ich sehe Rudolf selbst, enthusiasmiert von der Standard-Leistung eines gastierenden

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Kunstgenossen, im Vordergrund eines schon fast entleerten Saales stehen und eifrig zum Podium emporklatschen, wo jener Virtuos sich zum zehnten Mal verneigt. Zwei Schritte von ihm entfernt, zwischen den durcheinandergerückten Stühlen, steht Ines, die an diesem Abend sowenig wie wir anderen mit ihm in Berührung gekommen, sieht ihn an und wartet darauf, daß er's genug sein lasse, sich wende, sie bemerke und sie begrüße. Er läßt nicht ab und bemerkt sie nicht. Vielmehr, aus dem Augenwinkel sieht er dennoch nach ihr, oder, wenn das zuviel gesagt ist: seine blauen Augen haben keinen ganz ungestörten Blick auf den Helden dort oben, sie werden, ohne daß sie wirklich in den Winkel gingen, leicht nach der Seite abgezogen, wo sie steht und wartet, aber ohne daß er sein begeistertes Tun unterbräche. Noch ein paar Sekunden, und sie wendet sich, bleich, Zornesfalten zwischen den Brauen, auf dem Fleck und eilt davon. Sogleich gibt er es auf, den Star noch einmal hervorzuklatschen, und folgt ihr. An der Tür holt er sie ein. Sie setzt eine Miene auf, die kalte Überraschung bekundet, darüber, daß er hier, daß er überhaupt auf der Welt ist, verweigert ihm Hand, Blick und Wort und eilt weiter.
Ich sehe ein, daß ich diese Quisquilien und Krümel-Abfälle meiner Beobachtung hier gar nicht hätte aufnehmen dürfen. Sie sind nicht buchgerecht, sie mögen in den Augen des Lesers etwas Läppisches haben, und er mag sie mir als lästige Zumutungen verargen. Er rechne es mir wenigstens an, daß ich hundert andere, ähnliche unterdrücke, die sich ebenfalls in meiner Wahrnehmung, derjenigen eines mitleidigen Menschenfreundes, gleichsam verfingen und dank dem Unglück, zu dem sie akkumulierten, schon gar nicht aus meiner Erinnerung zu lösen sind. Ich habe das Heranwachsen einer Katastrophe, die freilich im allgemeinen Weltgeschehen eine sehr unbeachtliche Rolle spielte, durch Jahre verfolgt und über mein Sehen und Sorgen nach allen Seiten hin reinen Mund gehalten. Einzig zu Adrian sprach ich gleich damals zu Anfang einmal in Pfeiffering davon — obgleich ich im ganzen wenig Neigung hatte, sogar stets eine gewisse Scheu trug, mit ihm, der in mönchischem

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Detachement von Liebesdingen lebte, über gesellschaftliche Vorkommnisse dieser Art zu sprechen. Ich tat es dennoch, erzählte ihm unterderhand, daß Ines Rodde, obgleich im Begriff, sich mit Institoris zu verloben, nach meiner Beobachtung heillos und sterblich in Rudi Schwerdtfeger verliebt sei.
Wir saßen in der Abtsstube und spielten Schach.
»Das sind Neuigkeiten!« sagte er. »Du willst wohl, daß ich meinen Zug verfehle und den Turm da verliere?«
Er lächelte, schüttelte den Kopf und setzte hinzu:
»Armes Gemüt!«
Dann, beim ferneren Überlegen des Zuges, mit einer Pause zwischen den Sätzen:
»Übrigens ist das kein Spaß für ihn. — Er soll zusehen, daß er heil aus der Sache davonkommt.«



XXX

Die ersten glühenden August-Tage 1914 fanden mich, überfüllte Züge wechselnd, in wimmelnden Bahnhofshallen wartend, deren Perrons mit Reihen liegengebliebener Bagage bedeckt waren, auf überstürzter Reise von Freising nach dem thüringischen Naumburg, wo ich als Vize-Wachtmeister der Reserve mich sogleich mit meinem Regiment zu vereinigen hatte.
Der Krieg war ausgebrochen. Das Verhängnis, das so lange über Europa gebrütet hatte, war los und raste, verkleidet als diszipliniertes >Klappen< alles Vorgesehenen und Eingeübten, durch unsere Städte, tobte als Schrecken, Emporgerissensein, Pathos der Not, Schicksalsergriffenheit, Kraftgefühl und Opferbereitschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen. Es mag wohl sein, ich glaube es gern, daß anderwärts, in feindlichen und sogar in verbündeten Ländern, dieser Kurzschluß des Schicksals vielmehr als Katastrophe und >grand malheur< empfunden wurde, wie wir es im Felde so oft aus dem Munde französischer Frauen hörten, die freilich den Krieg im Lande, in ihren Stuben und Küchen hatten: »Ah, monsieur, la guerre,

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quel grand malheur!« In unserem Deutschland, das ist gar nicht zu leugnen, wirkte er ganz vorwiegend als Erhebung, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, Abwerfen des Alltags, Befreiung aus einer Welt-Stagnation, mit der es so nicht weiter hatte gehen können, als Zukunftsbegeisterung, Appell an Pflicht und Mannheit, kurz, als heroische Festivität. Meine Freisinger Primaner hatten rote Köpfe und strahlende Augen von alldem. Jugendliche Einsatz- und Abenteuerlust vereinigte sich da humoristisch mit den Vorteilen eines rasch lossprechenden Not-Abiturs. Sie stürmten die Werbe-Bureaus, und ich war froh, nicht den Ofenhocker vor ihnen spielen zu müssen.
Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen, die ich soeben zu kennzeichnen suchte, wenn auch das Rauschhafte daran meiner Natur fernlag und mich leise unheimlich berührte. Mein Gewissen — dies Wort hier in einem überpersönlichen Sinn gebraucht — war nicht ganz rein. Eine solche >Mobilisierung< zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassend-pflichthaft sie sich geben möge, hat immer etwas vom Anbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen, von einem Hinter-die-Schule-Laufen, einem Durchgehen zügelunwilliger Triebe, — sie hat zuviel von alldem, als daß einem gesetzten Menschen, wie mir, ganz wohl dabei sein könnte; und moralische Zweifel, ob die Nation es bisher so gut gemacht, daß dieses blinde Hingerissensein von sich selbst ihr eigentlich erlaubt sei, verbinden sich mit solchen persönlichen Temperamentswiderständen. Hier tritt aber das Moment der Opfer-, der Todesbereitschaft ein, das über vieles hinweghilft und sozusagen ein letztes Wort ist, gegen welches sich nichts mehr sagen läßt. Wird der Krieg, mit mehr oder weniger Klarheit, als eine allgemeine Heimsuchung empfunden, in welcher der einzelne, so auch das einzelne Volk, seinen Mann zu stehen und mit seinem Blute Sühne zu leisten bereit ist für die Schwächen und Sünden der Epoche, in die die eigenen eingeschlossen sind; stellt er sich dem Gefühl als ein Opfergang dar, durch den der alte Adam abgestreift und in Einigkeit ein neues,

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höheres Leben errungen werden soll, so ist die alltägliche Moral überboten und verstummt vor dem Außerordentlichen. Auch will ich nicht vergessen, daß wir damals vergleichsweise reinen Herzens zum Kriege aufbrachen und nicht meinten, es vorher zu Hause so getrieben zu haben, daß eine blutige Welt-Katastrophe als die logisch-unvermeidliche Konsequenz unserer inneren Aufführung hätte betrachtet werden müssen. So war es, Gott sei's geklagt, vor fünf Jahren, aber nicht vor dreißig. Recht und Gesetz, das Habeas corpus, Freiheit und Menschenwürde hatten im Lande in leidlichen Ehren gestanden. Zwar waren die Fuchteleien jenes im Grunde völlig unsoldatischen und für nichts weniger als für den Krieg geschaffenen Tänzers und Komödianten auf dem Kaiserthron dem Gebildeten peinlich — und seine Stellung zur Kultur die eines zurückgebliebenen Dummkopfes gewesen. Aber sein Einfluß auf diese hatte sich in leeren Maßregelungsgesten erschöpft. Die Kultur war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezugslosigkeit zur Staatsmacht gewöhnt, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem großen Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur eines sein würden. Hier waltete nun freilich, wie immer bei uns, eine eigentümliche Selbstbefangenheit, ein völlig naiver Egoismus, dem es nicht darauf ankommt, ja, der es für ganz selbstverständlich ansieht, daß für die deutschen WerdeProzesse (und wir werden ja immer) eine ganze, schon fertigere und keineswegs auf Katastrophendynamik versessene Welt mit uns ihr Blut zu vergießen hat. Man nimmt uns das übel, und nicht ganz mit Unrecht; denn moralisch betrachtet sollte das Mittel eines Volkes, zu einer höheren Form seines Gemeinschaftslebens durchzubrechen — wenn es denn blutig dabei zugehen soll —, nicht der Krieg nach außen, sondern der Bürgerkrieg sein. Dieser jedoch widerstrebt uns außerordentlich, während wir uns nichts daraus machten, es im Gegenteil prächtig fanden, daß unsere nationale Einigung — noch dazu eine partielle, eine Kompromiß-Einigung — drei schwere Kriege

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gekostet hatte. Eine Großmacht waren wir nun allzu lange schon; der Zustand war gewohnt und beglückte nicht nach Erwartung. Das Gefühl, daß er uns nicht gewinnender gemacht, daß er unser Verhältnis zur Welt eher verschlechtert als verbessert hatte, saß, eingestanden oder nicht, tief in den Gemütern. Fällig erschien ein neuer Durchbruch: derjenige zur dominierenden Weltmacht, — der freilich auf dem Wege moralischer Heimarbeit nicht zu bewirken war. Krieg also, und wenn es sein mußte, gegen alle, um alle zu überzeugen und zu gewinnen, das war's, was das >Schicksal< (wie >deutsch< dies Wort, ein vor-christlicher Urlaut, ein tragisch-mythologisch-musikdramatisches Motiv!) beschlossen hatte, und wozu wir begeistert (ganz allein begeistert) aufbrachen — erfüllt von der Gewißheit, daß Deutschlands säkulare Stunde geschlagen habe; daß die Geschichte ihre Hand über uns halte; daß nach Spanien, Frankreich, England wir an der Reihe seien, der Welt unseren Stempel aufzudrücken und sie zu führen; daß das zwanzigste Jahrhundert uns gehöre und nach Ablauf der vor einigen hundertzwanzig Jahren inaugurierten bürgerlichen Epoche die Welt im Zeichen des Deutschen, im Zeichen eines nicht ganz zu Ende definierten militaristischen Sozialismus also, sich zu erneuern habe.
Diese Vorstellung, um nicht zu sagen: Idee, beherrschte die Köpfe in einträchtigem Beieinander mit der, daß wir zum Kriege gezwungen seien, daß die heilige Not uns zu den allerdings wohl vorbereiteten und eingeübten Waffen rief, von deren Vortrefflichkeit immer die geheime Versuchung ausgegangen sein mochte, davon Gebrauch zu machen, —zusammen also mit der Furcht, von allen Seiten überflutet zu werden, wovor uns nur unsere ungeheure Kraft, das heißt: die Fähigkeit schützte, den Krieg sofort in anderer Leute Land zu tragen. Angriff und Verteidigung waren dasselbe in unserem Fall: sie bildeten zusammen das Pathos der Heimsuchung, der Berufung, der großen Stunde, der heiligen Not. Mochten die Völkerschaften dort draußen uns für Rechts- und Friedensstörer, für unerträgliche Lebensfeinde halten, — wir hatten die Mittel, die Welt auf den

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Kopf zu schlagen, bis sie anderer Meinung über uns wurde und uns nicht nur bewunderte, sondern auch liebte.
Glaube doch niemand, daß ich mich lustig mache! Es ist kein Anlaß dazu, vor allem nicht, weil ich in keiner Weise prätendieren kann, mich von der allgemeinen Ergriffenheit ausgeschlossen zu haben. Ich teilte sie redlich, mochte auch die natürliche Gesetztheit des Gelehrten mich von jeder Hurra-Lautheit abhalten, ja, mochten sogar leise kritische Bedenken sich unterschwellig rühren und ein leichtes Unbehagen darüber, zu denken und zu fühlen, was alle dachten und fühlten, mich augenblicksweise anwandeln. Es hat unsereiner ja seine Zweifel, ob jedermanns Gedanken die richtigen sind. Und doch ist es für das höhere Individuum auch wieder ein großer Genuß, einmal — und wo hätte dies Einmal zu finden sein sollen, wenn nicht hier und jetzt — mit Haut und Haar im Allgemeinen unterzugehen.
Zwei Tage hielt ich mich in München auf, um mich da und dort zu verabschieden und Einzelheiten an meiner Equipierung zu ergänzen. Die Stadt gor in ernstem Fest, auch in Anfällen von Panik und Angstwut, wenn etwa das wilde Gerücht aufsprang, die Wasserleitung sei vergiftet, oder wenn man einen serbischen Spion in der Menge glaubte entdeckt zu haben. Um nicht für einen solchen gehalten und irrtümlich erschlagen zu werden, hatte Dr. Breisacher, den ich auf der Ludwigstraße traf, seine Brust mit zahlreichen schwarz-weiß-roten Kokarden und Fähnchen besteckt. Der Kriegszustand, der Übergang der höchsten Gewalt vom Zivil auf das Militär, auf einen Proklamationen erlassenden General, wurde mit vertraulichem Gruseln empfunden. Es war beruhigend, zu wissen, daß die Mitglieder des Königshauses, die als Feldherren in ihre Hauptquartiere reisten, tüchtige Stabschefs zur Seite haben würden und keinen erlauchten Schaden anrichten konnten. Heitere Popularität begleitete sie also. Ich sah Regimenter, Blumensträußchen an den Gewehrläufen, aus den Kasernentoren marschieren, begleitet von Frauen, die Schnupftücher unter die Nase hielten, unter den Zurufen eines rasch zusammengelaufenen

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Zivil-Publikums, dem die zu Helden beförderten Bauernburschen dumm-stolz und verschämt zulächelten. Einen blutjungen Offizier sah ich in feldmarschmäßiger Ausrüstung auf der rückwärtigen Plattform eines Trambahnwagens stehen, das Gesicht nach hinten gewandt, und, offenbar mit dem Gedanken an sein junges Leben beschäftigt, vor sich hin und in sich hineinstarren, — worauf er sich kurz zusammennahm und mit eiligem Lächeln um sich blickte, ob jemand ihn beobachtet habe.
Wiederum war ich froh, mich in der gleichen Lage zu wissen wie er und nicht im Rücken derer sitzenzubleiben, die das Land deckten. Im Grunde war ich, wenigstens vorderhand, der einzige aus unserem Bekanntenkreise, der hinausging: waren wir ja stark und volkreich genug, um es uns leisten zu können, wählerisch zu sein, auf kulturelle Interessen Rücksicht zu nehmen, viel Unabkömmlichkeit zuzugestehen und nur das vollkommen Taugliche an Jugend und Männlichkeit nach vorn zu werfen. Fast bei allen den Unseren stellte sich irgendein gesundheitlicher Schaden heraus, von dem man kaum etwas gewußt hatte, der aber nun ihren Dispens bewirkte. Der Sugambier Knöterich war leicht tuberkulös. Kunstmaler Zink litt an keuchhustenartigen Asthma-Anfällen, zu deren Erledigung er sich von der Gesellschaft zurückzuziehen pflegte, und sein Freund Baptist Spengler kränkelte, wie bekannt, abwechselnd an allen Orten. Fabrikant Bullinger, noch jung an Jahren, schien als Industrieller zu Hause unentbehrlich; und ein zu wichtiges Element im künstlerischen Leben der Hauptstadt bildete das Zapfenstößer-Orchester, als daß nicht seine Mitglieder, also auch Rudi Schwerdtfeger, vom Kriegsdienst sollten ausgenommen gewesen sein. Übrigens wurde bei dieser Gelegenheit mit flüchtigem Erstaunen zur Kenntnis genommen, daß Rudi in früheren Tagen sich einer Operation hatte unterziehen müssen, die ihn eine seiner Nieren gekostet hatte. Er lebte, wie man plötzlich hörte, mit nur einer — ganz auskömmlich, wie es schien, und die Frauen hatten es bald vergessen.
Ich könnte so fortfahren und manchen Fall von Unlust, Protektion, rücksichtsvoller Aussparung nennen, die in den Kreisen

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vorkamen, welche bei Schlaginhaufens und bei den Scheurlschen Damen am Botanischen Garten verkehrten, — Kreisen, in denen es nicht an grundsätzlicher Abneigung gegen diesen Krieg, wie schon gegen den vorigen, fehlte: an RheinbundErinnerungen, Franzosenfreundlichkeit, katholischer Aversion gegen Preußen und dergleichen Stimmungen. Jeannette Scheurl war tief unglücklich und den Tränen nahe. Das brutale Auflodern des Antagonismus zwischen den beiden Nationen, denen sie angehörte, Frankreich und Deutschland, die einander nach ihrer Meinung ergänzen sollten, statt zu raufen, machte sie ganz verzweifelt. »J'enai assez jusqu'ä la fin de mes jours!« stieß sie zornig schluchzend hervor. Trotz meiner abweichenden Gefühle versagte ich ihr nicht eine gebildete Teilnahme.
Um Adrian Lebewohl zu sagen, dessen persönliche Unberührtheit von dem Ganzen mir die selbstverständlichste Sache von der Welt war, fuhr ich nach Pfeiffering hinaus, wo der Haussohn, Gereon, sogleich mit mehreren Pferden nach seinem Gestellungsort hatte aufbrechen müssen. Ich fand dort Rüdiger Schildknapp vor, der, vorläufig noch frei, das Weekend bei unserem Freunde verbrachte. Er hatte bei der Marine gedient und wurde später noch eingezogen, aber nach einigen Monaten wieder entlassen. Und ging es mir denn viel anders? Ich sage gleich, daß ich nur ein knappes Jahr, bis zu den Argonnen-Kämpfen 1915, im Felde blieb und dann mit dem Kreuze heimtransportiert wurde, das ich mir nur durch das Ertragen von Unbequemlichkeiten und die Attrappierung einer Typhus-Infektion verdient hatte.
Soviel im voraus. Rüdigers Beurteilung des Krieges war durch sein bewunderungsvolles Verhältnis zu England bestimmt, wie diejenige Jeannettens durch ihr französisch Blut. Die britische Kriegserklärung war ihm entscheidend in die Glieder gefahren und stimmte ihn außerordentlich grämlich. Nie hätte man sie nach seiner Meinung durch den vertragswidrigen Einmarsch in Belgien herausfordern dürfen. Frankreich und Rußland — gut, man mochte es allenfalls mit ihnen aufnehmen. Aber England! Es war ein furchtbarer Leichtsinn. So sah er denn

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auch, einem verärgerten Realismus zugeneigt, im Kriege nichts als Dreck, Gestank, Amputationsgreuel, Sexual-Lizenzen und Verlausung und höhnte weidlich über den ideologischen Feuilletonismus, der den Unfug zur großen Zeit verklärte. Adrian wehrte ihm nicht, und ich, wiewohl teilnehmend an tieferer Rührung, räumte doch willig ein, daß in seinen Äußerungen ein Teil Wahrheit zu Worte kam.
Zu dritt aßen wir im großen Nike-Zimmer zu Abend, und durch Clementine Schweigestills Ab- und Zugehen, die uns freundlich bediente, ließ ich mich bestimmen, Adrian nach dem Ergehen seiner Schwester Ursula in Langensalza zu fragen. Ihre Ehe war die glücklichste, und gesundheitlich hatte sie sich recht wohl von einer Lungenschwäche, einem leichten Spitzenkatarrh erholt, den sie sich durch drei rasch aufeinanderfolgende Kindbetten, 1911, 1912 und 1913, zugezogen hatte. Es waren die Schneidewein'sehen Sprossen Rosa, Ezechiel und Raimund, die damals das Licht der Welt erblickt hatten. Bis zum Erscheinen des zauberhaften Nepomuk waren, als wir an jenem Abend beisammen saßen, noch neun Jahre. Viel war während der Mahlzeit und nachher in der Abtsstube von den politischen und moralischen Dingen die Rede, von dem mythischen Hervortreten der National-Charaktere, das sich in solchen geschichtlichen Augenblicken ereigne, und von dem ich mit einer gewissen Ergriffenheit sprach, um der drastisch-empirischen Anschauungsweise des Krieges, die Schildknapp für die einzig gebotene hielt, ein wenig die Waage zu halten; von der Charakterrolle Deutschlands also, der Versündigung an Belgien, die so sehr an Friedrichs des Großen Gewalttat gegen das formell neutrale Sachsen erinnerte, von dem gellenden Geschrei der Welt darüber, der Rede unseres philosophischen Reichskanzlers mit ihrem sinnenden Schuldbekenntnis, ihrem volkstümlich-unübersetzbaren »Not kennt kein Gebot«, ihrer vor Gott vertretenen Geringschätzung eines alten Rechtspapiers angesichts gegenwärtigen Lebensdranges. Es lag an Rüdiger, daß wir darüber ins Lachen kamen; denn er nahm meine einigermaßen gerührte Darstellung wohl an,

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zog aber all diese gemütvolle Brutalität, würdige Zerknirschung und biedere Bereitschaft zur Untat durch die Parodie des langen Denkers, der einen längst festgelegten strategischen Plan mit moralischer Poesie umkleidete, ins unwiderstehlich Komische, — noch mehr ins Komische als das fassungslose Tugend-Gebrüll einer Welt, der dieser trockene Feldzugsplan doch längst bekannt gewesen war; und da ich sah, daß dies unserem Gastgeber am liebsten war, daß er dankbar war, lachen zu können, so stimmte ich gern in die Heiterkeit ein, nicht ohne anzumerken, daß Tragödie und Komödie auf demselben Holze wüchsen und ein Beleuchtungswechsel genüge, aus dem einen das andre zu machen.
Überhaupt ließ ich mir Sinn und Gefühl für Deutschlands Notdrang, seine moralische Vereinsamung und öffentliche Ächtung, die, so schien mir, nur Ausdruck der allgemeinen Angst vor seiner Kraft und seinem Vorsprung in der Kriegsbereitschaft war (wobei ich zugab, daß diese, die Kraft und der Vorsprung, nun wieder uns zum derben Trost in unserer Verfemtheit gereichten) — überhaupt, sage ich, ließ ich mir meine patriotische Ergriffenheit, die so viel schwieriger zu vertreten war als die der andern, nicht verkümmern durch die Humorisierung des Charakteristischen und verlieh ihr, im Zimmer auf und ab gehend, Worte, während Schildknapp im tiefen Stuhl seine Shag-Pfeife rauchte und Adrian, wie es sich traf, vor seinem altdeutschen Arbeitstisch mit der vertieften Mittelplatte und dem aufgesetzten Schreib- und Lesepult stand. Denn merkwürdigerweise schrieb er ja auch, etwa wie der Holbein'sche Erasmus es tut, auf schräger Fläche. Auf dem Tische lagen ein paar Bücher: ein Bändchen Kleist, worin das Lesezeichen bei dem Aufsatz über die Marionetten eingelegt war/ferner die unvermeidlichen Sonette Shakespeare's und noch ein Band mit Stücken dieses Dichters, — >Was ihr wollt< war darin, >Viel Lärm um nichts< und, wenn ich nicht irre, auch >Die beiden Veroneser<. Auf dem Pult aber lag seine gegenwärtige Arbeit — lose Blätter waren es, Entwürfe, Anfänge, Notierungen, Skizzen in unterschiedlichem Fortgeschrittenheitszustande: oft

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war nur die oberste Zeile der Geigenstimme oder der Holzbläser ausgefüllt und ganz unten der Gang der Bässe, dazwischen aber noch weiße Leere; anderwärts waren der harmonische Zusammenhang und die instrumentale Gruppierung durch die Notierung auch der übrigen Orchesterstimmen schon deutlich gemacht, und, die Zigarette zwischen den Lippen, war er davorgetreten, um hineinzusehen, genau wie ein Schachspieler den Stand einer Partie auf dem quadrierten Felde mustert, an welchen ja die Musik-Komposition so sehr erinnert. Unser Zusammensein war so unbekümmert, daß er, als wäre er allein, sogar einen Stift nahm, um irgendwo eine Klarinetten- oder Hornfigur nach Gutdünken einzutragen.
Wir wußten nicht viel Genaues über das, was ihn beschäftigte, jetzt, wo jene kosmische Musik bei Schotts Söhnen in Mainz unter denselben Bedingungen wie vordem die Brentano-Gesänge im Druck erschienen war. Es handelte sich um eine Suite dramatischer Grotesken, deren Gegenstände er, so hörten wir, dem alten Geschichten- und Schnurrenbuch >GestaRomanorum< entnahm, und mit denen er Versuche anstellte, ohne noch recht zu wissen, ob etwas daraus werden und ob er daran festhalten werde. Jedenfalls war die Verkörperung nicht Menschen, sondern Gliederpuppen zugedacht. (Daher der Kleist!) — Was die >Wunder des Alls< betraf, so hatte dem feierlich-übermütigen Werk eine ausländische Aufführung bevorgestanden, die nun durch den Kriegsausbruch ins Wasser gefallen war. Wir hatten bei Tische davon gesprochen. Die Lübecker Darbietungen von >Verlorene Liebesmüh<, erfolglos wie sie gewesen, nebst dem bloßen In-der-Welt-Sein der Brentano-Lieder, hatten doch unter der Hand ihre Wirkung getan und begonnen, dem Namen Adrians in inneren Cirkeln der Kunst einen gewissen esoterischen Klang, wenn auch tentativen Charakters, zu verschaffen, — auch dies kaum schon in Deutschland und schon gar nicht in München, aber an anderer, sensiblerer Stelle. Er hatte vor einigen Wochen einen Brief des Herrn Monteux, Direktors des Russischen Balletts in Paris, ehemaligen Mitglieds des Orchesters Colonne, erhalten, worin

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dieser dem Experiment freundliche Dirigent die Absicht kundgetan hatte, die >Wunder des Alls< zusammen mit einigen Orchester-Stücken aus >Love's Labour's Lost< in rein konzertmäßiger Aufführung darzubieten. Er hatte das Theätre des Champs-Elysees für die Veranstaltung in Aussicht genommen und Adrian eingeladen, dazu nach Paris zu kommen, auch wohl seine Werke selbst einzustudieren und vorzuführen. Wir hatten unseren Freund nicht gefragt, ob er unter Umständen der Einladung gefolgt wäre. Jedenfalls hatten die Umstände sich nun so gestaltet, daß von der Sache nicht weiter die Rede war.
Noch sehe ich mich über den Teppich und die Dielen des getäfelten alten Zimmers mit seinem weitschweifigen Kronleuchter, dem beschlagenen Wandschränkchen, den flachen Lederkissen auf der Eckbank und der tiefen Fensternische herumwandeln und über Deutschland perorieren, — mehr für mich selbst und allenfalls für Schildknapp als für Adrian, von dem ich kein Achtgeben erwartete. Gewohnt zu lehren und zu reden, bin ich, einige Erwärmung meines Gemütes vorausgesetzt, kein schlechter Sprecher; ich höre mich sogar nicht ungern und habe eine gewisse Freude daran, wie das Wort sich mir zu Gebote hält. Nicht ohne lebhafte Gestikulation stellte ich es Rüdigern anheim, meine Worte dem Kriegsfeuilletonismus zuzurechnen, an dem er sich so ärgerte; aber ein wenig psychologische Anteilnahme an der — rührender Züge keineswegs entbehrenden — Charaktergestalt, als welche die historische Stunde das sonst multiforme deutsche Wesen habe erstehen lassen, müsse nach meiner Meinung als natürlich erlaubt sein, und in letzter Analyse sei es die Psychologie des Durchbruchs, um die es sich dabei handle.
»Bei einem Volk von der Art des unsrigen«, trug ich vor, »ist das Seelische immer das Primäre und eigentlich Motivierende; die politische Aktion ist zweiter Ordnung, Reflex, Ausdruck, Instrument. Was mit dem Durchbruch zur Weltmacht, zu dem das Schicksal uns beruft, im tiefsten gemeint ist, das ist der Durchbruch zur Welt — aus einer Einsamkeit, deren wir uns leidend bewußt sind, und die durch keine robuste Ver-

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flechtung ins Welt-Wirtschaftliche seit der Reichsgründung hat gesprengt werden können. Das Bittere ist, daß die empirische Erscheinung des Kriegszuges annimmt, was in Wahrheit Sehnsucht ist, Durst nach Vereinigung . . .«
»Gott segne Eure studia!« hörte ich hier Adrian mit halber Stimme und kurzem Auflachen sagen. Er hatte nicht von seinen Notenblättern dabei aufgeblickt.
Ich blieb stehen und sah ihn an, ohne daß er sich darum gekümmert hätte.
»Wozu«, erwiderte ich, »nach deiner Meinung denn wohl zu ergänzen ist: >Aus Euch wird nichts, halleluja?<
»Besser vielleicht: »Daraus wird nichts««, gab er zurück, »Ver- zeih, ich verfiel ins Studentische, weil deine oratio mich so seh, an unsere Schlafstroh-Dispute von anno dazumal erinnerte _ wie hießen die Burschen? Ich merke, daß mir die alten Namen anfangen abhanden zu kommen. « (Er war neunundzwanzig. wie er da saß.) — »Deutschmeyer? Dungersleben?«
»Du meinst den stämmigen Deutschlin«, sagte ich, »und einen, der Dungersheim hieß. Eın Hubmeyer und ein von Teutleben waren auch dabei. Namen haben sich dir nie sehr eingeprägt. Es waren gute, bemühte Jungen. «
»Und ob! Was denkst du, jemand hörte auf >Schappeler<, und dann war da ein gewisser Sozial-Arzt. Was sagst du nun? Du warst ja eigentlich keiner von ihnen, der Fakultät nach. Aber heut glaube ich sie zu hören, wenn ich dich höre. Schlafstroh — womit ich nur sagen will: einmal Student, immer Student. Das Akademische erhält jung und kregel.«
»Du warst von ihrer Fakultät«, sagte ich, »und im Grunde mehr Hospitant als ich. Selbstverständlich, Adri. Ich war nur ein Student, und du magst wohl recht damit haben, daß ich's geblieben bin. Desto besser aber, wenn das Akademische jung erhält, das heißt: die Treue konserviert zum Geiste, zum freien Gedanken, zur höheren Interpretation des kruden Geschehens ...«
»Ist hier von Treue die Rede?« fragte er. »Ich habe verstanden, daß Kaisersaschern Weltstadt werden möchte. Das ist nicht sehr treu.«

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»Geh, geh«, rief ich ihm zu, »du hast nichts dergleichen verstanden und verstehst sehr wohl, was ich meinte mit dem deutschen Durchbruch zur Welt.«
»Es hülfe wenig«, antwortete er, »wenn ich's verstände, denn vorderhand wenigstens wird das krude Geschehen unsere Ab- und Eingesperrtheit erst recht vollkommen machen, und wenn ihr Kriegsvolk noch so weit vorschwärmt ins Europäische. Du siehst ja: ich kann nicht nach Paris gehen. Ihr geht statt meiner. Auch gut! Unter uns gesagt: Ich wäre ohnedies nicht gegangen. Ihr helft mir aus einer Verlegenheit...«
»Der Krieg wird kurz sein«, sagte ich mit gepreßter Stimme, da seine Worte mich schmerzlich berührt hatten. »Er kann gar nicht lange dauern. Wir zahlen für den raschen Durchbruch mit einer Schuld, einer eingestandenen, die wir gutmachen zu wollen erklären. Wir müssen sie auf uns nehmen . . .«
»Und werdet sie mit Würde zu tragen wissen«, fiel er ein. »Deutschland hat breite Schultern. Und wer leugnet denn, daß so ein rechter Durchbruch das schon wert ist, was die zahme Welt ein Verbrechen nennt! Ich hoffe, du nimmst nicht an, daß ich gering denke von der Idee, mit der es dir im Schlafstroh zu operieren gefällt. Es gibt-im Grunde nur ein Problem in der Welt, und es hat diesen Namen: Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling? Die Gesamtsituation ist beherrscht von der Frage. Hier wird auch«, sagte er und zupfte an dem roten Einlegebändchen in den Schriften Kleists auf dem Tische, »vom Durchbruch gehandelt, nämlich in dem vortrefflichen Aufsatz über die Marionetten, und er wird darin geradezu >das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt< genannt. Dabei ist nur von Ästhetischem die Rede, von der Anmut, der freien Grazie, die eigentlich dem Gliedermann und dem Gotte, das heißt dem Unbewußtsein oder einem unendlichen Bewußtsein vorbehalten ist, während jede zwischen Null und Unendlichkeit liegende Reflexion die Grazie tötet. Das Bewußtsein müsse, meint dieser Schriftsteller, durch ein Unendliches gegangen sein, damit die Grazie sich wiedereinfinde, und Adam

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müsse ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.«
»Wie freue ich mich«, rief ich, »daß du das eben gelesen hast! Es ist herrlich gedacht, und du tust ganz recht, es in die Idee des Durchbruchs einzubeziehen. Sage aber nicht: >Nur vom Ästhetischen handelt es<, sage nicht: >NurGrazie< den allerweitesten Sinn hat. Ästhetische Erlöstheit oder Unerlöstheit, das ist das Schicksal, das entscheidet über Glück oder Unglück, über das gesellige Zuhausesein auf Erden oder heillose, wenn auch stolze Vereinsamung, und man muß nicht Philolog sein, um zu wissen, daß das Häßliche das Verhaßte ist. Durchbruchsbegierde aus der Gebundenheit und Versiegelung im Häßlichen, — sage mir immerhin, daß ich Schlafstroh dresche, aber ich fühle, habe immer gefühlt und will es gegen viel derben Augenschein vertreten, daß dies deutsch ist kat exochen, tief deutsch, die Definition des Deutschtums geradezu, eines Seelentums, bedroht von Versponnenheit, Einsamkeitsgift, provinzlerischer Eckensteherei, neurotischer Verstrickung, stillem Satanismus . . .«
Ich brach ab. Er sah mich an, und ich glaube, die Farbe war aus seinen Wangen gewichen. Der Blick, den er auf mich richtete, war der Blick, der bewußte, der mich unglücklich machte, beinahe gleichviel, ob ich es war oder ein anderer, dem er zustieß: stumm, verschleiert, kalt distanziert bis zum Kränkenden, und es folgte das Lächeln darauf, bei verschlossenem Mund und spöttisch zuckenden Nasenflügeln, — und das Sichabwenden. Er ging weg vom Tisch, nicht gegen Schildknapps Platz, sondern zur Fensternische, an deren getäfelter Wand er ein Heiligenbild geradehängte. Rüdiger sagte dies oder das: Bei meiner Gesinnung, sagte er, sei ich zu beglückwünschen, daß ich gleich ins Feld rücken könnte, und zwar zu Pferde. Man sollte, sagte er, ins Feld nur zu Pferde rücken oder sonst

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lieber gar nicht. Und er klopfte dem imaginären Gaul den Hals. Wir lachten, und unser Abschied, als ich zur Bahn mußte, war leicht und heiter. Gut, daß er nicht sentimental war; es hätte sich als wenig angebracht erwiesen. Adrians Blick aber nahm ich mit in den Krieg, — vielleicht war er es, und nur scheinbar der Läuse-Typhus, der mich so bald wieder nach Hause, an seine Seite brachte.


XXXI

»Ihr geht statt meiner«, hatte Adrian gesagt. Und wir kamen nicht hin! Soll ich gestehen, daß ich, ganz in der Stille und außerhalb des historischen Gesichtswinkels, eine tiefe, intimpersönliche Scham darüber empfand? Durch Wochen hatten wir kurz angebundene, das Triumphale in kalte Selbstverständlichkeit kleidende, affektiert lapidare Siegesnachrichten nach Hause gesandt. Lüttich war längst gefallen; wir hatten die Schlacht in Lothringen gewonnen, waren dem lang gehegten Meisterplan gemäß mit fünf Armeen über die Maas geschwenkt, hatten Brüssel, Namur genommen, die Siege von Charleroi und Longwy erfochten, eine zweite Schlachtenserie bei Sedan, Rethel, Saint-Quentin gewonnen und Reims besetzt. Der Vormarsch, der uns dahinriß, war beflügelt und, wie wir es uns erträumt hatten, von der Gunst des Kriegsgottes, dem Ja des Schicksals wie auf Fittichen getragen. Den Aspekt der Mordbrennerei mit Festigkeit zu ertragen, der von ihm unzertrennlich war, lag unserer Männlichkeit ob, es war die Hauptanforderung an unseren Heldenmut. Mit jbemerkenswerter Leichtigkeit und Deutlichkeit rufe ich mir noch heute das Bild eines hageren gallischen Weibes zurück, auf einer Anhöhe stehend, die unsere Batterie umfuhr, und an deren Fuß die Reste eines zerschossenen Dorfes qualmten. »Ich bin die Letzte!« rief sie mit tragischer Gebärde, wie sie einer deutschen Frau nicht gegeben gewesen wäre, uns zu. »Je suis la derniere!« Und mit erhobenen Fäusten den Fluch über unsere

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Köpfe hinausschleudernd, wiederholte sie dreimal: »Mechants! Mechants! Mechants!« .
Wir sahen woanders hin; wir mußten siegen, und dies war das harte Handwerk des Sieges. Daß ich mich elend fühlte auf meinem Braunen, von bösem Husten und Gliederreißen geplagt infolge nassen Nächtigens unter der Zeltbahn, gereichte mir zu einer gewissen Beruhigung.
Noch viele Dörfer zerschossen wir, getragen auf Fittichen. Dann kam das Unverständliche, scheinbar Unsinnige: der Rückzugsbefehl. Wie hätten wir ihn begreifen sollen? Wir gehörten zur Heeresgruppe Hausen, die südlich von Chälonssur-Marne in vollem Vordringen auf Paris begriffen war, so gut wie anderen Ortes die des von Kluck. Wir waren des ungewahr, daß irgendwo nach fünftägiger Schlacht der Franzose den rechten Flügel von Bülows eingedrückt hatte, — Grund genug für die ängstliche Gewissenhaftigkeit eines Oberbefehlshabers, der von Onkels wegen an seinen Platz erhoben worden war, das Ganze zurückzunehmen. Wir passierten dieselben Dörfer wieder, die wir qualmend im Rücken gelassen hatten, auch den Hügel, auf dem das tragische Weib gestanden. Sie war nicht mehr da.
Die Fittiche hatten getrogen. Es hatte nicht sein sollen. Der Krieg war nicht in raschem Ansturm zu gewinnen gewesen, — sowenig wie die zu Hause verstanden wir, was das bedeutete. Wir verstanden nicht den frenetischen Jubel der Welt über den Ausgang der Marneschlacht, und daß damit aus dem kurzen Krieg, an den unser Heil gebunden gewesen, ein langer geworden war, den wir nicht ertrugen. Unsere Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit und der Kosten für die anderen, — wir hätten können die Waffen niederlegen und unsere Führer zu sofortigem Frieden zwingen, wenn wir's begriffen hätten; aber auch von ihnen ließ wohl nur einer oder der andere sich's heimlich beikommen. Hatten sie doch kaum die Tatsache bei sich verwirklicht, daß die Zeit der lokalisierbaren Kriege vorüber war und daß jeder Feldmarsch, zu dem wir uns genötigt fanden, zum Weltbrand werden mußte. In einem

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solchen nun waren die Vorteile der inneren Linie, der Kampffrömmigkeit, der Hoch-Bereitschaft und eines fest gegründeten, autoritätsstarken Staates auf unserer Seite und machten die Chance blitzhaft raschen Obsiegens aus. War diese verfehlt — und es stand geschrieben, daß sie verfehlt werden mußte —, so war es, was wir in Jahren auch noch vollbringen mochten, im Prinzip und im voraus um unsere Sache geschehen, — diesmal, das nächste Mal, immer.
Wir wußten es nicht. Langsam wurde die Wahrheit in uns hineingequält, und der Krieg, ein verrottender, verfallender, verelendender, wenn auch immer von Zeit zu Zeit in trügerischen, die Hoffnung fristenden Halbsiegen aufleuchtender Krieg, — dieser Krieg, von dem auch ich gesagt hatte, daß er nur kurz sein dürfe, dauerte vier Jahre. Soll ich an das Versakken und Versagen, die Abnutzung unserer Kräfte und Sachgüter, das Schäbig- und Lückenhaftwerden des Lebens, die Verarmung der Nahrung, den Verfall der Moral durch Mangel, die Neigung zum Diebstahl, dabei die plumpe Prasserei reichgewordenen Pöbels, hier ausführlich erinnern? Man dürfte mich tadeln, weil ich damit auf unbeherrschte Weise über die Grenzen meiner Aufgabe, deren Bestimmung intim-biographisch ist, hinausschweifen würde. Ich erlebte das Angedeutete, von seinen Anfängen bis zum bitteren Ende, im Hinterlande, als ein Beurlaubter und endlich Ausgemusterter, der seinem Lehramt zu Freising zurückgegeben war. Denn vor Arras, während der zweiten Kampfperiode um den festen Platz, die von Anfang Mai bis tief in den Juli 1915 dauerte, war offenbar der Entlausungsdienst unzureichend gewesen: die Infektion brachte mich für Wochen in die Isolationsbaracke, dann für einen weiteren Monat in ein Erholungsheim für lädierte Krieger im Taunus, und endlich widersetzte ich mich nicht der Auffassung, daß ich meine vaterländische Pflicht erfüllt hätte und besser täte, an meinem alten Ort der Aufrechterhaltung des Bildungswesens zu dienen.
So tat ich und durfte Gatte und Vater auch wieder sein in dem mäßigen Heim, dessen Wände und übervertraute Gegenstände,

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möglicherweise der Vernichtung durch Bombenschlag anheimgegeben, auch heute noch den Rahmen meiner zurückgezogenen und entleerten Existenz bilden. Es sei noch einmal gesagt, gewiß nicht im Sinne der Ruhmredigkeit, sondern als einfache Feststellung, daß ich mein eigenes Leben, ohne es gerade zu vernachlässigen, immer nur nebenbei, mit halber Aufmerksamkeit, gleichsam mit der linken Hand führte, und daß meine eigentliche Angelegentlichkeit, Spannung, Sorge dem Dasein des Kindheitsfreundes gewidmet war, in dessen Nähe zurückgeführt zu sein mich so froh machte, — wenn dieses Wort >froh< am Platze ist bei dem leisen und kühlen Schauer von Beklemmung, schmerzlichem Unbeantwortetsein, der von seiner in wachsendem Maße schöpferischen Einsamkeit ausging. >Ein Auge auf ihn zu haben<, sein außerordentliches und rätselhaftes Leben zu bewachen, schien immer dem meinen zur eigentlichen und dringlichen Aufgabe gesetzt; es bildete seinen wahren Inhalt, und darum sprach ich von der Entleertheit meiner gegenwärtigen Tage.
Sein Zuhause — und es war ja in sonderbar wiederholendem, irgendwie nicht ganz zu billigendem Sinn ein >Zuhause< — hatte er verhältnismäßig glücklich gewählt, — gottlob! er war während der Jahre des Verfalls und der stetig schärfer nagenden Entbehrungen bei seinen Ackerbürgern, den Schweigestills, so leidlich wie nur wünschbar versorgt und, ohne es recht zu wissen und zu würdigen, fast unberührt von den auslaugenden Veränderungen, denen das blockierte und zernierte, wenn auch militärisch immer noch ausgreifende Land unterlag. Er nahm das mit Selbstverständlichkeit und ohne Erwähnung hin, wie etwas, das von ihm ausging und in seiner Natur lag, deren Beharrungskräfte und Bestimmung zum Semper idem sich gegen die äußeren Umstände individuell durchsetzten. Seine einfachen diätetischen Gewohnheiten konnte die Schweigestill'sche Wirtschaft allezeit befriedigen. Es kam aber hinzu, daß ich ihn schon gleich bei meiner Rückkehr aus dem Felde in der Betreuung zweier weiblicher Wesen fand, die sich ihm genähert und sich, ganz unabhängig voneinander, zu seinen

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fürsorgenden Freundinnen aufgeworfen hatten. Es waren dies die Damen Meta Nackedey und Kunigunde Rosenstiel, — Klavierlehrerin die eine, die andere tätige Mitinhaberin eines Darmgeschäftes, will sagen: eines Betriebes zur Herstellung von Wursthüllen. Es ist ja merkwürdig: Ein der breiten Masse gänzlich verborgener esoterischer Früh-Ruhm, wie er angefangen hatte, sich mit Leverkühns Namen zu verbinden, hat seinen Bewußtseinssitz in eingeweihter Sphäre, an kennerischen Spitzen, wofür etwa jene Pariser Einladung ein Merkmal gewesen war; aber gleichzeitig wohl auch hat er einen Widerschein in bescheiden-tieferen Gegenden, im bedürftigen Gemüt armer Seelen, die sich durch irgendeine als >höheres Streben< verkleidete Einsamkeits- und Leidenssensibilität von der Masse sondern und in einer Verehrung, welcher noch voller Raritätswert zukommt, ihr Glück finden. Daß es Frauen sind, und zwar jüngferliche Frauen, kann nicht wundernehmen; denn menschliche Entbehrung ist gewiß die Quelle einer prophetischen Intuition, die um solchen kümmerlichen Ursprungs willen keineswegs weniger schätzbar ist. Es war gar keine Frage, daß darin das unmittelbar Persönliche eine beträchtliche, ja das Geistige überwiegende Rolle spielte, welches ohnedies in beiden Fällen nur in vagen Umrissen, ganz gefühls- und ahnungsweise begriffen und gewertet werden konnte. Habe aber ich, der Mann, der wohl von einer gewissen, von früh an wirkenden Verfallenheit seines Kopfes und Herzens an Adrians kühle und rätselhaft in sich verschlossene Existenz reden kann, — habe ich das geringste Recht zum Spott über die Faszination, die von seiner Einsamkeit, der Nonkonformität seiner Lebensführung auf diese Frauenzimmer ausgegangen war?
Die Nackedey, ein verhuschtes, ewig errötendes, jeden Augenblick in Scham vergehendes Geschöpf von einigen dreißig Jahren, das beim Reden und auch beim Zuhören hinter dem Zwikker, den sie trug, krampfhaft-freundlich mit den Augen blinzelte und dazu kopfnickend die Nase kraus zog, — diese also hatte sich eines Tages, als Adrian in der Stadt war, auf der vorderen Plattform einer Trambahn an seiner Seite gefunden

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und war, als sie es entdeckt hatte, in kopfloser Flucht durch den vollen Wagen auf die rückwärtige geflattert, von wo sie aber nach einigen Augenblicken der Sammlung zurückgekehrt war, um ihn anzusprechen, ihn bei Namen zu nennen, ihm errötend und erblassend den ihren zu gestehen, von ihren Umständen etwas hinzuzufügen und ihm zu sagen, daß sie seine Musik heilighalte, was alles er dankend zur Kenntnis genommen hatte. Von da stammte diese Bekanntschaft, die Meta nicht eingeleitet hatte, um sie dann auf sich beruhen zu lassen: Durch einen Huldigungsbesuch mit Blumen in Pfeiffering hatte sie sie schon nach einigen Tagen wieder aufgenommen und pflegte sie dann immerfort, — in freiem, beiderseits von Eifersucht gesporntem Wettstreit mit der Rosenstiel, die es anders angefangen hatte.
Sie war eine knochige Jüdin vom ungefähren Alter der Nackedey, mit schwer zu bändigendem Wollhaar und Augen, in deren Bräune uralte Trauer geschrieben stand darob, daß die Tochter Zion geschleift und ihr Volk wie eine verlorene Herde war. Eine rüstige Geschäftsfrau auf derbem Gebiet (denn eine Wurstdarmfabrik hat entschieden etwas Derbes), hatte sie doch die elegische Gewohnheit, beim Sprechen all ihre Sätze mit »Ach!« anzufangen. »Ach, ja«, »Ach, nein«, »Ach, glauben Sie mir«, »Ach, wie denn wohl nicht«, »Ach, ich will morgen nach Nürnberg fahren«, sagte sie mit tiefer, wüstenrauher und klagender Stimme, und sogar, wenn man sie fragte: »Wie geht es Ihnen?«, so antwortete sie: »Ach, immer recht gut.« Ganz anders jedoch, wenn sie schrieb, — was sie außerordentlich gerne tat. Denn nicht nur war Kunigunde, wie fast alle Juden, sehr musikalisch, sondern sie unterhielt auch, sogar ohne weitreichende Lektüre, ein viel reineres und sorglicheres Verhältnis zur deutschen Sprache als der nationale Durchschnitt, ja selbst als die meisten Gelehrten, und hatte die Bekanntschaft mit Adrian, die sie auf eigene Hand stets >Freundschaft< nannte (war es denn übrigens nicht auf die Dauer wirklich dergleichen?), mit einem ausgezeichneten Briefe angebahnt, einem langen, wohlgesetzten, inhaltlich nicht eben erstaunlichen, aber

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stilistisch nach den besten Mustern eines älteren, humanistischen Deutschland geformten Ergebenheitsschreiben, das der Empfänger mit einer gewissen Überraschung gelesen, und das man seiner literarischen Würde wegen unmöglich mit Stillschweigen übergehen konnte. So aber auch in der Folge schrieb sie ihm, ganz unbeschadet ihrer zahlreichen persönlichen Besuche, öfters nach Pfeiffering: ausführlich, nicht sehr gegenständlich, der Sache nach nicht weiter aufregend, aber sprachlich gewissenhaft, sauber und lesbar, — übrigens nicht handschriftlich, sondern auf ihrer Geschäftsmaschine, mit kaufmännischen Und-Zeichen, — eine Verehrung bekundend, die näher zu definieren und zu begründen sie entweder zu bescheiden oder außerstande war, — es war eben Verehrung, eine instinktbestimmte, sich durch viele Jahre in Treuen bewährende Verehrung und Ergebenheit, um derentwillen man die vortreffliche Person, ganz abgesehen von sonstigen Tüchtigkeiten, ernstlich hochzuachten hatte. Ich wenigstens tat das und bemühte mich, dieselbe innere Anerkennung der verhuschten Nackedey zu zollen, mochte auch Adrian sich die Huldigungen und Darbringungen dieser Anhängerinnen mit der ganzen Unachtsamkeit seines Wesens immer nur eben gefallen lassen. Und war denn schließlich mein Los von dem ihren so sehr verschieden? Daß ich es mir angelegen sein ließ, ihnen wohlzuwollen (während sie primitiverweise einander nicht leiden konnten und, wenn sie zusammentrafen, einander gekniffenen Blickes maßen), darf ich mir zur Ehre rechnen; denn in gewissem Sinn war ich von ihrer Gilde und hätte Grund gehabt, durch die herabgesetzte und verjungferte Wiederholung meines eigenen Verhältnisses zu Adrian irritiert zu sein.
Diese also, immer mit vollen Händen kommend, trugen während der Hunger jähre dem ohnedies, was die Fundamente der Ernährung betraf, wohl Aufgehobenen das Erdenkliche, auf Schleichwegen Erreichbare zu: Zucker, Tee, Kaffee, Schokolade, Backwerk, Eingemachtes und geschnittenen Tabak zum Zigarettendrehen, so daß er noch mir, Schildknapp und auch Rudi Schwerdtfeger, dessen Zutraulichkeit nie von ihm ließ,

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davon mitteilen konnte und die Namen der dienenden Frauen oft unter uns gesegnet waren. Den Tabak, die Zigarette angehend, so verzichtete Adrian nur gezwungen darauf, das heißt an Tagen, wo die Migräne, wie schwere Seekrankheit auftretend, ihn anfiel und er in verdunkeltem Zimmer das Bett hütete, was zwei- bis dreimal im Monat geschah, mochte aber sonst das unterhaltende Stimulans, das ihm erst ziemlich spät, erst in Leipzig, zur Gewohnheit geworden war, nicht entbehren, am wenigsten während der Arbeit, bei der er nach seiner Versicherung ohne das Zwischenein von Wickeln und Inhalieren weniger lange ausgehalten hätte. Der Arbeit aber war er um die Zeit, als ich ins Zivilleben zurückkehrte, sehr dringlich ergeben, — nach meinem Eindruck nicht so sehr um ihres aktuellen Gegenstandes willen, nämlich der >Gesta<-Spiele, oder nicht allein um seinetwillen, sondern weil er trachtete, ihn hinter sich zu bringen und für neu sich ankündigende Forderungen seines Genius bereit zu sein. Am Horizont, ich bin dessen sicher, stand schon damals, wahrscheinlich schon seit Ausbruch des Krieges, der ja für eine Divination wie die seine einen tiefen Ab- und Einschnitt, die Eröffnung einer neuen, tumultuösen und grundstürzenden, mit wilden Abenteuern und Leiden überfüllten Geschichtsperiode bedeutete, — am Horizont seines schöpferischen Lebens stand bereits die >Apocalipsis cum figuris<, das Werk, das diesem Leben einen schwindelnden Auftrieb geben sollte, und bis zu welchem — so sehe wenigstens ich den Prozeß — er sich mit den genialischen Puppen-Grotesken die Wartezeit vertrieb.
Adrian hatte das alte Buch, das als Quelle der meisten romantischen Mythen des Mittelalters zu gelten hat, diese Übersetzung der ältesten christlichen Märchen- und Legendensammlung aus dem Lateinischen, durch Schildknapp kennengelernt, — ich bescheinige dem Günstling mit den gleichen Augen gern das Verdienst. Sie hatten manchen Abend zusammen darin gelesen, und was dabei vor allem auf seine Kosten gekommen, war Adrians Sinn für Komik gewesen, diese Begierde nach dem Lachen, — ja Tränen-lachen-Können, der meine etwas trockene

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Natur nie recht Nahrung zu geben wußte und daran auch gehindert war durch eine gewisse Ungehörigkeit, die für mein ängstliches Gemüt in dieser Heiterkeitsauflösung seines in Spannung und Bangigkeit geliebten Wesens lag. Rüdiger, der Gleichäugige, teilte mitnichten diese meine Apprehension, die ich übrigens tief für mich behielt, und die mich nicht hindern durfte, an solchen Stimmungen der Ausgelassenheit, wenn es sich eben so machte, redlich teilzunehmen. Dem Schlesier vielmehr war entschiedene Genugtuung, so, als hätte er eine Sendung, einen Auftrag erfüllt, deutlich anzumerken, wenn es ihm gelungen war, Adrian in den Zustand des Tränenlachens zu versetzen, und mit dem Schnurren- und Fabelbuch war ihm das unstreitig auf eine höchst dankenswerte, produktiv folgenreiche Weise geglückt.
Ich will es wohl meinen, daß die >Gesta< in ihrer historischen Unbelehrtheit, christfrommen Didaktik und moralischen Naivität, mit ihrer ausgefallenen Kasuistik von Elternmord, Ehebruch und kompliziertem Inzest, ihren unnachweisbaren römischen Kaisern und deren ungeheuer bewachten, zu erklügelten Bedingungen ausgebotenen Töchtern, — es ist nicht zu leugnen, sage ich, daß all diese in einem gravitätisch latinisierenden und unbeschreiblich einfältigen Übersetzungsstil vorgetragenen Fabeln von ins Gelobte Land wallenden Rittern, buhlerischen Eheweibern, verschmitzten Kupplerinnen und der schwarzen Magie ergebenen Klerikern außerordentlich erheiternd wirken können. Im höchsten Grade waren sie danach angetan, Adrians parodistischen Sinn aufzuregen, und der Gedanke, mehrere dieser Geschichten in gedrängter Form für das Puppentheater musikalisch zu dramatisieren, beschäftigte ihn von dem Tage an, wo er ihre Bekanntschaft gemacht. Da ist etwa die gründlich unmoralische, dem Dekameron vorspielende Fabel >Von der gottlosen List der alten Weiber<, worin eine in Heiligkeit vermummte Helfershelferin verbotener Leidenschaft es zuwege bringt, eine edle und sogar ausnehmend ehrbare Ehefrau, deren vertrauensvoller Gatte sich auf Reisen befindet, zu bestimmen, daß sie einem Jüngling, der sich in

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Begierde nach ihr verzehrt, sündlich zu Willen ist. Denn die Hexe gibt ihrer kleinen Hündin, nachdem sie sie zwei Tage lang zum Hungern genötigt, Senfbrot zu fressen, wovon dem Tiere heftig die Augen tränen. So nimmt jene die Hündin mit sich zu der Sittenstrengen und wird, da sie bei allen, so auch bei dieser, für eine Heilige angesehen ist, ehrerbietig empfangen. Als aber die Dame das weinende Hündchen erblickt und verwundert nach der Ursache dieser Erscheinung fragt, gibt sich die Alte den Anschein, als wiche sie lieber der Frage aus, um dann, zum Reden gedrängt, das Geständnis abzugeben, diese kleine Hündin sei sonst ihre allzu züchtige Tochter gewesen, welche durch die starre Verweigerung ihres Entgegenkommens einen in Sehnsucht nach ihr entbrannten jungen Mann in den Tod getrieben habe, wofür zur Strafe sie in diese Gestalt verwandelt worden sei und nun natürlich immerfort Tränen der Reue über ihr Hundedasein vergieße. Bei diesen absichtsvollen Lügen weint die Kupplerin ebenfalls; die Dame aber erschrickt bei dem Gedanken an die Verwandtschaft ihres eigenen Falles mit dem der Bestraften und erzählt der Alten von dem Jüngling, der um sie leide, worauf diese ihr ernstlich vor Augen stellt, was für ein unersetzlicher Schaden es wäre, wenn auch sie in eine Hündin verwandelt würde, und wirklich den Auftrag erhält, den Schmachtenden herbeizuholen, damit er in Gottes Namen denn seine Lust kühle, so daß also die beiden auf Veranstaltung gottlosen Witzes den süßesten Ehebruch feiern.
Immer noch beneide ich Rüdiger darum, daß er diese Geschichte unserem Freunde zuerst in der Abtsstube vorlesen durfte, obgleich ich mir sagen muß, daß es, wenn ich es getan hätte, wohl nicht dasselbe gewesen wäre. Übrigens beschränkte sich sein Zutun zu dem künftigen Werk auf diese erste Anregung. Als es die Bearbeitung der Fabeln für die Puppenbühne, ihre Umformung ins Dialogische galt, versagte er sich der Zumutung aus Zeitmangel oder aus dem bekannten widerspenstigen Freiheitssinn, und Adrian, der's ihm nicht übelnahm, behalf sich, solange ich fort war, indem er sich selbst

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lockere Szenarien und ungefähre Wechselreden entwarf, worauf dann ich es war, der sie in Mußestunden rasch in ihre endgültige, aus Prosa und Reimverschen gemischte Form brachte. Dabei war nach Adrians Willen den Sängern, welche den agierenden Puppen ihre Stimmen leihen, ihr Platz unter den Instrumenten, im Orchester, einem sehr sparsam besetzten, aus Violine und Kontrabaß, Klarinette, Fagott, Trompete und Posaune nebst Schlagzeug für einen Mann und dazu einem Glokkenapparat bestehenden Orchester, angewiesen, und mit ihnen ist ein Sprecher, der, gleich dem testis des Oratoriums, die Handlung in Rezitativ und Erzählung zusammendrängt.
Am glücklichsten bewährt diese durchbrochene Form sich bei dem fünften, dem eigentlichen Kernstück der Suite, der Geschichte >Von der Geburt des seligen Papstes Gregory einer Geburt, bei deren sündiger Ausgefallenheit es keineswegs sein Bewenden hat, während doch all die entsetzlichen Bewandtnisse des Helden nicht nur kein Hindernis sind für seine schließliche Erhebung zum Statthalter Christi, sondern ihn nach Gottes wundersamer Gnade geradezu besonders berufen und vorbestimmt dafür erscheinen lassen. Die Kette der Verwicklungen ist lang, und es erübrigt sich wohl für mich, die Geschichte des verwaisten königlichen Geschwisterpaars, von dem der Bruder die Schwester über Gebühr liebt, so daß er sie unbeherrschterweise in mehr als interessante Umstände versetzt und sie zur Mutter eines Knaben von ausnehmender Schönheit macht, hier zu reiterieren. Es ist dieser Knabe, ein Geschwisterkind in des Wortes arger Bedeutung, um den alles sich dreht. Während sein Vater durch einen Zug ins Gelobte Land zu büßen sucht und dort seinen Tod findet, treibt das Kind Ungewissen Schicksalen entgegen. Denn die Königin, entschlossen, einen so ungeheuerlich Erzeugten auf eigene Hand nicht taufen zu lassen, vermacht ihn samt seiner fürstlichen Wiege in einem hohlen Faß und übergibt ihn, nicht ohne ein unterrichtendes Schrifttäfelchen sowie Gold und Silber für seine Auferziehung hinzuzufügen, den Meereswogen, die ihn »am sechsten Feiertage« in die Nähe eines von einem frommen Abte geleiteten Klosters

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tragen. Dieser findet ihn, tauft ihn auf seinen eigenen Namen Gregor und läßt ihm eine Ausbildung zuteil werden, die bei dem leiblich und verstandesmäßig ausnehmend Begabten aufs glücklichste anschlägt. Wie nun unterdessen die sündige Mutter, zum Bedauern des Landes, es abschwört, sich je zu vermählen — und zwar ganz offensichtlich nicht nur, weil sie sich als eine Entweihte, der christlichen Ehe Unwürdige betrachtet, sondern auch, weil sie dem verschollenen Bruder eine bedenkliche Treue wahrt; wie ein starker Herzog des Auslandes um ihre Hand wirbt, die sie ihm verweigert, worüber er so heftig ergrimmt, daß er ihr Reich mit Krieg überzieht und es erobert bis auf eine einzige feste Stadt, in welche sie sich zurückzieht; wie dann der Jüngling Gregor, da er seiner Entstehungsart innegeworden, zum Heiligen Grabe zu pilgern gedenkt und statt dessen in die Stadt seiner Mutter verschlagen wird, wo er von dem Unglück der Reichsverwalterin erfährt, sich zu ihr führen läßt und ihr, die ihn, wie es heißt, »genau betrachtet«, aber nicht erkennt, seine Dienste anbietet; wie er den grimmen Herzog erschlägt, das Land befreit und der erlösten Fürstin von ihrer Umgebung zum Gatten vorgeschlagen wird; wie sie sich zwar etwas ziert und sich einen Tag — nur einen — Bedenkzeit ausbedingt, dann aber, entgegen ihrem Schwüre, einwilligt, so daß denn, unter großem Beifall und Jubel des ganzen Landes, die Vermählung vollzogen und ahnungslos Fürchterliches auf Fürchterliches gehäuft wird, indem der Sündensohn mit der Mutter das Ehebett besteigt, — ich will das alles nicht ausführen. Nur die affektbeladenen Höhepunkte der Handlung möchte ich erinnern, die in der Puppenoper auf so wunderlich-wunderbare Weise zu ihrem Rechte kommen: So, wenn gleich anfangs der Bruder die Schwester fragt, warum sie so bleich sieht und »ihre Augen ihre Schwärze verloren haben«, und sie ihm antwortet: »Das ist kein Wunder, denn ich bin schwanger und folglich zerknirscht.« Oder wenn sie bei der Nachricht vom Tode des verbrecherisch Erkannten in die merkwürdige Klage ausbricht: »Dahin ist meine Hoffnung, dahin ist meine Kraft, mein einziger Bruder, mein zweites Ich!«

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und danach den Leichnam von der Sohle seiner Füße bis zu dem Scheitel mit Küssen bedeckt, so daß ihre Ritter, unangenehm berührt von so übertriebenem Kummer, sich veranlaßt sehen, die Gebieterin von dem Toten hinwegzureißen. Oder wenn sie, da sie gewahr wird, mit wem sie in zärtlichster Ehe lebt, zu ihm spricht: »O mein süßer Sohn, du bist mein einziges Kind, du bist mein Mann und mein Herr, du bist mein und meines Bruders Sohn, o mein süßes Kind, und du mein Gott, warum hast du mich lassen geboren werden!« Denn so ist es ja, durch das selbst einst geschriebene Brief täfeichen, das sie in einem Geheimgemach ihres Gatten findet, erfährt sie, mit wem sie, gottlob ohne ihm auch noch einen Bruder und Enkel ihres Bruders geboren zu haben, das Lager teilt; und nun ist es abermals an diesem, auf Bußfahrt zu sinnen, die er denn auch sogleich auf bloßen Füßen antritt. Er kommt zu einem Fischer, der »an der Feinheit seiner Gliedmaßen« erkennt, daß er es mit keinem gemeinen Reisenden zu tun hat und sich mit ihm dahin verständigt, daß äußerste Einsamkeit das allein Zukömmliche für ihn ist. Er fährt ihn sechzehn Meilen weit in die See hinaus zu einem flutumbrandeten Felsen, und dort, nachdem er sich Fesseln hat an die Füße legen lassen und den Schlüssel zu diesen Fesseln ins Meer geschleudert hat, verbringt Gregor siebzehn Jahre der Buße, an deren Ende eine überwältigende, ihn selbst aber, wie es scheint, kaum überraschende Gnadenerhebung steht. Denn zu Rom stirbt der Papst, und kaum ist er gestorben, so geschieht eine Stimme vom Himmel herab: »Suchet den Mann Gottes Gregorius und setzt ihn zu meinem Stellvertreter ein!« Da eilen Boten in alle Winde und kehren auch bei jenem Fischer ein, der sich erinnert. Da fängt er einen Fisch, in dessen Bauch sich der einst ins Meer versenkte Schlüssel findet. Da fährt er die Sendboten zum Büßerstein, und sie rufen hinauf: »O Gregorius, du Mann Gottes, steige zu uns herab vom Stein, denn es ist Gottes Wille, daß du zu seinem Stellvertreter auf Erden gesetzt werdest!« Und was antwortet er ihnen?« »Wenn das Gott gefällt«, spricht er gelassen, »so geschehe sein Wille.« Wie sie aber nach Rom kommen, und

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die Glocken sollen geläutet werden, warten die darauf nicht, sondern läuten von selber, — alle Glocken läuten aus freien Stücken, zur Ankündigung, daß es einen so frommen und lehrreichen Papst noch nicht gegeben haben werde. Auch zu seiner Mutter dringt der Ruhm des seligen Mannes, und da sie zu Recht mit sich übereinkommt, daß keinem besser ihr Leben anzuvertrauen ist als diesem Erkorenen, macht sie sich auf nach Rom zur Beichte beim Heiligen Vater, der, als er ihre Beichte vernommen, sie wohl erkennt und zu ihr spricht: »O meine süße Mutter, Schwester und Frau. O meine Freundin. Der Teufel dachte uns zur Hölle zu führen, doch Gottes Übermacht hat es verhindert.« Und baut ihr ein Kloster, darin sie als Äbtissin waltet, aber nur kurze Zeit. Denn beiden wird bald gestattet, ihre Seelen an Gott zurückzugeben.
Auf diese überschwenglich sündhafte, einfältige und gnadenvolle Geschichte also hatte Adrian allen Witz und Schrecken, alle kindliche Eindringlichkeit, Phantastik und Feierlichkeit der musikalischen Ausmalung versammelt, und wohl läßt sich auf dieses Stück, oder namentlich auf dieses, das wunderliche Epitheton des alten Lübecker Professors, das Worf>gottgeistig< anwenden. Die Erinnerung legt sich mir darum nahe, weil die >Gesta< tatsächlich etwas wie eine Regression auf den musikalischen Stil von >Love's Labour's Lost< darstellen, da doch die Tonsprache der >Wunder des Alls< schon mehr auf die der >Apokalypse<, selbst schon auf diejenige des >Faustus< hinweist. Solche Vorwegnahmen und Überlagerungen kommen im creativen Leben ja häufig vor; den künstlerischen Anreiz aber, der von diesen Stoffen auf meinen Freund ausgegangen, kann ich mir wohl erklären: Es war ein geistiger Reiz, nicht ohne einen Einschlag von Bosheit und auflösender Travestie, da er dem kritischen Rückschlage entsprang auf die geschwollene Pathetik einer zu Ende gehenden Kunstepoche. Das musikalische Drama hatte seine Stoffe der romantischen Sage, der Mythenwelt des Mittelalters entnommen und dabei zu verstehen gegeben, daß nur dergleichen Gegenstände der Musik würdig, ihrem Wesen angemessen seien. Dem schien hier Folge

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geleistet: auf eine recht destruktive Weise jedoch, indem das Skurrile, besonders auch im Erotischen Possenhafte, an die Stelle moralischer Priesterlichkeit trat, aller inflationärer Pomp der Mittel abgeworfen und die Aktion der an sich schon burlesken Gliederpuppen-Bühne übertragen wurde. Deren spezifische Möglichkeiten zu studieren, war Leverkühnen während der Beschäftigung mit den >Gesta<-Stücken sehr angelegen, und die katholisch-barocke Theaterlust des Volkes, unter dem er einsiedlerisch lebte, bot ihm auch manche Gelegenheit dazu. In Waldshut nahebei war ein Drogist, der Marionetten schnitzte und ankleidete, und Adrian besuchte den Mann wiederholt. Auch fuhr er nach Mittenwald, dem Geigendorf im oberen Isartal, wo der Apotheker derselben Liebhaberei oblag und mit Hilfe seiner Frau und seiner geschickten Söhne Puppenspiele nach Pocci und Christian Winter im Ort veranstaltete, die ein großes Publikum von Volk und Fremden an sich zogen. Diese sah Leverkühn und studierte auch, wie ich bemerkte, literarisch die sehr kunstreichen Handpuppen- und Schattenfiguren-Spiele der Javaner.
Es waren heiter erregte Abende, wenn er uns, das heißt mir, Schildknapp, auch wohl Rudi Schwerdtfeger, der es sich nicht nehmen ließ, ein und das andere Mal dabei zu sein, im tieffenstrigen Nike-Saal auf dem alten Tafelklavier neu Geschriebenes aus seinen wunderlichen Partituren vorspielte, in denen das harmonisch Herrischste, rhythmisch Labyrinthischste auf das Einfältigste — und eine Art von musikalischem Kindertrompetenstil wiederum auf das stofflich Ausgefallenste angewandt war. Das Wiedersehen der Königin mit dem nun heiligen Mann, den sie ihrem Bruder geboren und den sie als Gattin umfangen, entlockte uns Tränen, wie sie nie unsre Augen genetzt hatten, aus Gelächter und phantastischer Ergriffenheit ganz einmalig gemischt; und Schwerdtfeger, in entfesselter Zutraulichkeit, nahm die Lizenz des Augenblicks wahr, indem er mit einem »Das hast du großartig gemacht!« Adrian umarmte und dessen Kopf an den seinen drückte. Ich sah Rüdigers ohnedies schon bitterlichen Mund sich mißbilligend

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verziehen und konnte selbst nicht umhin, ein »Genug!« zu murmeln und die Hand auszustrecken, wie um den Hemmungslosen, Distanzvergessenen zurückzuholen.
Der mochte dann einige Mühe haben, der Unterhaltung zu folgen, die sich in der Abtsstube an die vertrauliche Vorführung schloß. Wir sprachen von der Vereinigung des Avancierten mit dem Volkstümlichen, von der Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Zugänglichkeit, Hoch und Niedrig, wie sie einmal von der Romantik, literarisch und musikalisch, in gewissem Sinne geleistet worden, — worauf dann wieder eine tiefere Trennung und Entfremdung denn je zwischen dem Guten und dem Leichten, dem Würdigen und dem Unterhaltenden, dem Fortschrittlichen und dem allgemein Genießbaren das Schicksal der Kunst geworden sei. War es Sentimentalität, daß es die Musik — und sie stand für alles — mit wachsender Bewußtheit verlangte, aus ihrer Respektsvereinsamung zu treten, Gemeinschaft zu finden, ohne gemein zu werden, und eine Sprache zu reden, die auch der musikalisch Unbelehrte verstand, wie er Wolfsschlucht, Jungfernkranz, Wagner verstanden hatte? Auf jeden Fall war nicht Sentimentalität das Mittel zu diesem Ziel, sondern weit eher die Ironie, der Spott, der, die Luft reinigend, sich gegen das Romantische, gegen Pathos und Prophetie, Klangrausch und Literatur zu einer Fronde verband mit dem Objektiven und Elementaren, will sagen: mit der Wiederentdeckung der Musik selbst als Organisation der Zeit. Ein heikelstes Beginnen! Denn wie nahe lag nicht falsche Primitivität, also Romantisches wiederum. Auf der Höhe des Geistes zu bleiben; die gesiebtesten Ergebnisse europäischer Musikentwicklung ins Selbstverständliche aufzulösen, daß jeder das Neue fasse; sich zu ihrem Herrn zu machen, indem man sie unbefangen als freies Baumaterial verwendete und Tradition spüren ließ, umgeprägt ins Gegenteil des Epigonalen; das Handwerk, hochgetrieben wie es war, durchaus unauffällig zu machen und alle Künste des Kontrapunktes und der Instrumentation verschwinden und verschmelzen zu lassen zu einer Einfachheitswirkung, sehr fern von Einfalt, einer intellektuell federnden Schlichtheit, — das schien die Aufgabe, das Begehren der Kunst.

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Es war ganz vorwiegend Adrian, der sprach, von uns anderen nur leicht sekundiert. Von der vorangegangenen Vorführung erregt, sprach er mit geröteten Wangen und erhitzten Augen, leicht fieberhaft, übrigens nicht in strömendem Fluß, sondern die Worte mehr hinwerfend, aber doch mit so viel Bewegung, daß mir war, als hätte ich ihn nie, weder gegen mich noch in Rüdigers Gegenwart, so eloquent aus sich herausgetrieben gesehen. Schildknapp hatte seinem Unglauben Ausdruck gegeben an die Entromantisierung der Musik. Diese sei mit dem Romantischen doch wohl zu tief und wesentlich verbunden, als daß sie es ohne schwere natürliche Einbuße je würde verleugnen können. Hierauf Adrian:
»Ich will Ihnen gern recht geben, wenn Sie mit dem Romantischen eine Gefühlswärme meinen, die die Musik im Dienst technischer Geistigkeit heute verleugnet. Es ist wohl Selbstverleugnung. Aber was wir die Läuterung des Komplizierten zum Einfachen nannten, ist im Grunde dasselbe wie die Wiedergewinnung des Vitalen und der Gefühlskraft. Wenn es möglich wäre, — wem der — wie würdest du sagen?« wandte er sich an mich und antwortete sich selbst: »der Durchbruch würdest du sagen. Wem also der Durchbruch gelänge aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl den Erlöser der Kunst nennen. Erlösung«, fuhr er mit einem nervösen Achselzucken fort, »ein romantisches Wort; und ein Harmoniker-Wort, das Handlungswort für die Kadenz-Seligkeit der harmonischen Musik. Ist es nicht komisch, daß die Musik sich eine Zeitlang als ein Erlösungsmittel empfand, während sie doch selbst, wie alle Kunst, der Erlösung bedarf, nämlich aus einer feierlichen Isolierung, die die Frucht der KulturEmanzipation, der Erhebung der Kultur zum Religionsersatz war, — aus dem Alleinsein mit einer Bildungselite, >Publikum< genannt, die es bald nicht mehr geben wird, die es schon nicht mehr gibt, so daß also die Kunst bald völlig allein, zum Absterben allein sein wird, es sei denn, sie fände den Weg zum >Volk<, das heißt, um es unromantisch zu sagen: zu den Menschen?«

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Er hatte das in einem Zuge gesagt und gefragt, mit halber Stimme und konversationeil, aber mit einem verborgenen Beben im Ton, das man erst recht verstand, als er vollendete:
»Die ganze Lebensstimmung der Kunst, glauben Sie mir, wird sich ändern, und zwar ins Heiter-Bescheidenere, — es ist unvermeidlich, und es ist ein Glück. Viel melancholische Ambition wird von ihr abfallen und eine neue Unschuld, ja Harmlosigkeit ihr Teil sein. Die Zukunft wird in ihr, sie selbst wird wieder in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als >Bildung< umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber eine sein wird. Wir stellen es uns nur mit Mühe vor, und doch wird es das geben und wird das Natürliche sein: eine Kunst ohne Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der Menschheit auf du und du . ..«
Er brach ab, und wir alle drei schwiegen erschüttert. Es ist schmerzlich und herzerhebend zugleich, die Einsamkeit von der Gemeinschaft, die Unnahbarkeit vom Zutrauen reden zu hören. Bei aller Rührung war ich in tiefster Seele unzufrieden mit seiner Äußerung, geradezu unzufrieden mit ihm. Was er gesagt hatte, paßte nicht zu ihm, zu seinem Stolz, seinem Hochmut, wenn man will, den ich liebte, und auf den die Kunst ein Anrecht hat. Kunst ist Geist, und der Geist braucht sich ganz und gar nicht auf die Gesellschaft, die Gemeinschaft verpflichtet zu fühlen, — er darf es nicht, meiner Meinung nach, um seiner Freiheit, seines Adels willen. Eine Kunst, die >ins Volk geht<, die Bedürfnisse der Menge, des kleinen Mannes, des Banausentums zu den ihren macht, gerät ins Elend, und es ihr zur Pflicht zu machen, etwa von Staates wegen; nur eine Kunst zuzulassen, die der kleine Mann versteht, ist schlimmstes Banausentum und der Mord des Geistes. Dieser, das ist meine Überzeugung, kann bei seinen gewagtesten, ungebundensten, der Menge ungemäßesten Vorstößen, Forschungen, Versuchen gewiß sein, auf irgendeine hoch-mittelbare Weise dem Menschen - auf die Dauer sogar den Menschen zu dienen.

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Unzweifelhaft war das auch die natürliche Gesinnung Adrians. Aber es beliebte ihm, sie zu verleugnen, und ich irrte mich wohl sehr, wenn ich das als eine Verleugnung seines Hochmuts empfand. Vermutlich war es mehr ein Versuch in der Leutseligkeit — von äußersten Hochmuts wegen. Wenn nur nicht das Beben in seiner Stimme gewesen wäre, als er von der Erlösungsbedürftigkeit der Kunst, dem Du mit der Menschheit sprach, — diese Bewegtheit, die mich trotz allem in Versuchung brachte, ihm verstohlen die Hand zu drücken. Ich unterließ es aber und hatte vielmehr ein besorgtes Auge auf Rudi Schwerdtfeger, ob der ihn am Ende nicht wieder umarmen wollte.
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